Das "Schattenregime" in der DDR "Putin hat sich immer auf den Geheimdienst gestützt"
17.03.2024, 10:10 Uhr Artikel anhören
"Putin wollte schon als Jugendlicher unbedingt zum Geheimdienst", sagt Autor Christian Neef.
(Foto: picture alliance / dpa)
1945 befreiten die Alliierten Deutschland vom Nationalsozialismus. Doch im Osten des bald geteilten Landes begann gleichzeitig der sowjetische Geheimdienst, ein Terrorregime zu errichten, dem Tausende Menschen zum Opfer fielen. Die Brutalität hatten die Geheimdienst-Mitarbeiter in den Genen, wie Autor Christian Neef im Interview sagt. In seinem Buch "Das Schattenregime" zeichnet der langjährige Russland-Korrespondent ihr Vorgehen nach und schildert, wie der Geheimdienst selbst die Militärverwaltung ausbootete und seine Methoden bis heute fortwirken. Mit ntv.de spricht Neef auch darüber, wie der Geheimdienst den heutigen Kremlchef prägte. Putin habe sich immer auf den Geheimdienst gestützt.
ntv.de: Ihr Buch handelt vom Vorgehen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Osten Deutschlands nach 1945. Wie sind Sie auf die Akten und Fälle gestoßen, über die Sie schreiben?
NKWD ist die Abkürzung für das sowjetische Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, das ab 1946 Innenministerium hieß. Ihm war auch die Staatssicherheit unterstellt, weshalb beide Begriffe synonym verwendet werden. 1954 wurde der KGB als eigenständiger Geheimdienst gegründet.
Christian Neef: Der Ausgangspunkt waren die Erinnerungen des früheren NKWD-Bevollmächtigten Iwan Serow, die vor einigen Jahren in Russland gefunden wurden. Sie waren in seiner Garage eingemauert, wo er sie offenbar versteckt hat, falls er selbst einmal vom Geheimdienst verfolgt wird. Dieses Buch betrifft auch seine Jahre als Geheimdienstchef in der SBZ. Vieles, was er schreibt, war in Deutschland unbekannt und ich habe versucht, das anhand von Akten vor allem in russischen Archiven, aber auch in Deutschland zu überprüfen. Und tatsächlich entspricht vieles von dem, was er schildert, der Realität.
Was war Serow, der später erster KGB-Chef wurde, für ein Mann?
Er war ein Handlanger Stalins. Wenn man sein Tagebuch liest, merkt man, dass er keine politischen Ambitionen hatte, sondern alles erfüllte, was Stalin anwies. Dabei war er sehr effizient und besonders rücksichtslos, selbst für Geheimdienstleute. Er hatte auch keine Skrupel. Mehrmals schreibt er, dass er Entscheidungen aus Moskau nicht verstehe, aber die politische Führung sich schon das Richtige gedacht habe.

Christian Neef ist Experte für Russland, Osteuropa und Afghanistan. Von 1983 bis 1996 sowie von 2014 bis 2017 arbeitete er für den Rundfunk der DDR und den "Spiegel" als Korrespondent in Moskau. Heute ist er freier Autor (u.a. "Der Trompeter von Sankt Petersburg").
(Foto: Yevgeny Kondakov)
Wie den Briten oder Amerikanern ging es auch den Sowjets nach dem Krieg um die Entnazifizierung Deutschlands. Was war der Unterschied im Vorgehen?
Die Entnazifizierung war natürlich ein wichtiges Ziel, das die Sowjets mehr oder weniger ehrlich betrieben haben. Aber man merkt, dass sie sehr weiche Kriterien hatten. Sie konnten oftmals nicht einschätzen, wer wirklich ein Nazi oder Kriegsverbrecher war, weswegen sie sehr wahllos Menschen verhaftet haben, schon aus den niedrigsten Verdachtsgründen. Bei den Verhaftungswellen 1945 und 1946 wurden Tausende Menschen an einem Tag festgenommen, in der Hoffnung, dass man unter ihnen Nazis findet. Das betraf alte Leute, auch Kinder und Schwangere. Wie schon in den 30er-Jahren in der Sowjetunion übererfüllte der Geheimdienst den Plan.
Wurden dabei auch andere politische Ziele verfolgt?
Später, 1947 und 1948, kam die Aufgabe hinzu, jeden potenziellen politischen Widerstand gegen die Besatzung und die sich herausbildende Herrschaft der SED zu unterdrücken. Auch da wurden Leute verhaftet, denen eine politische Opposition unterstellt wurde: Jugendlichen wurde eine Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Werwolf-Organisationen untergeschoben, Mitglieder bürgerlicher Blockparteien wurden prophylaktisch verhaftet. Der Geheimdienst bootete dabei die eigentliche sowjetische Militärregierung aus und betrieb seine eigene Politik.
War dieser Terror von Anfang an so geplant?
Diese Brutalität steckte im Geheimdienst drin. Die Mitarbeiter hatten das in den Genen und haben es mit in die Besatzungszone gebracht. Sie haben sich oft in den 30er-Jahren profiliert, bei der Verfolgung sogenannter Volksfeinde in der Sowjetunion. Sie gingen mit Rücksichtslosigkeit und Brutalität vor, mit Denunziation, Verleumdung und erfundenen Strafsachen. Das alles kann auch in den Dokumenten nach 1945 nachgelesen werden.
Walter Ulbricht hat den großen Terror im Moskau der 30er-Jahre miterlebt. Wie hat er dann reagiert, als der Geheimdienst genauso in der SBZ vorging?
Ulbricht wusste über alles Bescheid, was in den 30er-Jahren passierte. Nach 1945 sieht man dann, dass er immer derjenige war, der bremste, wenn andere im SED-Parteivorstand die wahllosen Verhaftungen ansprachen. Viele SED-Grundorganisationen haben schriftlich oder mündlich dem Parteivorstand davon berichtet, weil auch Kinder von Funktionären oder Antifaschisten, die im KZ gesessen hatten, betroffen waren. Während Wilhelm Pieck dann 1948 ganz vorsichtig versuchte, das bei Stalin anzusprechen, war Ulbricht immer dagegen, die Sowjets zu verurteilen.
Gab es nach 1990 eine Aufarbeitung dieser Zeit?
In Deutschland wurde relativ viel über die Nachkriegszeit geforscht. Es gab auch eine Zusammenarbeit mit russischen Historikern, als die Archive kurzzeitig geöffnet waren. Aber das brach schnell ab, als viele Dokumente wieder als geheim eingestuft wurden.
Und in Russland?
Ein sowjetischer Offizier, ein Hauptmann, der in Thüringen gedient hatte, hat nach 1990 in einem Buch schonungslos geschrieben, dass die Organe des NKWD, des Geheimdienstes im besetzten Deutschland, eine besonders krasse Verkörperung von Stalins totalitärem Regime gewesen seien. Sie hätten unabhängig von der Militärregierung gehandelt und ihre Macht missbraucht. Ansonsten gab es in Russland nie eine Aufarbeitung, denn zwei Säulen des Systems blieben nach dem Ende der Sowjetunion unangetastet: die Armee und der Geheimdienst. Eine Reform des KGB scheiterte, in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre erstarkte der Geheimdienst wieder, er wurde zum FSB. Als Putin dann an die Macht kam, stützte er sich auf diesen Apparat.
Ist Putin heute ein Geheimdienstler im Präsidentenamt oder ein Politiker mit Geheimdienstvergangenheit?
Ich würde sagen: ersteres. Er hat seinen Geheimdiensthintergrund nie abgelegt. Er wollte schon als Jugendlicher in den 60er- und 70er-Jahren unbedingt zum Geheimdienst. Beim KGB hat man ihn sogar noch gebremst und gesagt: Studieren Sie erst mal. Danach ist er aber sehr schnell in den Geheimdienst eingetreten und dieser hat ihn eindeutig geprägt. Nach 1990 machte er Karriere, erst in St. Petersburg, dann in Moskau in der Kreml-Administration. Er landete beim FSB und als er 1999 Regierungschef wurde, merkte man an vielen Entscheidungen, dass er sich immer auf den Geheimdienst gestützt hat.
Was war dabei sein Ziel?
Putin hat von Anfang an mithilfe des Geheimdienstes daran gearbeitet, Russland wieder die Stärke zurückzugeben, die es einst hatte. Er eröffnete noch einmal die Front im Kaukasus, löste den schrecklichen zweiten Tschetschenienkrieg aus und ließ mit Brutalität die Aufständischen niederschlagen. Einen Vorwand dafür fand er, als angeblich Tschetschenen mehrere Hochhäuser bei Moskau und in Südrussland in die Luft sprengten. Inzwischen weiß man mit ziemlicher Sicherheit, dass der russische Geheimdienst diese Aktionen ausgelöst hat. So setzt sich das in den nächsten Jahren fort. Als Putin 2008 Ministerpräsident wurde, saßen 22 Geheimdienstleute in seiner Regierung.
Und heute?
Viele Gouverneure, viele Vertreter des Präsidenten in den Regionen, viele hohe Beamte stammen aus dem Geheimdienst. Zum Beispiel Alexei Djumin, der Gouverneur der Region Tula, der auch als möglicher Putin-Nachfolger gehandelt wird. Er war persönlicher Adjutant Putins, dann stellvertretender Chef des Sicherheitsdienstes und Generaloberst. Putin nimmt solche Leute mit auf der Karriereleiter und benutzt sie als Stütze seiner Herrschaft oder parkt sie auf verschiedenen Positionen, von wo er sie dann abrufen kann. Nikolai Patruschew, einer von Putins engsten Vertrauten, der nach ihm FSB-Chef wurde, sagte im Jahr 2000, dass die Geheimdienste der neue Adel der russischen Gesellschaft seien. Dieses Zitat sagt alles.
Welche Rolle spielte der Geheimdienst beim Überfall auf die Ukraine?
Der FSB spielte schon bei der Vorbereitung der Invasion eine wesentliche Rolle. In russischen Quellen heißt es, der FSB habe Putin die Information geliefert, dass der Einmarsch und der Vormarsch auf Kiew ohne größere Schwierigkeiten erfolgen könnte und die Ukraine in so desaströsem Zustand sei, dass sie ganz schnell zusammenbrechen würde. Das war, wie wir heute wissen, eine totale Fehleinschätzung. Auch danach spielte der FSB eine große Rolle, zum Beispiel bei den Deportationen von Kindern aus den besetzten Gebieten.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es Parallelen zwischen dem Vorgehen in SBZ und DDR sowie den besetzten Gebieten der Ukraine gibt. Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel sind die Russen, soweit man hört, mit fertigen Listen in die Ukraine gekommen, um Leute zu verhaften, die sie als Feinde Russlands betrachteten. Genau das gab es bereits in der sowjetisch besetzten Zone. Es gab damals auch Deportationen, wenn auch nicht in dem Maß wie in der Ukraine. Es gibt da also so manche Parallele.
Strebt Putin tatsächlich eine Wiederauferstehung der Sowjetunion an, wird Russland nach der Ukraine weitere Länder angreifen?
Wir lassen uns irreführen durch sein Zitat, dass der Untergang der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war. Er will nicht die Sowjetunion wieder auferstehen lassen, sondern ein starkes Russland, wie es vor 1914 existiert hat, also das russische Imperium. Dazu gehören Einflusszonen, die Russland früher schon hatte, koloniale Eroberungen wie die Krim, Mittelasien, der Kaukasus. Die Hauptthese dabei ist: Wir haben ein ausgedehntes Territorium, das wir nur verteidigen können, wenn wir die Grenzen ausdehnen, um unser Kernland sicherer zu machen.
Trotz des Terrors des sowjetischen Geheimdienstes in Ostdeutschland zeigen dort heute viele Menschen eher Verständnis für Putin und das russische Vorgehen in der Ukraine. Wie erklären Sie sich das?
Es ist für mich eines der größten Phänomene, dass sich viele Menschen nicht mehr daran erinnern wollen, was sie oder Verwandte während der sowjetischen Besatzung erlebt haben. Ich selbst bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, die von der Roten Armee besetzt wurde und dort bis Anfang der 90er blieb. Ich kann mich genau erinnern, was meine Mutter immer wieder erzählte. Das Verhältnis zur Besatzungsmacht war alles andere als gut. Es gab Tote, es gab Gewalt gegen Oppositionelle, das alles prägte die Leute und die Meinung über die Besatzung. Insofern wundert mich die Nachsicht, die man heute vor allem in Ostdeutschland immer wieder gegenüber Putin oder seinem System übt.
Was könnte die Ursache sein?
Ich glaube, dass sich da etwas ganz anderes ausdrückt: Es ist eine Entfremdung von der westlich geprägten Mehrheitskultur. Die angeblich wiederentdeckte Nähe zu Russland, ist, glaube ich, eine Schutzbehauptung. Sie bemäntelt ein weit verbreitetes Gefühl der Opposition gegen die eigene Regierung und die westdeutsche Meinungshoheit. Es ist eine Verengung der Wahrnehmung, die mit der heutigen Zeit zu tun hat, aber nicht konkret mit Russland. Außerdem bezweifle ich, dass die Ostdeutschen die Russen wesentlich besser kennen als die Westdeutschen. Trotz der Anwesenheit der Besatzungsmacht nach 1945 haben sie relativ wenig mit ihr zu tun gehabt.
Mit Christian Neef sprach Markus Lippold
Quelle: ntv.de