EU-Spitzenkandidatin Reintke "Scholz droht, Deutschlands Einfluss in Europa zu riskieren"
25.05.2024, 09:03 Uhr Artikel anhören
Reintke zog mit 26 Jahren ins Europaparlament ein.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Keine Führungsrolle in Europa, Misstöne im Verhältnis zu Frankreich: Terry Reintke übt im Gespräch mit ntv.de scharfe Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Spitzenkandidatin der Grünen zur Europawahl fordert vor dessen Treffen mit Präsident Emmanuel Macron "ein Signal europäischer Einigkeit" - und hat hierfür auch Ideen. Ferner spricht Reintke über die Aussichten ihrer Partei zur Europawahl und ihre Vorbedingung dafür, dass die Grünen eine Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützen.
ntv.de: Robert Habeck hat in der ntv-Sendung "Frühstart" ein "sattes zweistelliges Ergebnis" für die Grünen zum Ziel bei der Europawahl ausgegeben. Definieren Sie bitte "satt".
Terry Reintke: Statt über Definitionen nachzudenken, kämpfe ich lieber für ein starkes grünes Ergebnis. Wir sind mitten im Wahlkampf und die Stimmung ist gut. Und das überall, ich bin ja nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Mitgliedstaaten unterwegs. 2019 waren die Grünen vor allem in West- und Nordeuropa stark. Im Süden und Osten der EU sind wir dagegen kaum vorgekommen. Das haben wir in den letzten Jahren mit viel Einsatz zu verändern versucht. Jetzt hoffen wir, Abgeordnete aus noch mehr europäischen Ländern als bisher in der grünen Europafraktion zu haben.
2019 haben die Grünen in Deutschland ein Rekordergebnis von 20,5 Prozent erzielt. Im RTL/ntv-Trendbarometer liegt Ihre Partei nun bei 14 Prozent. Rechnen Sie damit, dass Ihre Klientel zuverlässiger an der EU-Wahl teilnimmt als Wähler anderer Parteien?
Auch 2019 war die Wahlbeteiligung insgesamt hoch und das muss auch diesmal unser Ziel sein. Natürlich wollen wir mobilisieren - aber vor allem auch ein Angebot für die Breite der Gesellschaft machen. An die Menschen, die sich für eine Stärkung der Demokratie und gegen einen Rechtsruck einsetzen. Diese Themen bewegen Menschen weit über eine vermeintliche Kernwählerschaft hinaus.
Umfragen weisen ein gestiegenes Interesse an der Europawahl aus. Überrascht Sie das?
Nein, ich kann das gut nachvollziehen. Die EU hat in so vielen Bereichen positiven Einfluss auf unser Leben. Und lange Zeit schien es selbstverständlich, dass Europa immer weiter zusammenwächst. Nun droht ein Abbau von Demokratie und Menschenrechten, auf europäischem Boden tobt ein Krieg. Die letzten Krisenjahre haben uns gezeigt, wie wichtig die EU für Deutschland ist, für unsere Wirtschaft und unsere Sicherheit. Ich glaube, viele Menschen sehen, welchen Mehrwert die EU bietet.
Die 37-jährige Politikwissenschaftlerin aus Gelsenkirchen gehört seit zehn Jahren dem Europaparlament an. Im Herbst 2022 wurde sie zur Vorsitzenden der Grünenfraktion im Europaparlament gewählt und tritt nun als Spitzenkandidatin der europäischen Grünen an. Die mit einer französischen Senatorin liierte Abgeordnete machte sich anfangs einen Namen bei den Themen Diversität und Gleichstellung. Als europäisches Gesicht ihrer Partei deckt Reintke inzwischen die ganze Bandbreite ab - von Industrie- und Klimapolitik über internationale und Sicherheitspolitik bis hin zu sozialen Themen und Menschenrechtsfragen. Sollte Deutschland nach der Wahl einen neuen Kommissar ernennen dürfen, falls Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen nicht weitermacht, gilt Reintke als Favoritin: Die Grünen haben laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung das Recht, den oder die deutsche Kommissarin auszuwählen.
Was wäre Ihres Erachtens in den vergangenen Jahren so nicht möglich gewesen, wenn Deutschlands Grüne 2019 nicht so ein starkes Wahlergebnis erreicht hätten?
Weder hätte die Kommission den Green Deal vorgeschlagen, der Europa klimaneutral machen soll, noch hätten wir die wichtigen Gesetzesinitiativen in diesem Bereich ins Ziel bekommen. Es geht dabei nicht nur um das Erreichen der Pariser Klimaschutzziele, sondern auch um Europas Wettbewerbsfähigkeit, um die Frage, ob sich Zukunftstechnologien - und damit Jobs - in Europa oder vorrangig in den USA oder China ansiedeln. Unsere Arbeit hat einen erheblichen Unterschied gemacht. Die bisherige Parlamentsmehrheit aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen hat den Umfragen zufolge nach der Wahl nur noch eine knappe Mehrheit. Wenn diese Parteien künftig mit den EU-Feinden der Fraktion EKR paktieren sollten, steht vieles - auch der Green Deal - auf der Kippe, zum Leidwesen von Wirtschaft und Umwelt.
Sie offerieren die Grünen als Koalitionspartner, machen aber den Beibehalt des Green Deal zur Vorbedingung. Doch der wird auch von Konservativen und Liberalen infrage gestellt. Befördern Sie damit nicht am Ende eine Koalition mit Rechten wie Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia?
Es geht um Europas Zukunft, um unseren Wohlstand. Wenn Teile der Union nun davon reden, hier rückabwickeln zu wollen, ist das eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Nicht zuletzt viele Wirtschaftsverbände warnen vor einem Zickzack-Kurs beim Green Deal. Der Weg zur Klimaneutralität - und unsere Unternehmen - brauchen einen verlässlichen Investitionsrahmen. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und weiß, welche Herausforderungen, aber auch Chancen, eine Transformation mit sich bringt. Als ich Kind war, gab es noch überall die Kohlewaggons, heute geht es um grünen Stahl und Wasserstoff.
Zum Verdruss von Bundesfinanzminister Christian Lindner und mutmaßlich dem ihrer eigenen Partei, hat sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offen gezeigt, für ein schuldenfinanziertes Investitionsprogramm in der neuen Legislaturperiode. Blinkt da jemand in Richtung der Grünen?
Ursula von der Leyen sieht vor allem die Notwendigkeiten. Es ist richtig, dass wir Grüne ein neues Programm nach dem Vorbild des NextGen-Fonds fordern, der nach der Corona-Pandemie aufgelegt wurde. Viele Unternehmen haben sich ja längst auf den Weg gemacht, wollen auf klimafreundliche Produktion umstellen. Das braucht Planungssicherheit und Kapital, das nicht allein privatwirtschaftlich gestemmt werden kann. Anderswo wird investiert, die USA haben mit dem IRA Milliardenprogramme aufgelegt. Es ist doch so: In Zukunft wird es grünen Stahl geben - die Frage ist, wird er hier in Deutschland produziert? Dass Frau von der Leyen den Bedarf der Wirtschaft wahrnimmt, finde ich richtig. Ich hoffe, dass sie auch die Zweifler in ihrer Partei noch überzeugen kann.
Sie haben trotz Ihrer jungen Jahre schon zweieinhalb Bundesregierungen als Europaabgeordnete erlebt. Frau Merkel galt als große Europäerin. Wie werden Olaf Scholz und die Ampelregierung aus Brüsseler Perspektive wahrgenommen?
Da ist noch Luft nach oben. Gerade aus der Brüsseler Perspektive kann ich sagen, wie wichtig es ist, dass Deutschland in Europa ein verlässlicher Partner mit Führungsstärke ist. Einerseits, um deutsche Interessen in Europa durchzusetzen und andererseits, um Europa zusammenzuhalten. Leider fällt Deutschland aktuell aber vor allem dadurch auf, dass es nach jahrelangen Verhandlungen im letzten Moment seine Position ändert oder die Zustimmung verweigert. Ich habe Sorge, dass Deutschland in Brüssel gerade an Image, Stellung und Einfluss verliert, was ja entscheidend ist, beispielsweise am Verhandlungstisch. Olaf Scholz muss seiner Verantwortung, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen, stärker gerecht werden. Ansonsten droht er, den deutschen Einfluss in Europa zu riskieren.
Ist Deutschlands Einfluss auf die Geschicke der EU insgesamt gesunken?
Nach meinem Eindruck wünschen sich viele Europäerinnen und Europäer, dass das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland der EU mehr Führungsverantwortung wahrnimmt als bislang. Dabei geht es natürlich nicht um starre Ansagen, sondern um eine gemeinsame Vision für den Kontinent und Initiativen, die eine Richtung vorgeben. Selbst wenn sie nicht eins zu eins umgesetzt werden, können sie als Initialzündungen dienen. Das Schengen-Abkommen oder der Euro gehen auf deutsch-französische Vorstöße zurück. Doch statt neuer Impulse kam aus Berlin zuletzt vor allem das German Vote. Sprich: Deutschland verweigerte kurz vor Schluss seine Zustimmung zu aufwändig geeinten Gesetzen wie dem Lieferketten-Gesetz. Auch bei anderen Gesetzesinitiativen ließ Berlin eine klare Haltung vermissen.
Konkret: Was wünschen Sie sich für ein Signal vom Treffen zwischen Macron und Scholz am Dienstag?
Auf jeden Fall keine Misstöne, sondern ein Signal europäischer Einigkeit. Das brauchen wir in diesen Zeiten. Wir stehen vor großen gemeinsamen Herausforderungen. Nur wenn wir geostrategisch handlungsfähig sind, können wir unsere Interessen und Werte überzeugend vertreten. Themen gibt es genug. Beispielsweise braucht es weitere Integrationsschritte in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Hier ermöglicht das Einstimmigkeitsprinzip EU-Feinden wie Ungarns Premierminister Viktor Orban, mit einer Veto-Drohung immer wieder andere Länder zu erpressen. Oder beim Thema Zusammenarbeit bei der Rüstungspolitik. Hier braucht es Impulse, wenn es um eine effizientere Beschaffung geht oder um die Kompatibilität von Waffensystemen. Das war ja ein Anspruch der Zeitenwende, da ist noch viel Spielraum.
Die Grünen schlagen für den Rüstungsbereich ein eigenes Finanzinstrument außerhalb des EU-Budgets vor. Was ist damit gemeint?
Es geht darum, Europas Sicherheit zu stärken. Dafür schlagen wir vor, Teile der nationalen Rüstungsbudgets zusammenzulegen und in gemeinsame Rüstungsprojekte und gemeinsame Beschaffung zu investieren, etwa in die strategische Aufstockung der Munitionsvorräte. Um die Ziele für Forschung, Entwicklung und Anschaffung zu erreichen, macht es wenig Sinn, aus dem im Vergleich zu nationalen Haushalten kleinen EU-Budget etwas für die Rüstung herauszunehmen. Wenn man sich die Zahlen anschaut, geben wir heute halb so viel für Rüstung aus wie die USA, erhalten dafür aber nur einen Bruchteil der amerikanischen Militärkapazität. Internationale Partnerschaften machen uns stärker. Das wollen wir ausbauen, auch um vorhandene Gelder effizienter zu nutzen. Natürlich wäre darüber zu sprechen, wie das parlamentarisch beaufsichtigt werden kann.
Wie stehen Sie zu Vorschlägen wie der Einrichtung eines EU-Rats der Verteidigungsminister oder gar der Einführung eines Kommissars für Verteidigungsfragen?
Ich bin für solche Vorschläge offen. Einen Verteidigungskommissar oder eine Verteidigungskommissarin einzusetzen, befördert aber nicht automatisch die Zusammenarbeit zwischen den EU-Hauptstädten. Wenn das Kommissariat allerdings einen eigenen Wehretat erhält, verleiht das einen Macht- und Gestaltungsanspruch. Die Einrichtung so eines Amtes muss mit einem konkreten Vorhaben verknüpft sein, um die Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärker zu europäisieren.
Im Europawahlprogramm verurteilen die Grünen den Einsatz von Streumunition, explizit auch in der Ukraine. Ist das nicht zynisch? Erst lässt Europa die Ukraine bei der Munition am langen Arm verhungern, dann schreibt man Kiew vor, welche der verbliebenen Waffen das Land einsetzen darf?
Wir unterstützen die Ukraine finanziell und militärisch, das heißt aber nicht, dass wir pauschal jedes Waffensystem gutheißen müssen. Deutschland und viele weitere Länder der EU setzen sich für die Ächtung von Streumunition ein, egal, wo sie zum Einsatz kommt. Davon ab gehören Deutschland und Europa heute zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine - und wir setzen uns dafür auch weiter ein. Deshalb bin ich dafür, dass wir in Europa die Produktionskapazitäten hochfahren. Putin greift nicht nur die Freiheit der Ukraine an, sondern die europäische Friedensordnung. Die Grünen, nicht nur in Deutschland, haben schon früh militärische Hilfe für die Ukraine gefordert, auch hier im Europaparlament.
Ihr Wahlprogramm führt Klimapolitik als Komponente von Sicherheits- und Friedenspolitik auf. Doch die Bundesregierung plant - wie schon im laufenden Jahr - 2025 weitere Kürzungen beim Entwicklungshilfebudget. Wie soll Deutschland da seinen Zusagen nachkommen, den Transformationsprozess in anderen Ländern zu unterstützen?
Die Klimapartnerschaften sind richtig und sie müssen finanziell unterfüttert werden. Es geht nicht um Almosen, sondern darum, die klimapolitischen Herausforderungen global zu denken. Europa trägt eine historische Verantwortung für die Klimakrise. Zudem bringen alle Anstrengungen in Europa nichts, wenn sich nicht auch andere Länder auf den Weg machen. Nichts zu tun, würde uns am Ende deutlich teurer kommen. Welche Auswirkungen die Klimakrise heute schon haben kann, sehen wir an der Häufung von Extremwetterereignissen wie zuletzt im Saarland.
Aber die Stimmung ist, wie sie ist: In Zeiten knapper Kassen wird es wieder populärer, gegen Geld ans Ausland zu argumentieren. Selbst Bundesfinanzminister Christian Lindner erzählt nun die Geschichte von den Radwegen in Peru.
Es gibt diese Debatte immer mal wieder. Dazu muss man sagen: Wir stehen global in einem Wettbewerb der Systeme. China investiert weltweit und baut dadurch Zugänge zu Rohstoffen und Handelswegen auf. Wollen wir da zusehen? Ohne Partnerschaften schneiden wir uns nicht nur von potenziellen Rohstoffquellen ab. In unserer heutigen globalisierten Welt können Konflikte anderswo erhebliche Auswirkungen auf Lieferketten und damit auf unser Leben und unsere Wirtschaften haben. Frieden und Wohlstand erwachsen nicht aus Abschottung, sondern aus internationalem Engagement. Zu glauben, unsere Realität endet an Europas Außengrenzen, ist eine etwas eingeschränkte Sicht auf die Welt. Und in Zeiten, in denen Autokratien weltweit daran arbeiten, Demokratien zu schwächen, ist sie auch leichtsinnig.
Mit Terry Reintke sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de