Politik

Bürgermeister von Bergamo "Jeder muss sich zu seinen Fehlern bekennen"

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Gori sieht viele Fehler bei den politisch Verantwortlichen in Norditalien - aber nicht nur.

(Foto: picture alliance/dpa)

Wie konnte die Ausbreitung des Coronavirus in Norditalien derart eskalieren? Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori, räumt im Rückblick schwere Fehler ein: eine Unterschätzung der Gefahr und ein Gesundheitssystem, das selbst zur Virenschleuder wurde. Für Deutschland hat Gori viele warme Worte.

ntv.de: Herr Bürgermeister, am 11. Februar gingen Sie noch ganz demonstrativ beim Chinesen essen - aus edlen Motiven, um den Chinesen in Bergamo beizustehen, die als Virus-Träger angegriffen wurden. Der Slogan lautete "Bergamo steht nicht still". Haben Sie zu spät begriffen, was da gerade für ein Tsunami auf Ihre Stadt zurollte?

Giorgio Gori: Ja, das ist richtig. Am 19. Februar war ich noch mit meinem Sohn dicht gedrängt mit weiteren 45.000 Zuschauern in Mailand, zum Spiel Atalanta Bergamo gegen den SC Valencia. Da haben wir Glück gehabt, nicht angesteckt zu werden.

Ein echtes Superspreader-Event. Das Virus wurde von Bergamo aus direkt nach Spanien geflogen.

Das war wohl so. Ich war aber - leider - nicht der einzige Bürgermeister, der das Virus zuerst vollkommen unterschätzt hat. Praktisch alle Bürgermeister des Nordens wollten ihre Städte "nicht stillstehen lassen". Da wussten wir noch gar nicht, dass das Virus schon seit Ende Dezember 2019 unter uns war. Wir hatten damals hier schon zahlreiche Fälle von seltsamen Lungenentzündungen, in den Weihnachtsferien, als man noch gar nicht vom Coronavirus sprach.

Der erste offizielle Coronavirus-Patient in Italien wurde am 20. Februar im kleinen Örtchen Codogno gemeldet.

Es hat sich dann ausgebreitet wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Am 1. März füllte sich das Krankenhaus von Bergamo rasend schnell mit Schwerkranken, die alle Sauerstoff brauchten. Da begriffen wir, dass wir wirklich in großen Schwierigkeiten waren. Es waren weder Betten auf der Intensivstation da noch genug Sauerstoff.

Ihre Schuld?

Auch meine, aber nicht alleine. Was hier überhaupt nicht funktioniert hat, ist die Organisation des Gesundheitssystems der Lombardei, weil es komplett auf die Großkrankenhäuser zugeschnitten ist. Aber sie brachen unter einer solchen Welle von Kranken zusammen, weil alle Kranken sofort ins Krankenhaus mussten. Die Krankenhäuser wurden selber zu Virenschleudern. Das muss man leider zugeben.

Waren Sie naiv, Herr Bürgermeister?

Richtig. In unserer Naivität glaubten wir, wir könnten unser Leben einfach so weiterleben, Restaurants und Bars blieben offen, sollten nicht schließen. Das habe ich damals auch öffentlich gesagt, das gebe ich zu, weil ich natürlich auch sehr beunruhigt war über die wirtschaftlichen Folgen der Krise. Das bin auch immer noch. Wir waren wirklich ahnungslos. Heute wissen wir das. Jeder muss sich zu seinen Fehlern bekennen. Aber wir wissen auch, dass China uns damals nicht gleich die volle Wahrheit erzählt hat, nicht offen gewarnt hat, wie auch die WHO.

War es die Angst um die Arbeitsplätze? Bergamo ist ja ein großer Industriestandort, in alle Welt vernetzt?

Sicher. Einige wenige Fabriken haben weitergearbeitet, weil sie von strategischer Wichtigkeit sind für die gesamte Industrie. Einige fingen an, Sauerstoffflaschen herzustellen. Jetzt öffnen wir vorsichtig, weil das Virus besser unter Kontrolle ist. Wir haben schon jetzt einen enormen Preis an Menschenleben gezahlt, und noch mehr wird es uns in wirtschaftlicher Hinsicht kosten.

Fürchten Sie eine zweite Welle?

Die ist leider möglich. Und die Region Lombardei hat in der Zwischenzeit immer noch keine geeignete Überwachung aufgebaut, die es uns erlauben würde, sehr schnell neue Brandherde auszuheben. Das ist jetzt meine größte Sorge. Mein Eindruck ist der: Wenn ein Hausarzt in einem Dorf der Umgebung einen Patienten mit 38 Grad Fieber entdeckt, dann dauert es zu lange vom Augenblick seines Anrufes beim Gesundheitsamt bis zum hoffentlich flott gemachten PCR-Test mit allen Kontaktpersonen. Viel Zeit, die es dem Virus ermöglicht, sich wieder auszubreiten. Es gibt leider auch immer noch zu wenig PCR-Tests. Aber die Menschen hier in Bergamo haben die Katastrophe mit eigenen Augen gesehen, in der Stadt gehabt, sie sind sehr vorsichtig.

Als Bürgermeister haben Sie nachgezählt, wie viele Tote es wirklich gab, die Übersterblichkeit erkannt.

Wenn eine erkrankte Person stirbt, die das Virus trug, ist das "statistisch" ein Covid-Toter. Wenn es die Person aber vielleicht gar nicht mehr ins Krankenhaus geschafft hat, aber in einem Altersheim gestorben ist, ohne eine Covid-Diagnose vor dem Tode, dann wird dieser Tote nicht in den offiziellen Covid-Statistiken auftauchen. Das macht von den Zahlen her einen großen Unterschied. Für mehrere Wochen waren die Krankenhäuser hier nicht am Rande des Zusammenbruchs, sondern weit darüber hinaus. Sie waren so randvoll, dass nicht einmal mehr eine Nadel in ein Krankenhaus hineingepasst hätte, geschweige denn noch ein Patient. Im Landkreis Bergamo wird offiziell eine Zahl von 2800 Covid-19-Opfern angegeben. Die Gemeinden selber, die die Anzahl der Todesfälle registrieren, wissen genau, wie viele Menschen im Mittelwert der letzten fünf Jahre gestorben sind und wie viele in diesen Monaten. Die sagen, dass in Wirklichkeit 6000 Menschen mehr gestorben sind. Das Gleiche gilt hier für die Stadt Bergamo.

Denken Sie noch an die langen Lkw-Kolonnen des Militärs, die jeden Abend die Särge abtransportierten?

Das war entsetzlich. Auch wenn es vielleicht nicht der allerwichtigste Aspekt ist, aber es ist doch schrecklich, dass die Hinterbliebenen hier kein Begräbnis feiern konnten. Die Opfer wurden an die Krematorien überführt. Ich musste Hunderte von Leichnamen in andere Städte schicken, weil das Krematorium hier nicht mehr nachkam mit dem Einäschern. Sie sind dann in vielen kleinen Urnen zurückgekommen. Der Bischof und ich haben dann eine kleine Gedenkzeremonie abgehalten, vor Hunderten und Hunderten dieser kleinen Urnen, eine über die andere gestapelt. Wir werden eine Gedenkzeremonie aber noch nachholen, mit der Bevölkerung von Bergamo. Am Ende unseres Gespräches möchte ich mich aber über Sie noch einmal bei ganz Deutschland bedanken für die Hilfe, die Sie meiner Stadt geleistet haben.

Das ist schön, dass Sie das erwähnen. Wir haben vor Kurzem über den letzten Patienten aus Bergamo berichtet, Marco Carrara, der in Köln als geheilt entlassen werden konnte und der sich sehr gewundert hat, in Köln aufzuwachen, nachdem er in Bergamo ins künstliche Koma versetzt worden war.

Ich möchte mich mit Ihrer Hilfe bei Deutschland bedanken, seinen Ländern und Städten, die auf ihre Kosten unsere Mitbürger abgeholt, behandelt und geheilt haben. Wir haben, denke ich, 47 Patienten nach Deutschland schicken können, die alle schwerkrank waren, die Hilfe brauchten. Wir haben sie auch in andere Städte Italiens schicken können. Aber Deutschland hat diesen Menschen, ohne viel Aufhebens zu machen, geholfen. Sie sind fast alle geheilt und wieder auf den Beinen. Mich öffentlich bei Deutschland zu bedanken ist mein Herzenswunsch. Auch deswegen, weil die Region Lombardei in einer Pressemitteilung und in einem Video wohl aus Unaufmerksamkeit vergessen hat, sich neben den vielen anderen Ländern, die geholfen haben, auch bei Deutschland zu bedanken, dem Land, welches uns objektiv gesehen am meisten geholfen hat.

Mit Giorgio Gori sprach Udo Gümpel

Quelle: ntv.de

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