Politik

Rosenthal über Zeitenwende-Rede "Olaf Scholz hat schnell und mutig entschieden"

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Olaf Scholz und Jessica Rosenthal beim Bundeskongress der Jusos im November 2021.

(Foto: picture alliance/dpa)

Am Jahrestag von Olaf Scholz' Zeitenwende-Rede blickt die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal im Interview mit ntv.de zurück auf die historische Bundestagssitzung. Während Rosenthal die Waffenlieferung unterstützt, kritisiert sie das Sondervermögen für die Bundeswehr - und warnt die FDP, die Kindergrundsicherung zu kippen.

ntv.de: Vor einem Jahr - am Sonntag, dem 27. Februar - hielt Olaf Scholz im Bundestag seine Zeitenwende-Rede. Wir trafen uns unmittelbar danach in der Schlange des Bundestagsbistrots. Sie wirkten geschockt. Wie erinnern Sie sich an die Rede?

Jessica Rosenthal: Diese einmalige Sondersitzung des Bundestages wird mir immer in Erinnerung bleiben, genauso wie der 24. Februar. Ich war geschockt über die Aggression, über das Leid; darüber, dass Putin bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Ich fand die Entscheidung, Waffen zu liefern, die Olaf Scholz sehr schnell getroffen hat, immer mutig und richtig. Das wird ja gerne abgetan, gerade auch von der Union. Doch das war ein notwendiger, aber tiefer Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Von den Jusos und mir als Vorsitzender war von außen erwartet worden, dass wir die Lieferungen kritisieren. Mitnichten: Wir waren innerhalb der SPD unter den Ersten, die das begrüßt haben. Das ist eine imperialistische Aggression, gegen die sich das ukrainische Volk wehren können muss. Dafür braucht es natürlich auch Waffen.

Der Kanzler räumte in seiner Rede im Vorbeigehen linke SPD-Positionen ab. Deutschland solle das Zwei-Prozent-Ziel der NATO umsetzen, bewaffnete Drohnen und F-35-Kampfbomber zur atomaren Teilhabe anschaffen. Die Union jubelte. Und Sie?

Die Ankündigung der 100 Milliarden Sonderschulden hat mich schockiert. Nicht weil mehr Geld fürs Militär bei mir als linker Politikerin Abwehrreflexe auslösen würde, darum geht es nicht. Ich war schockiert, weil das eine immens hohe Summe ist, der keinerlei strategische Debatten darüber vorausgegangen sind, wie wir die Bundeswehr weiterentwickeln wollen. Zudem ist das sogenannte Sondervermögen Ausdruck eines extrem engen Sicherheitsbegriffs, der sich allein aufs Militär bezieht. Diese Kritik hatte ich schon im Moment der Ankündigung, ich habe sie danach deutlich formuliert und deshalb gegen das Sondervermögen gestimmt.

Sehen Sie die von Ihnen bemängelte Konzeptlosigkeit hinter dem Sondervermögen als Grund, warum die Ertüchtigung der Bundeswehr ein ganzes Jahr nach der Zeitwende-Rede kaum vorangekommen ist?

Ja, dieser Zusammenhang besteht. Verteidigungspolitiker*innen sowie Bundeswehrangehörige mögen sagen, dass die Bedarfe ja offensichtlich sind. Das gilt für Bereiche, in denen man zu lange von der Substanz gelebt hat. Als Bundestagsabgeordnete ist es mir peinlich, dass die Angehörigen unserer Parlamentsarmee Ausrüstungsgegenstände mit eigenem Geld kaufen müssen, vernünftige Rucksäcke zum Beispiel. Völlig klar, dass wir da investieren müssen. Dafür braucht es auch keine Konzeptpapiere, sondern ein effizienteres Beschaffungswesen. Wenn es aber um Waffensysteme geht, möchte ich schon wissen: Welche Aufgabenteilung und Synergieeffekte sind in NATO und EU angedacht? In was für Kriegsszenarien planen wir? In welchem Verhältnis steht unser Land zur Rüstungsindustrie?

War der Kriegsbeginn aus Ihrer Sicht schlicht ein Gelegenheitsfenster, Waffensysteme durchzusetzen, die die Parteilinken bei SPD und Grünen bis dahin verhindert haben?

Die Forderung nach gemeinsamen Konzepten mit unseren Bündnispartnern zielt auf grundsätzliche Fragen und geht über ein einfaches "Kampfdrohnen: ja oder nein?" hinaus. Die Jusos und ich wollen eine bessere Ausstattung für die Soldat*innen. Wir stellen aber die Frage nach der Idee hinter den Ausgaben. Und natürlich fragen wir, wie viel Automatisierung wollen wir als Gesellschaft im Krieg? Wenn einige nicht einmal mehr die Notwendigkeit von Debatten über moralische und strategische Implikationen sehen, halte ich das für eklatant falsch. Einfach Gelder bereitzustellen und dann zu gucken, was wir davon kaufen können, habe ich als Bildungspolitikerin noch nie erlebt.

Verengt sich der Debattenraum durch eine gewisse Begeisterung über den gerechten Krieg, den Deutschland in der Ukraine unterstützt?

In der Breite der Bevölkerung sehe ich das, auch ausweislich der Stimmung in den Umfragen, nicht. Wenn aber Kolleginnen und Kollegen im Bundestag Leopard-Emojis twittern, finde ich so eine Verniedlichung von Waffen und Krieg extrem falsch.

Diese Emojis versenden auch Politiker, die sich selbst als links verstehen. Hat dieser Krieg verändert, was politisch links ist?

Ich kann das nur für die Jusos beantworten. Wir haben uns viele kritische Fragen gestellt. Was heißt zum Beispiel Anti-Militarismus in Zeiten des Krieges? Das ist übrigens etwas anderes als Pazifismus. Als Jusos wissen wir, dass der Faschismus nie besiegt worden wäre, wenn die Alliierten Europa nicht mit Waffengewalt befreit hätten. Wir sind und waren also nie Pazifisten, sondern stehen nach wie vor zum Anti-Militarismus. Was folgt daraus aber für die eigene politische Haltung, wenn jemand wie Putin bereit ist, so viel Leid in Kauf zu nehmen und es für den Angegriffenen nur noch um Wehrhaftigkeit gehen kann? Unser Beschluss auf dem Juso-Bundeskongress Ende Oktober enthält deshalb auch Selbstkritik. Wir müssen uns als Linke viel ernsthafter mit der Bundeswehr befassen und dürfen sie nicht den Konservativen oder gar Rechtsextremen überlassen, weil die Armee in der Demokratie einen wichtigen Zweck erfüllt, wenn es darauf ankommt. Ich werde weiterhin deutlich sagen, dass rechtsextreme Strukturen und Verfassungsfeinde in der Bundeswehr bestehen und das in aller Härte kritisieren. Aber Diskussionen mit den vielen jungen Menschen in der Bundeswehr zu führen, das haben wir als Jusos zu wenig gemacht.

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Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag.

(Foto: picture alliance/dpa)

In dem Beschluss fordern Sie für kommende Konflikte Kriterien, nach denen Deutschland Waffen in Kriegsgebiete liefern kann. Folgt nicht schon allein daraus eine neue Aufrüstung? Im Ernstfall muss man die Waffen ja auch auf Lager haben, wie wir gerade schmerzlich feststellen.

Deutschland ist jetzt schon unter den fünf größten Waffenexporteuren der Welt, die Rüstungsindustrie ist also vorhanden. Die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen sie tätig ist. Wir halten eine Verstaatlichung der Waffenindustrie für notwendig, um sie kapitalistischer Verwertungslogik und Profitinteressen zu entziehen. Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine hat die Rüstungsindustrie nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Aber davor wurden Rüstungsgüter in alle Welt verkauft und haben dort Tod und Leid verursacht, für das mittelbar auch die Industrie verantwortlich ist, weil sie Geld machen wollte. Es geht also um die Bedingungen, unter denen Waffen produziert werden. Derzeit müssen wir Produktionskapazitäten in der Rüstungsindustrie ohne Frage ausweiten. Langfristig brauchen wir aber zwingend wieder die Perspektive der Abrüstung. Da hatte es in der Vergangenheit schließlich auch riesige Erfolge gegeben, sonst wäre ich große Zeiträume meines bisherigen Lebens nicht in Frieden groß geworden.

In Russland und China, zwei andere globale Waffenexporteure, dominieren staatliche Rüstungskonzerne. Friedlicher ist die Welt dadurch nicht.

Die Frage ist, ob man diese beiden Staatensysteme mit Deutschland gleichsetzen möchte. Ich halte das für einen abwegigen Vergleich. Wir sind eine offene Demokratie, die auf der Grundlage der Menschenrechte basiert. Staatliches Agieren wird und muss hier doch ganz anderen Standards folgen.

Der Juso-Beschluss fordert auch eine neue Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik, eine Abkehr von dem, was die Jusos Euro- und Westzentrismus nennen. Sehen Sie das angesichts der Reiseaktivitäten der Ampelminister, insbesondere nach Asien und Südamerika, schon auf den Weg gebracht?

Ich habe ganz klar den Eindruck, dass Olaf Scholz diese Perspektive teilt. Markus Söder hat in seiner Aschermittwochsrede beklagt, dass Olaf zu viel reisen würde. So viel Horizontbeschränktheit wie Herr Söder kann man sich in diesen Tagen nicht leisten. Bei anderen, als nicht westlich geltenden Staaten für Unterstützung für die Ukraine zu werben, ist eine der vordersten Aufgaben, wenn wir es mit unserer Solidarität ernst meinen. Das bricht ja mit Putins Propaganda, der zum Teil erfolgreich die Erzählung verbreitet, dass der Westen in irgendeiner Art einen Krieg gegen Russland führen würde. Deutlich zu machen, dass Deutschland partnerschaftliche Zusammenarbeit sucht und keine bipolare Welt mit den USA auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen Seite will, scheint mir das Allerwichtigste zu sein. Das versucht Olaf, auch indem er zum Beispiel Indonesien oder Senegal zum G7-Gipfel eingeladen hat. Wir können und müssen eine multipolare Weltordnung schaffen. Das ist Ziel und Vision der SPD. Klar ist aber auch, dass zu einer echten Loslösung vom Eurozentrismus und postkolonialen Strukturen sehr viel größere Schritte nötig sind, als nur für Partnerschaftlichkeit zu werben. Hier stehen wir optimistisch betrachtet erst ganz am Anfang.

Die Zeitenwende hat auch handfeste innenpolitische Folgen. Inzwischen werden sogar deutlich höhere Wehretats als die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts debattiert. Bundesfinanzminister Lindner zeigt sich dafür offen, verweist aber auf leere Kassen. Drohen sozialpolitische Projekte wie die Kindergrundsicherung unter die Räder der neuen Aufrüstung zu geraten?

Das Zwei-Prozent-Ziel ist ein Symbol, das ich in seiner Pauschalität fragwürdig finde. Da geht es gar nicht darum, was eigentlich nötig ist. Andere NATO-Staaten rechnen auch Komponenten wie Cybersicherheit und Bevölkerungsschutz mit ein. Und wenn wir es ernst meinen damit, dass wir Sicherheit schaffen wollen in der Welt, dann bedeutet das auch, dass Entwicklungszusammenarbeit ein wesentlicher Baustein einer Sicherheitsarchitektur ist. Jeder US-Dollar, den wir in Krisenprävention stecken, spart uns 16 US-Dollar, die wir in Wiederaufbau nach Konflikten stecken müssen. In die Entwicklungszusammenarbeit muss deshalb genauso viel Geld fließen wie in die Verteidigung, dieses Geld hilft uns Krisen zu verhindern.

Was bleibt da für Sozial- und Bildungspolitik übrig?

Das ist doch eine Frage des politischen Willens, nichts anderes. Ich finde nach wie vor in höchstem Maße problematisch, dass eine Partei Gesamtverantwortung für dieses Land in dieser Zeit übernimmt und sich auf parteipolitisch-ideologische Standpunkte festlegt. Wir haben eine Aufeinanderfolge von Krisen, was für viele - mich eingeschlossen - zum Teil hart zu ertragen ist. Aber diese Krisen sind da, wir haben sie uns nicht ausgesucht. Die Schuldenbremse sieht für solche Krisen Ausnahmen vor. Selbst wenn man nicht wie die Jusos die Schuldenbremse abschaffen möchte, kann man sie grundgesetzlich aussetzen. Und wenn man sich anguckt, wer in Europa alles von diesen Krisen profitiert hat, entspringt für mich eine einmalige Vermögensabgabe auch nicht einer linken Traumwelt.

Das heißt?

Das heißt, die Möglichkeiten, andere Dinge zu finanzieren, sind da. Ich sage ganz deutlich: Die Kindergrundsicherung ist für mich nicht verhandelbar. Es ist eine rote Linie für mich und für viele in der SPD. Und da muss ich dann auch sagen, ist ein Finanzminister dem Koalitionsvertrag verpflichtet und daran messe ich ihn. Und ich beurteile die FDP auch danach, inwiefern sie in dieser Zeit Verantwortung für das Land übernimmt.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte im "Frühstart" von ntv, die Sozialdemokraten seien bereit, über eine Erweiterung haushalterischer Spielräume zu reden. Die SPD hätte dabei die Grünen an ihrer Seite. Warum so zaghaft gegenüber dem kleinsten Koalitionspartner?

In einer Dreierkoalition müssen nun einmal alle zustimmen. Aber ich sehe das genauso: Aus meiner Sicht muss die SPD das zusammen mit anderen durchsetzen. Dabei geht es nicht nur um die Kindergrundsicherung. Die Absicherung und die Bildungschancen von Kindern sind genauso wie die notwendigen Investitionen eine Frage der Resilienz. Wir stärken damit unsere Gesellschaft für die Zukunft. Und ich glaube, auch die FDP ist der festen Überzeugung, dass wir die ökologische Transformation weiter ermöglichen müssen. Die finanziellen Spielräume hierfür sind vorhanden.

In Teilen der Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber der Ukraine-Politik und der Aufrüstung groß, während die Inflation vor allem niedrige Einkommen mit voller Wucht trifft und eine hohe Zahl an Geflüchteten auf unzureichende Infrastrukturen wie schlecht ausgestattete Schulen trifft. Was folgt aus dieser Gleichzeitigkeit?

Die Inflation bedeutet einen Reallohnverlust für viele, viele Menschen. Und das ist genau der Punkt, weshalb ich der festen Überzeugung bin, dass die SPD keine Kompromisse in diesen Fragen machen darf und kann. Wahrscheinlich hat noch keine Regierung so viel für Menschen getan, die unter 2000 Euro brutto verdienen, wie die Ampel. Der Respekt, den wir im Wahlkampf versprochen haben, war kein Slogan. Wir haben für unsere Leute, die ein kleines oder mittleres Einkommen haben, gekämpft und Dinge umgesetzt. Aber als Bildungspolitikerin sage ich auch: Wenn wir überall reinschreiben, dass unsere Kinder der Schatz der Zukunft sind, aber das nie damit hinterlegen, dass wir die Konzepte gegen Kinderarmut umsetzen, glaubt uns das doch niemand mehr. Die Kindergrundsicherung ist daher keine theoretische Frage, sondern sie ist akut und sie muss eine rote Linie der SPD sein.

Die SPD hat bei der letzten Bundestagswahl gerade mit Juso-Kandidaten zahlreiche Direktmandate in den neuen Bundesländern gewonnen. Im Osten fordern besonders viele Stimmen einen schnellen Waffenstillstand und kritisieren die Ampelpolitik wegen der Inflation als unsozial. Ist das SPD-Hoch im Osten schon wieder Geschichte?

Ich habe großen Respekt vor meinen Kolleg*innen, die sich immer wieder Demonstrationen entgegenstellen und erklären, warum das Völkerrecht gilt und die Ukraine sich verteidigen muss. Für die Menschen im Osten hat es sich gelohnt, SPD zu wählen, beispielsweise weil die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro hier für besonders viele Menschen eine Reallohnerhöhung bedeutet. Natürlich sind gerade in dieser Zeit mit massiv hohen Preisen 12 Euro immer noch zu wenig und vor allem müssten die Tarifabschlüsse viel höher sein. Auch die Kindergrundsicherung wird den Menschen mit niedrigem Einkommen helfen. Auch das 49-Euro-Ticket ist eine reale Entlastung. Sich das Vertrauen der Menschen - auch im Osten - immer wieder zu verdienen, bleibt unsere Aufgabe.

Mit Jessica Rosenthal sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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