
Rolf Mützenich fühlt sich missverstanden.
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Die SPD-Bundestagsfraktion veranstaltet eine Diskussion am Jahrestag von Scholz' Zeitenwende-Rede. Was diese Zeitenwende ausmacht, wird dabei nicht so deutlich. Augenfällig dagegen ist die anhaltend hohe Betroffenheit einiger Sozialdemokraten - über die seit Kriegsausbruch selbst erlittenen Verletzungen.
Die große Nachfrage hat die Veranstalter dann doch überwältigt: Nicht nur der Otto-Wels-Saal im Reichstagsgebäude, der die 206 Abgeordneten starke SPD-Fraktion zu fassen vermag, sondern auch der Nebenraum ist am Montagabend gut gefüllt. Zudem verfolgen am ersten Jahrestag von Olaf Scholz' Zeitenwende-Rede zahlreiche Interessierte die Diskussion "Ein Jahr Zeitenwende" via Livestream. Der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hält die Einführungsrede und setzt darin einen Schwerpunkt, der angesichts des Themas des Abends überrascht: Rolf Mützenich spricht in seinen - abzüglich Begrüßungsformeln - zehn Minuten Redezeit vor allem über Rolf Mützenich und alle anderen Sozialdemokraten, die in den vergangenen zwölf Monaten Verletzungen durch Kritik und Widerspruch erfahren haben.
Zu diesen bisher eher nicht als solchen wahrgenommenen Opfern von Putins Angriffskrieg zählt sich, wie später deutlich wird, auch Ralf Stegner. Der Partei-Linke hat zusammen mit Joe Weingarten und Falko Droßmann, die alle drei dem Unterausschuss "Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung" angehören, den Diskussionsabend organisiert. Warum das breite Meinungsspektrum zum Ukraine-Krieg innerhalb der SPD-Fraktion nicht durch Vertreter anderer Positionen wie etwa Michael Roth vertreten wird, bleibt unklar. Stattdessen gibt der Politikwissenschaftler Carlo Masala denen eine Stimme, die sich anders als Mützenich und Stegner von Beginn der Invasion an für eine robuste militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen haben. Masala hatte sich in diesem Zusammenhang noch Ende Januar derart über einen Brief Mützenichs an die SPD-Fraktion geärgert, dass er drohte, Veranstaltungen dieser Fraktion künftig fernzubleiben.
Dass es so früh dennoch zu einem Wiedersehen kommt, dürfte einer der Hauptgründe hinter dem großen Interesse an der Veranstaltung sein. Ein anderer ist sicherlich die Teilnahme von Boris Pistorius, dem noch immer neuen, aber jetzt schon Beliebtheitsrankings anführenden Verteidigungsminister. Mützenich dagegen sieht den Zuspruch vor allem darin begründet, dass die Bevölkerung an Antworten auf die Zeitenwende interessiert sei, die über "monothematische Diskussionen" hinausgingen. Es ist der erste, aber nicht letzte Verweis Mützenichs auf eine seines Erachtens zu sehr aufs Militärische verengte Debatte.
Öffentliche Selbstkritik - eine "Mode"?
Dabei zeigt ausgerechnet die Panel-Diskussion mit Masala und Stegner, wie schwierig es eben nicht nur für Medien ist, alle Aspekte des Krieges in gleicher Gewichtung zu beleuchten. Die ebenfalls geladenen Panel-Gäste - Diana Henniges, Aktivistin für Rechte von Geflüchteten, und Kristina Lunz, Gründerin eines Zentrums für feministische Außenpolitik - dürften sich in der Debatte jedenfalls eher wie Zaungäste fühlen. Die Fragen aus dem Publikum drehen sich vor allem um den Kriegsverlauf und klassische Außen- und Sicherheitspolitik. Zur Situation der nach Deutschland geflüchteten Ukrainer hat niemand eine Frage.
Die große Hilfsbereitschaft einiger Deutscher, die freiwillig Ukrainerinnen und Ukrainer bei sich aufgenommen haben, zählt Mützenich als eine von vielen nicht-militärischen Unterstützungsleistungen der deutschen Politik für die Ukraine auf. Die selbstkritische Rückschau hält er dagegen für überzogen. "Es ist ja sogar manchmal zu einer modischen Einlassung geworden, welche Fehler man gemacht hat", sagt der Fraktionschef. Fehler gehörten aber dazu, auch bei politischen Entscheidungsträgern, "vor dem Hintergrund von Ereignissen, die man so nicht voraussehen konnte, die man aber im Nachhinein natürlich auch immer wieder prüfen muss".
Mützenich klärt die Schuldfrage
Auch er habe Versäumnisse und Fehler zu bekennen, sagt Mützenich, ohne diese zu benennen. "Und gleichzeitig möchte ich aber auch die Freiheit nutzen, zu sagen, dass ich manchmal irritiert bin über die eine oder den anderen, die der Öffentlichkeit sagen, eigentlich haben sie alles schon gewusst." Das müsse man denen nicht glauben.
"Wenn man Versäumnisse und Fehler korrigiert," - welche das sind, lässt Mützenich erneut offen - "dann möchte ich als Sozialdemokrat eins auch hier bekennen: Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine. Dies hat alleine Präsident Putin zu verantworten und ich hoffe, dass er irgendwann auch zur Rechenschaft gezogen wird." Die sehr wohl auch von egoistischen Wirtschaftsmotiven geprägte Russland-Politik Deutschlands vor und nach der Krim-Annexion 2014 als "Entspannungspolitik" zu titulieren, wäre schon vor dem 24. Februar 2022 mutig gewesen. Heute, ein Jahr später, ist die Wortwahl wohl Ausdruck von Mützenichs tiefer Verletztheit über die Kritik an seiner SPD und ihrer Mitverantwortung dafür, dass Putin glaubte, den Krieg führen zu können.
Doch nicht nur die Selbstbezichtigungen anderer Politiker und mediale SPD-Schelte findet Mützenich unangemessen, sondern auch den Umgang mit der eigenen Person. Der Kölner erinnert an seine Bundestagsrede von Ende März, als er dem Plenarsaal eine Weltkarte präsentierte, um zu untermalen, dass mit China und Indien die beiden bevölkerungsreichsten Länder einer UN-Resolution gegen Russlands Angriffskrieg nicht zugestimmt hatten. "Hier muss auch die Diplomatie versuchen, Wege zu diesen Staaten zu finden", erklärt Mützenich im Otto-Wels-Saal seine damalige Intention. Das sei "nicht zu verwechseln mit Verhandlungen mit Putin". Ihm gehe es darum, dass Diplomatie Brücken zu den aufstrebenden Weltmächten bauen müsse, damit einmal Verhandlungen stattfinden könnten. Genau das bezwecke auch Bundeskanzler Scholz mit seinen Reisen nach China und Indien.
Stegner sieht sich im Recht
Masalas mimische Reaktionen auf Mützenichs Rede bleiben dem Publikum hinter ihm verborgen, weil der Politikwissenschaftler in der ersten Reihe sitzt. Er geht während der Panel-Diskussion nicht auf den SPD-Fraktionsvorsitzenden ein, genauso wenig wie auf die Spitzen Ralf Stegners. "Ich habe zu denen gehört, die das in den letzten Tagen differenziert kommentiert haben", sagt Stegner über Chinas von Russland abgelehnten Friedensplan. Andere Experten und Politiker hatten Pekings Ankündigung von Beginn an skeptisch gesehen. Stegner sieht sich nun nach Putins Abfuhr in seiner Einschätzung bestätigt, dass auch China Interesse an einem Ende des Krieges habe.
Über kognitive Umwege bringt Stegner zudem eine Breitseite gegen Marie-Agnes Strack-Zimmermann unter. Die FDP-Politikerin bildet mit ihren vehementen Rufen nach Waffen für die Ukraine innerhalb der Regierungsfraktionen den Gegenpol zu Stegner. Der sagt nun: "Ich befürchte, dass Putin nicht mal Interviews der Vorsitzenden des Verteidigungsauschusses des Deutschen Bundestags liest." Auch Stegner lobt Scholz' China-Visite, die im Herbst von den Koalitionspartnern Grüne und FDP kritisch gesehen wurde. "Ich wünschte mir, dass das nicht verlacht wird. Manche reden nur noch darüber, dass das militärisch entschieden wird", sagt Stegner. Der vielfache Widerspruch, der ihm wegen seiner Rufe nach mehr Friedensdiplomatie begegnet ist, hat auch bei Stegner offenkundig Spuren hinterlassen.
Pistorius nimmt's leichter
Dass neben dem Militärischen alle Wege versucht werden müssten, den Krieg zu beenden, sei "ein seltener, historischer Moment" inhaltlicher Übereinstimmung, sagt Masala ironisch und schiebt nach: Das dürfe nicht zu oft vorkommen. "Keine Sorge!", versichert ihm Stegner. Mit der Einigkeit ist es dann auch schnell vorbei: Masala hat Zweifel, welchen Grenzverlauf Chinas Regierung meint, wenn sie von territorialer Integrität spricht: den Grenzverlauf von vor der Krim-Annexion 2014 oder den nach Russlands Annexion vier weiterer Regionen im Südosten der Ukraine im Herbst 2022? Auch beim Umgang mit nicht beteiligten Staaten widerspricht Masala den SPD-Politikern Stegner und Mützenich: Es gehe nicht allein um Friedensdiplomatie. Russlands Angriffskrieg beschleunige den "Konflikt um die zukünftige Ordnung des internationalen Systems", weshalb Deutschland die noch unentschlossenen Staaten umwerben müsse.
Auf frontale SPD-Kritik verzichtet Masala aber, er hat hier keine Rechnung zu begleichen. Eine Publikumsfrage zielt auf die Erzählung ab, die USA hätten in den vergangenen Jahren russlandfeindliche Kräfte in der Ukraine massiv unterstützt und somit Putin provoziert. "Egal, was vor dem 24.2. passiert ist: Nichts rechtfertigt den 24.2.", sagt Masala. Und: "Nichts rechtfertigt, einen anderen Staat anzugreifen und zu versuchen, seine Identität auszulöschen." Beide Sätze sollten auch führende Sozialdemokraten dahingehend beruhigen, dass weder Kritik an vergangener Politik noch Widerspruch zu jetzigen Positionen bedeutet, sie würden in eine Ecke mit Putin gestellt.
Der aus Niedersachsen mit seinem lange Zeit besonders Russland-freundlichen SPD-Landesverband nach Berlin gewechselte Pistorius spielt an diesem Abend viel freier auf als Stegner und Mützenich. Das mag auch daran liegen, dass er die nervenaufreibenden innerdeutschen Diskussionen des ersten Kriegsjahres von Hannover aus verfolgt hat. "Ich sage immer, alle sind gleich klug - die einen vorher, die anderen nachher", witzelt der Verteidigungsminister über die Vergangenheitsdebatte. Dann erläutert Pistorius, was die Ukraine und die Bundeswehr jetzt und in Zukunft bräuchten. Das mit der Klugheit mag sogar stimmen, aber die Menschen sind ungleich verletzlich. Wie verletzlich, hat ein an sonstigen Erkenntnissen armer Diskussionsabend im SPD-Fraktionssaal gezeigt.
Quelle: ntv.de