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Strategien zur Europawahl Die Rückeroberung von Tiktok hat begonnen

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Die AfD bespielt die Kurzvideo-App Tiktok schon seit Jahren. Mit populistischen Inhalten erreicht der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl dort Zehntausende. Auch Grüne, Linke und Liberale werben mittlerweile auf Tiktok um die Stimmen der jüngeren Wähler. Nur die EVP-Spitzenkandidatin bleibt der Plattform fern.

Der US-Politiker Bernie Sanders hat einen, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auch. Seit April 2024 ist Bundeskanzler Olaf Scholz ebenfalls mit einem Account auf Tiktok vertreten. 2016 als Plattform zum Teilen von Kurzvideos gegründet, ist die Social-Media-App Tiktok längst zum Spielfeld für den Wahlkampf geworden. Durch die große Nutzerschaft und die breite mediale Berichterstattung beeinflusst die Plattform mittlerweile sogar öffentliche Debatten, das Diskussionsklima und die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland.

2023 rufen laut Tiktok 20,9 Millionen Menschen in Deutschland die Plattform jeden Monat auf. Das entspricht knapp einem Viertel der Einwohner Deutschlands. Dem "Digital 23"-Bericht zufolge verbringen deutsche Nutzer durchschnittlich 23,4 Stunden pro Monat auf der Kurzvideo-Plattform, also fast einen ganzen Tag. Damit hat Tiktok hierzulande die längste Verweildauer aller sozialen Netzwerke.

Das ist gewollt, aber nicht primäres Ziel. Auf X, Instagram und Facebook zählt vor allem die Reichweite, also wie viele Follower ein Account hat und wie viele Menschen die geposteten Inhalte erreichen. Das Interesse der Tiktok-Entwickler des chinesischen Unternehmens ByteDance sei, die Nutzer in der App zu halten, um möglichst viel Werbung ausspielen zu können, sagt Raoul Kübler, Associate Professor of Marketing an der renommierten Pariser ESSEC Business School.

Kübler erforscht, wie Menschen von Social-Media-Inhalten im Wahlkampf beeinflusst werden können. 2016 prognostizierten seine Forschungsergebnisse, dass Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden würde. Derzeit kennzeichnet Tiktok einige Videos als Inhalte zur Europawahl und leitet Nutzer auf eine Informationsseite weiter. Datenschützer in Europa und den USA kritisieren die Plattform.

Die Magie des Tiktok-Algorithmus

Wenn ein Account ein Kurzvideo veröffentlicht, experimentiert der Tiktok-Algorithmus zunächst, um zu erfahren, wie die Nutzer darauf reagieren. Der Algorithmus zielt also darauf ab, dass das Video den Nutzer einfängt und er hängen bleibt.

Wenn ein Nutzer ein Video teilt, liked oder sogar kommentiert, zeigt der Algorithmus es weiteren Nutzern auf deren "Für Dich"-Seite, wie der persönliche Feed bei Tiktok heißt. "Tiktok funktioniert wie eine Engagement-Maschine: Zeigen Nutzer kurz nach dem Upload eines Videos Interesse in Form von längerer Beobachtungszeit, Kommentaren oder Shares, wird das Video öfter und breiter ausgespielt werden", sagt Kübler. Erzeuge ein Video schon zu Beginn wenig Engagement, werde es sehr schnell nicht mehr ausgespielt. "Es gibt so eine magische Zahl, irgendwo um die 2000 Views. Dann ist Schluss."

Erfolgreich auf Tiktok: Hunderttausend Klicks für die AfD

Der Marketing-Experte hat beobachtet, dass die meisten Videos der deutschen Spitzenkandidaten für die Europawahl genau diese Grenze nicht überschreiten. Mit einer Ausnahme. "Die AfD hat den digitalen Raum Tiktok früh besetzt, um hier mit hochemotionalen Inhalten Wähler mit Gefühlen wie Angst und Wut zu triggern", sagt der Politikberater Martin Fuchs ntv.de. Dies ziele darauf, den Unmut auf demokratische Institutionen und Politiker zu steigern und die Unsicherheit in der Gesellschaft weiter zu erhöhen. Für diese Strategie sei der Account von Maximilian Krah ein Paradebeispiel.

Seit gut zwei Jahren ist der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl auf Tiktok aktiv. In dieser Zeit konnte sich Krah eine verhältnismäßig große Reichweite aufbauen: Im Mai 2024 hat sein Profil rund 45.000 Follower und mehr als 500.000 Likes. Seine Videos werden oftmals hunderttausendmal geklickt. Damit dürfte er auch außerhalb der engeren AfD-Blase wahrgenommen werden.

Krah inszeniert sich als "Influencer", da sind sich Politikberater Fuchs und Marketing-Experte Kübler einig. Über die direkte Ansprache der Nutzer baut Krah eine persönliche Beziehung zu seinen Zuschauern auf. Diese unmittelbare Art der Anrede lässt ihn für die Nutzer nahbar und authentisch wirken. Sie ist das Fundament für den Erfolg der AfD auf Tiktok.

Allerdings berichtete der "Spiegel" Mitte März, dass Tiktok Krahs Reichweite deutlich eingeschränkt habe. Die Beiträge des AfD-Politikers würden für einen Zeitraum von 90 Tagen nicht mehr auf den "Für Dich"-Seiten ausgespielt. Krah habe "wiederholte Verstöße gegen unsere Community-Richtlinien" begangen, erklärte das Unternehmen als Grund für die Drosslung. "Es wird spannend sein, wie der Account nach der Aufdeckung des Spionage-Skandals und den Enthüllungen zu möglichen russischen Zahlungen an AfD-Spitzenpolitiker agieren wird", sagt Fuchs.

"Trial-and-Error": Barley, Reintke, Rackete

In den letzten Wochen haben viele Politiker aus dem demokratischen Spektrum auf den Tiktok-Erfolg der AfD reagiert. Nicht nur Scholz, einige deutsche Politiker und Parteien eröffneten Accounts auf der Plattform. Die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, ist schon seit mehr als zwei Jahren auf Tiktok. Trotzdem hat sie nur knapp 6000 Follower und rund 80.000 Likes. Die wenigstens ihrer Videos überschreiten die Grenze von mehr als 2000 Views.

Marketing-Experte Kübler sagt dazu: "Viele Spitzenkandidaten nutzen Tiktok ähnlich wie die klassischen Massenmedien." Ihr Content bestehe vor allem aus Rede-Schnipseln oder Promotionsvideos. Das sei wenig originär und komme bei den Nutzern nicht unbedingt an. "Nur weil jemand präsent ist, heißt das nicht, dass er auch die Nutzer abholt", sagt Kübler. "Leider fehlt es hier oft an einer klaren Strategie und guten Konzepten, vieles ist noch Trial-and-Error", sagt auch Fuchs.

Tatsächlich werden die Tiktok-Profile vieler Spitzenkandidaten der Europawahlen von der Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke bis zu den Linken-Spitzenkandidaten Carola Rackete und Martin Schirdewan mit dieser Strategie betrieben. Die meisten Politiker der demokratischen Parteien haben Kübler zufolge das Spiel im Wahlkampf auf Tiktok nicht verstanden. Eine jedoch sticht in der Gruppe der Spitzenkandidaten für die Europawahl hervor.

Die Herausforderin: Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Mitte März veröffentlichte FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ihr erstes Tiktok-Video. Darin erklärt die 66-Jährige, sie wolle die Follower in den nächsten Monaten mit in ihre Kampagne nehmen. In ihrem Profil beschreibt sich Strack-Zimmermann nicht nur als "Eurofighterin", "Demokratin" und "Europäerin", sondern auch als "Bikerin". Nach gut zwei Monaten auf Tiktok versammelt sie auf ihrem Account mehr als 40 Videos, fast 20.000 Follower und rund 220.000 Likes.

Strack-Zimmermanns meistgesehenes Video hat wenig mit politischen Inhalten zu tun. Über 950.000 Views zählt ein Ranking von Kartoffelgerichten: Für sie stehen Pommes mit Ketchup auf Platz eins. Auch wenn es nichts mit Politik zu tun hat, mache es Strack-Zimmermann für die Nutzer nahbar und authentisch, sagt Kübler. So schaffe sie eine persönliche Verbindung, die dann auch später für die politische Willensbildung genutzt werden kann.

Entsprechend erreichen auch ihre ernsteren Videos mehr Nutzer als das bei anderen Europawahlkandidaten der Fall ist. Denn Strack-Zimmermann spielt das Tiktok-Spiel mit: Sie postet neben politischen Content auch schon einmal ein privates "This or That" zum Ostersonntag. "Authentisch, humorvoll, und zwischendurch kommt aber auch wieder politischer Content", beschreibt Kübler die Strategie der FDP-Politikerin. Damit hole sie die Nutzer ab.

#ReclaimTiktok: Die Rückeroberung der Plattform

Über 350.000 Aufrufe bekommt Strack-Zimmermann für ein Video mit dem Hashtag #ReclaimTiktok. Im ersten Teil des Videos erklärt -Spitzenkandidat Krah: "Tiktok will nicht, dass du meine Videos siehst." Darauf reagiert Strack-Zimmermann: Während im Hintergrund das Lied "Wir sagen danke schön" der deutschen Schlagerband "Die Flippers" läuft, lacht sie in die Kamera und hält beide Daumen hoch. Nicht nur mit diesem Video will Strack-Zimmermann die Plattform und vor allem ihre Nutzer aus den Fängen der AfD zurückerobern.

"Sie provoziert bewusst. Sie weiß, es wird AfD-Supporter geben, die sich in den Kommentaren auskotzen werden. Aber Strack-Zimmermann nutzt das, um selbst mehr Reichweite zu bekommen", erklärt Kübler das Phänomen, das von Fachleuten "Battle of the Brand Fans" genannt wird, also "Schlacht der Marken". Was Strack-Zimmermann hier hilft: Den Tiktok-Algorithmus interessiert es nicht, ob die Nutzer positiv oder negativ auf ein Video reagieren. Wichtig ist nur, dass sie auf der Plattform bleiben. "Eine umstrittene Strategie, die aber funktioniert", sagt Kübler.

"Bashing funktioniert immer sehr gut", sagt auch Fuchs. Er kritisiert jedoch, dass Videos, die sich lediglich an der AfD abarbeiten, die Partei dadurch nur stärken würden. So werde der AfD eine Relevanz und Wichtigkeit zugeschrieben, die ihre Sichtbarkeit noch erhöhe. Ein solches Abarbeiten sei langfristig zu wenig, "um Bürger zu überzeugen oder gar die zu erreichen, die sich von der AfD und ihrer demokratiefeindlichen Agenda und Inhalten angesprochen fühlen". Diese Zielgruppen sollten viel stärker in den Blick genommen werden, um sie nicht langfristig an populistische Akteure zu verlieren, mahnt Fuchs. Dies gelte insbesondere für die jüngere Generation und die Erstwähler.

Wer nicht mitspielt, verpasst seine Chance: von der Leyen und Weber

Während die Europäische Volkspartei seit September 2021 auf Tiktok aktiv ist, haben ihre wichtigsten deutschen Vertreter bei der Europawahl keinen eignen Account: Die Präsidentin der EU-Kommission, EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen, und auch EVP-Chef Manfred Weber (CSU) besitzen kein Profil auf der Plattform.

Spitzenpolitiker bräuchten nicht unbedingt ein Profil, weil sie ohnehin sichtbar auf der Plattform seien, meint Politikberater Fuchs. Um der AfD auf dem Spielfeld Tiktok etwas entgegenzusetzen, könne auch eine Zusammenarbeit zwischen Politikern und Accounts von Influencern wirksam sein. Fuchs verweist auf ein Video von Scholz und Younes Zarou, dem erfolgreichsten deutschen Influencer auf Tiktok. "Dies schafft eine ganz andere, authentischere Wirkung, als drei Monate vor der Wahl einen Alibi-Account zu starten, der nach der Wahl nicht mehr gepflegt wird. Hier zerstört man eher Vertrauen, als dass man es aufbaut", sagt Fuchs.

Der Marketing-Experte Kübler sagt: Die Abwesenheit der Spitzenpolitiker von der Leyen und Weber sei eine verpasste Chance. "Wer sich die Chance entgehen lässt, über Tiktok eine 'privatere' Verbindung zum Wähler aufzubauen, ist selbst schuld, da dies die klassischen Medienkanäle nicht leisten können", sagt Kübler. "Es ist eine Gefahr, den anderen das Spielfeld zu überlassen." Ohne Account können weder von der Leyen noch Weber im Wahlkampf um Tiktok mitspielen.

Quelle: ntv.de

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