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Experte zum Terror in Russland "Eskaliert es im Kaukasus, wird die Ukraine für Putin zweitrangig"

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Am Sonntag eröffneten Islamisten Feuer auf religiöse Stätten in der russischen Teilrepublik Dagestan. Bei den Angriffen kamen 20 Menschen ums Leben.

Am Sonntag eröffneten Islamisten Feuer auf religiöse Stätten in der russischen Teilrepublik Dagestan. Bei den Angriffen kamen 20 Menschen ums Leben.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Vor wenigen Tagen greifen bewaffnete Männer in der russischen Republik Dagestan mehrere Gotteshäuser und einen Polizeiposten an. 20 Menschen sterben. Nach dem Angriff auf eine Konzerthalle bei Moskau im März mit mehr als 140 Toten ist es ein zweiter großer islamistischer Anschlag binnen weniger Monate in Russland. Der Kreml versuche, das Problem kleinzureden, erklärt Osteuropa-Experte Alexander Friedman im Interview mit ntv.de. Stattdessen mobilisiere die Regierung die Bevölkerung gegen die vermeintlich größeren Feinde - die Ukraine und den Westen. Dabei setze Kremlchef Putin mit seiner "Besessenheit von der Ukraine" die Russische Föderation aufs Spiel, sagt der Historiker von der Uni Düsseldorf.

ntv.de: Nach dem islamistischen Anschlag auf die Crocus City Hall im März hatte Russland sofort der Ukraine die Schuld gegeben, obwohl der IS die Verantwortung übernahm. Hat Moskaus Propaganda nach den Angriffen in Dagestan auch eine Verbindung zur Ukraine hergestellt?

Alexander Friedman: Im Falle von Crocus waren es die Spitzenfunktionäre und auch Putin persönlich, die relativ schnell die Theorie einer angeblichen ukrainischen Verbindung gepusht haben. Diesmal waren es in erster Linie Lokalpolitiker aus Dagestan, die sofort die Ukraine bezichtigten. Die Strategie dahinter: Wenn man als Grund für Terror den Einfluss von außen nennt, muss man sich mit inneren Problemen nicht so viel befassen. Als eine Alibi-Theorie ist die Ukraine bestens geeignet.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Grundsätzlich gibt die Kreml-Propaganda der Ukraine diesmal also keine Schuld?

Den propagandistischen Diskurs kann man in diesem Fall so zusammenfassen: Die Ukraine stecke wohl nicht dahinter, aber sie habe davon profitiert. Sie versuche, Konflikte in Russland zu entfachen und hoffe darauf, dass es jetzt in Russland zu einem Ausbruch von ethnischen und religiösen Konflikten kommt.

Aber ist die Ukraine in Wirklichkeit Nutznießer in dieser Situation? Welche Auswirkungen kann der Anschlag auf den Krieg haben?

Direkte Auswirkungen auf das Kriegsgeschehen wird es wohl keine geben, aber für die Analyse der Situation aus der ukrainischen Sicht spielen die Ereignisse schon eine Rolle. Die Ukraine hat an der Front momentan nicht viele Erfolge vorzuweisen. Auf der russischen Seite ist gleichzeitig weiterhin der Wille da, den Krieg fortzuführen. So wird in der Ukraine immer wieder die Meinung geäußert, dass ausgerechnet innere Konflikte und Probleme Russland zu Fall bringen könnten. Dementsprechend versucht die ukrainische Seite im Rahmen ihrer Kriegspropaganda die russische Gesellschaft zu spalten. Das ist auch ein Propagandakrieg und dieser wird von beiden Seiten geführt. Und die ukrainische Seite ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt zimperlich. Schließlich kämpft sie um ihr Überleben.

Russlands innere Konflikte könnten allerdings auch unabsehbare Folgen haben.

Die Frage, was aus der Atommacht Russland wird, wenn es zu einem Bürgerkrieg und einem Zerfall des Landes kommt, interessiert eher den Westen. Die ukrainische Diskussion ist eine andere. Da wird viel mehr die Frage gestellt, ob das für den ukrainischen Sieg nützlich sein könnte oder nicht. Und wenn Russland in einem Bürgerkrieg versinkt, der zum Zusammenbruch oder zur Schwächung des Putin-Regimes führt, wäre das günstig für Kiew.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation im Kaukasus völlig außer Kontrolle gerät?

Das Kaukasus ist ohnehin ein Pulverfass und der russische Umgang damit ist nicht nachhaltig. Die wirtschaftliche Situation ist dort schwierig. Dagestan hat eine der höchsten Geburtenraten und Arbeitslosenquoten in Russland, es ist eine multiethnische Region mit archaischen Strukturen. Die Republik gehört zu den Gebieten, die von Moskau besonders stark subventioniert werden. Die Strategie ist also: Wir sind bereit, euch viel Geld zu geben, Hauptsache es bleibt ruhig. Die russische Politik ist allerdings eine Brandlöschpolitik. Also wenn es irgendwann brennt, dann versucht man den Brand zu löschen, beispielsweise mit finanziellen Subventionen. Aber eine langfristige Lebensgrundlage und Perspektiven für Menschen zu schaffen, das hat man bisher nicht gemacht.

Dass Menschen keine Zukunft sehen, bietet günstigen Nährboden für die Radikalisierung. Versteht man das im Kreml?

Die Bedeutung des radikalen Islamismus im Kaukasus wird vehement unterschätzt oder nicht verstanden. Man konzentriert sich auf den Westen, der als größte Gefahr dargestellt und auch wahrgenommen wird. Und in diesem Kontext wird die Bedeutung des Islamismus einfach heruntergespielt.

Einen Tag nach dem Anschlag in Dagestan, bei dem unter anderem eine Synagoge angegriffen wurde, war in Russland eine Delegation der Hamas zu Besuch. Gießt Moskau mit seiner Positionierung im Nahostkonflikt nicht noch mehr Öl ins Feuer?

Russland steht klar auf der palästinensischen Seite und betreibt eine radikale antiisraelische Propaganda. Und dass die Anschläge eine antisemitische Komponente haben, das ist neu. Davor hatte das Thema Antisemitismus im Nordkaukasus keine bedeutende Rolle gespielt. Die antisemitische Ausrichtung ist auch ein Nebeneffekt der russischen Propaganda und der antiisraelischen Hetze, die von der russischen Seite betrieben wird.

Putins Macht scheint trotz allem nicht in Gefahr zu sein.

Aus westlicher Sicht bestehen oft recht undifferenzierte Vorstellungen über die Situation in Russland. Lange Zeit hieß es, das Regime von Putin sei stabil, da kann gar nichts passieren. Dann kam aber die Meuterei von Prigoschin vor einem Jahr, die gezeigt hat, dass Putin nicht so stark ist, wie man denkt. Dann kam der antisemitische Pogrom in Machatschkala, dann der Angriff auf die Crocus City Hall und nun der Anschlag in Dagestan. Man sieht, das Regime hat es tatsächlich sehr schwer, die Kontrolle über die Situation zu behalten.

Wie versucht Putin, das zu vertuschen?

Putin verkauft ein Scheinbild von einer harmonischen, zufriedenen, friedlichen Gesellschaft. Das ist aber nur sein Wunschbild. Es gibt zahlreiche Probleme, Konflikte, Schwierigkeiten systemischer Natur, die nie gelöst werden. Auch nach den Angriffen in Dagestan gibt es keine Diskussion darüber, wie so ein Anschlag zustande kommen konnte, was das für das Zusammenleben in einem Vielvölkerstaat bedeutet. Das sind die Fragen, die nie gestellt werden, weil in einer Diktatur darüber nicht offen gesprochen wird. Stattdessen spricht man lieber vom Kampf gegen den äußeren Feind - die Ukraine und die USA. Das kann bedeuten, dass uns in Zukunft Überraschungen erwarten.

Glauben Sie, dass der Ukraine-Krieg im Kaukasus mitentschieden wird?

Sollte es im Kaukasus tatsächlich zu einer Eskalation kommen, dann hat der Kreml sofort ganz andere Sorgen als den Krieg in der Ukraine. Momentan sieht es nicht danach aus. Man muss jedoch sagen, es gibt auch Freiwillige aus Tschetschenien, die für die Ukraine kämpfen. Das sind Separatisten, die in den 90er Jahren gegen Russland gekämpft haben. Der Sieg der Ukraine könnte ihre Hoffnung nähren, dass die russische Herrschaft im Kaukasus zusammenbricht. Aber aktuell ist Putin Herr der Lage im Nordkaukasus. Nach der Mobilmachung im Oktober 2022 gab es in Dagestan Proteste. Darauf kam vom Kreml prompt eine Reaktion. Man hat Dagestan weitestgehend in Ruhe gelassen. In Moskau versteht man: Wenn man übertreibt, kann es sofort zu einer Explosion kommen.

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Der Kreml ist also in der Lage, die Situation grundsätzlich unter Kontrolle zu behalten?

Russland hat gravierende Probleme mit seiner Migrationspolitik. Islamfeindlichkeit, die Moskau häufig dem Westen vorwirft, ist tatsächlich weit verbreitet im eigenen Land. Der antimuslimische Rassismus ist dort ein Riesenproblem. Anschläge wie der auf die Konzerthalle bei Moskau oder wenn ein russisch-orthodoxer Priester in Dagestan bestialisch ermordet wird, verstärken diese antimuslimische Einstellung in der Gesellschaft. Putins Erzählungen über eine harmonische, friedliche Gesellschaft ohne ethnische, kulturelle und religiöse Spannungen sind ein Wunschbild. Die Realität sieht anders aus.

Was kann das für Folgen haben?

Ethnische und religiöse Konflikte können sich schnell entfalten. Das kann für Russland als Vielvölkerstaat dramatische Konsequenzen haben. Es kann durchaus sein, dass Putin mit seiner Besessenheit von der Ukraine und mit seinen Weltmachtspielen möglicherweise selbst die Russische Föderation verspielt. Eine Explosion ist da zumindest nicht auszuschließen.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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