Mecklenburg-Vorpommern macht am Montag den Anfang. NRW, Berlin und andere Bundesländer folgen eine Woche später: Die Schulen kehren zum Präsenzunterricht zurück, in jedem Land nach eigenen Regeln. Dabei gilt das Prinzip Versuch und Irrtum.
Ausgerechnet eines der beliebtesten Urlaubsländer der Republik beendet an diesem Wochenende als erstes die Schul- und Kitaferien: Mecklenburg-Vorpommern. Der Nordosten wird damit zum Vorreiter für den vielleicht riskantesten Großversuch, seitdem im Frühjahr zeitweise Ausgangsbeschränkungen verhängt worden waren. Die ersten von deutschlandweit elf Millionen Schülern und rund 686.000 Lehrern kehren zurück zum Regelschulbetrieb. Präsenzunterricht inmitten der Pandemie: Wie soll das gehen und kann das gut gehen?
Erschwerend hinzukommt, dass die Schulen gleichzeitig zum Wiederanziehen der Infektionszahlen öffnen. Schüler wie Lehrer kommen heim aus dem Urlaub oder vom Verwandtenbesuch im Heimatland der Eltern. Der "Tagesspiegel" berichtet, dass jetzt schon jeder neunte Infizierte in Berlin seine Erkrankung aus dem Ausland mitgebracht habe.
Das Schreckgespenst der zweiten Welle geht um, weshalb auch der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, in dieser Woche mehr Vorsicht einforderte. Doch auch er sagte: "Die Schulen werden geöffnet und sie müssen auch geöffnet werden (…) unter bestimmten Regeln."
Schulverantwortliche erkunden unbekanntes Gelände
Wie diese Regeln aussehen, ist vielerorts noch unklar, nur ihre Uneinheitlichkeit ist gewiss. Länder, wo die Ferien noch andauern, werden aufmerksam das Geschehen in Mecklenburg-Vorpommern sowie in Hamburg, Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen verfolgen, die in einer Woche mit dem Unterricht beginnen. Doch auch dort ist neun Tage vor Schulstart noch vieles offen. Berlin verschickte immerhin am Donnerstag einen neuen Elternbrief, wenn der auch vage formuliert ist.
Die Verantwortlichen in Politik und Behörden kämpfen dabei mit diversen Schwierigkeiten. Ein halbes Jahr, nachdem Sars-Cov2 die Bundesrepublik erreicht hat, ist über das Virus noch immer vieles unbekannt. Kinder und Jugendliche scheinen im Erkrankungsfalls zwar seltener an schweren Symptomen zu leiden. Unbemerkt verbreiten können sie das Virus aber allemal und so Schulmitarbeiter und Angehörige infizieren.
Der Anteil der Infizierten zwischen 5 und 14 Jahren unter den rund 200.000 bekannten Fällen in Deutschland liegt nach Zahlen des RKI bei gerade einmal 3,3 Prozent. Dabei hat diese Altersgruppe einen Anteil von 10,8 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Andererseits waren Kinder und Jugendliche bis zu den Ferien kaum in der Schule und hatten weniger Kontakte als die Gruppe der arbeitenden Bevölkerung, wo es nach Alter die meisten bekannten Infektionen gibt. Zudem erschweren nicht auftretende Symptome, potenziell infizierte Kinder zu erkennen und testen zu lassen.
Viele Lehrer fehlen
Die Frage der Infektiosität von Kindern berührt auch eine Kernaufgabe für die Schulbehörden: den Schutz ihrer Mitarbeiter. Viele Verbände und Gewerkschaften verweisen auf die Angst der Lehrer, sich anzustecken. Jeder dritte Lehrer in Deutschland ist älter als 50, in den ostdeutschen Flächenländern sogar mehr als jeder zweite. Unter ihnen sind viele Menschen mit Vorerkrankung. Sie haben die Wahl, sich dem Ansteckungsrisiko auszusetzen oder den Schulen vorerst via Krankschreibung fernzubleiben. Der Verband Erziehung und Bildung (VBE) schätzte im Juni, dass 10 bis 15 Prozent der Lehrkräfte wegen eigener Vorerkrankungen vorerst ausfallen. In Mecklenburg-Vorpommern fehlen nach Angaben des Bildungsministeriums Corona-bedingt 400 von 12.000 Lehrern.
Dennoch planen die Länder wieder weitgehend normalen Präsenzunterricht für alle Schüler, wobei die mit Vorerkrankung oder gefährdeten Personen daheim per Attest fernbleiben dürfen. Wer erst kurz vor Schulstart aus einem Risikogebiet zurückkehrt, soll zudem in Anschluss die 14-tägige Quarantäne einhalten.
Drei Prämissen zum Regelbetrieb
Im Zentrum der bereits bekannten Vorschriften stehen drei Überlegungen: Erstens gilt die Ansteckung über Aerosole in der Luft wegen der vielen Menschen in geschlossenen Klassenzimmern als größtes Risiko. Zweitens: Je weniger sich die Schüler außerhalb des Unterrichts nahekommen, desto langsamer findet eine Ausbreitung statt und desto einfacher ist die Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten. Drittens müssen diese Überlegungen auf Schulen angewendet werden, die sich in Organisation und Gebäudestruktur allesamt voneinander unterscheiden.
Anders als vor den Ferien sollen sämtliche Fächer wieder unterrichtet werden. Berlin schreibt für Musik, Sport und Theaterkurse das Vermeiden von Körperkontakt vor. In Mecklenburg-Vorpommern ist das Singen und Spielen von Blasinstrumenten nur bei einem Mindestabstand von zwei Metern gestattet. Grenzen setzt zudem das zur Verfügung stehende Lehrpersonal und die Vorgabe, die Schüler nach Gruppen voneinander zu trennen. Auch die teilweise angestrebte Verteilung der Schüler auf kleine Klassen ist personalintensiv.
Bildet Einheiten!
Mecklenburg-Vorpommern garantiert daher vorerst nur täglich vier Stunden Präsenzunterricht an den Grundschulen sowie fünf Stunden an den weiterführenden Schulen. Auch in anderen Ländern sind Einschnitte zu erwarten. NRW gestattet deshalb den Schulen, zusätzlich Lehrer befristet anzustellen.
Mecklenburg-Vorpommern schreibt den Schulen vor, feste Einheiten von Schülern zu bilden, die einander weder auf Fluren und Schulhof noch in der Kantine begegnen sollen. Die Klassenstufen 1 bis 4, 5 und 6, 7 und 8, 9 und 10 sowie 11 und 12 bilden jeweils eine eine Einheit. Innerhalb dieser Gruppen gelten für die Kinder und Jugendlichen keine Kontaktbeschränkungen. Die Separierung soll durch zeitversetzte Unterrichts- und Pausenzeiten sowie getrennte Pausenbereiche gelingen.
Maske rauf oder runter?
Bislang weniger konkret sind ähnliche Konzepte auch in den anderen Bundesländern in Vorbereitung, wobei das Land Berlin die genaue Umsetzung den Schulen überlässt. Anders als Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg schreibt die Hauptstadt an ihren Schulen Alltagsmasken außerhalb des Unterrichts vor. In Baden-Württemberg, wo das Schuljahr erst am 14. September startet, könnte die Maskenpflicht für ältere Schüler sogar im Unterreicht greifen.
In NRW ist vage von einem Maskengebot die Rede. Das könnte ganz praktische Gründe haben, denn eine Maskenpflicht stellt die Schulen vor große Herausforderungen. Ständiges Ermahnen zum richtigen Umgang mit den Masken dürfte die ohnehin schon belasteten Lehrer zusätzlich Nerven kosten. Die mögliche Androhung von Strafen ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Kinder, die wiederholt ihre Maske vergessen oder absichtlich unter der Nase tragen, kann man schlecht der Schule verweisen. Das würden Eltern zu Recht nicht mittragen.
"Dass 100 Prozent der Kinder Maske tragen, ist einfach unrealistisch", sagt die Sprecherin der Berliner Schulleitervereinigung, Astrid-Sabine Busse. "Viele Kinder vergessen die zu Hause oder sie geht in der Schule verloren oder verdreckt." Deshalb hält die Grundschuldirektorin auch wenig von einer möglichen Strafandrohung. "Man muss da differenzieren: Von einem 16-Jährigen kann ich ein anderes Verhalten erwarten als von einem 6-Jährigen."
Lüften und Testen
In den Klassenräumen tragen müssten die Schüler wohl etwas anderes: warme Kleidung. Regelmäßiges Lüften der Unterrichtszimmer wird oberstes Gebot im neuen Schuljahr. Spätestens im kalten Herbst wird das zur Herausforderung, zumal eine Erkältungswelle durch permanent zugige und kalte Schulräume nicht das Ziel dieser Maßnahme sein kann.
Das Land Berlin will in Zusammenarbeit mit der Charité die Entwicklung des Infektionsgeschehens an den Schulen systematisch begleiten. An je 24 zufällig ausgewählten Schulen und Kitas sollen Schüler und Schulmitarbeiter regelmäßig getestet werden. So sollen mögliche Infektionswege erkannt und Schwachstellen im Hygienkonzept gefunden werden. Den Lehrern an anderen Schulen will das Land "zeitnahe" Corona Tests ermöglichen, wenn diese Symptome an sich beobachten oder Kontakt zu Infizierten hatten.
NRW will allen Kita-Erziehern und Schulmitarbeitern vom 3. August bis 14. Oktober alle 14 Tage gratis freiwillige Tests unabhängig von Symptomen anbieten. Sollte an einer Schule eine Infektion auftreten, werden "alle am Schulleben Beteiligten sofort und umfänglich getestet", teilt das Bildungsministerium mit. Auch in Mecklenburg-Vorpommern sind alle zwei Wochen anlasslose Tests möglich. Permanenten Tests an allen Schulen sind Grenzen gesetzt: Täglich können in Deutschland rund 178.000 Tests bearbeitet werden - bei elf Millionen Schülern und rund 686.000 Lehrern.
Alle wollen die Schule zurück
Sollten Infektionen an Schulen oder im Umfeld von Schülern und Lehrern auftreten, ist mit der zeitweisen Schließung von Klassen, Jahrgängen oder auch ganzen Schulen zu rechnen. Das werden die Gesundheitsämter in Absprache mit den Schulbehörden nach Lage entscheiden. Eltern müssen sich zumindest auf zeitweise Heim-Beschulung im Herbst gefasst machen.
Kritik an den Plänen ist bislang nur vereinzelt zu hören: Oppositionspolitiker in den Ländern sowie Verbände stellen zwar hier und da einzelne Vorgaben infrage oder beklagen fehlende Informationen. Doch noch kennt niemand einen goldenen Weg zum sicheren Regelschulbetrieb in Zeiten von Corona. Das Schuljahr startet mit offenem Ausgang und alle Beteiligten hoffen, dass es gut geht.
Auch wenn von Normalität noch nicht die Rede sein kann, freut sich Schulleiter-Sprecherin Busse auf den Start. "Es sind schon hohe Einschränkungen", sagt Busse. Dennoch sei es so besser als der Heimunterricht via Post und Computer, sagt Busse. "Die Schüler brauchen uns Lehrer doch auch als Menschen."
Quelle: ntv.de