
Kämpfer des "Russischen Freiwilligenkorps" griffen mehrere Ortschaften in der Region Belgorod an. In der Gruppierung sind Rechtsextreme aktiv.
(Foto: via REUTERS)
Eine große Gruppe schwerbewaffneter Männer dringt von der Ukraine aus in das russische Staatsgebiet und erobert mehrere Dörfer. 15 Monate nach dem Beginn des Angriffskriegs gegen das Nachbarland ist Russland zur Gegenwehr auf eigenem Staatsgebiet gezwungen. Was ist in der Region Belgorod passiert? Wer steckt dahinter? Und wem nützt die Aktion? Ntv.de beantwortet die wichtigsten Fragen zur Lage im russisch-ukrainischen Grenzgebiet.
Was ist passiert?
Am Montag soll eine große Gruppe schwer bewaffneter Soldaten auf gepanzerten Fahrzeugen von der Ukraine aus in das russische Staatsgebiet vorgedrungen sein. Dabei soll es Gebietseroberungen gegeben haben. Die Attacken haben zwei aus russischen Staatsbürgern bestehende Freiwilligenkorps, die auf ukrainischer Seite kämpfen, für sich reklamiert. Von der Legion "Freiheit Russlands" hieß es in einer Mitteilung am Montag, diese habe zusammen mit dem "Russischen Freiwilligenkorps" mehrere Dörfer unweit der ukrainischen Grenze "befreit". Die Kämpfer hätten zudem die Ortschaft Graiworon erreicht, die rund 6000 Einwohner zählt. Sie liegt rund 70 Kilometer östlich der Großstadt Belgorod und rund zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. "Es geht weiter. Russland wird frei sein", schrieben die Kämpfer.
Erst nach mehr als 30 Stunden haben die russischen Streitkräfte nach eigenen Angaben die angreifenden Truppen "blockiert und zerschlagen". Dabei seien "mehr als 70 ukrainische Terroristen, vier gepanzerte Fahrzeuge und fünf Geländewagen vernichtet" worden, sagte Militärsprecher Igor Konaschenkow.
Kurz zuvor hatte es auf dem Telegram-Kanal der Legion "Freies Russland" noch geheißen, die Kämpfer seien weiterhin in Russland und würden die "Befreiung" der Region Belgorod fortsetzen. "Die russische Armee konnte nichts gegen eine Gruppe patriotischer Freiwilliger unternehmen, die zu den Waffen griffen und sich nicht scheuten, offen gegen das Moskauer Regime für eine freie Zukunft Russlands vorzugehen", schrieben die Kämpfer. Durch den Angriff auf die Ukraine habe Russland "keine Reserven, um auf militärische Krisen zu reagieren", hieß es weiter. Alle Militärangehörigen seien tot, verwundet oder im Kampfgebiet in der Ukraine eingesetzt.
Wie reagieren die Behörden vor Ort?
Die Behörden in Russland sprachen von einem Angriff der "Vertreter ukrainischer Militärverbände". Nach Angaben des Gouverneurs der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, hätten "ukrainische Kämpfer" am Montagmorgen einen massiven Mörser- und Artilleriebeschuss auf den Ort Graiworon eröffnet. Der Ort selbst und mehrere umliegende Dörfer gerieten demnach unter Beschuss. Nach Angaben des Gouverneurs wurden dabei zwölf Menschen verletzt.
Die Behörden verhängten Terroralarm in dem Gebiet. Die Maßnahme sieht Personenkontrollen oder die Schließung von Fabriken vor, die gefährliche Güter wie Sprengstoff, radioaktive oder chemische und biologische Gefahrenstoffe produzieren. Wegen der Kämpfe ließen die Behörden nach offiziellen Angaben neun Dörfer evakuieren. Während der Evakuierung soll eine 81-jährige Frau gestorben sein, die in einem Bus unterwegs war. "Die Ursachen werden ermittelt", schrieb Gladkow auf Telegram. Der Gouverneur erklärte am Dienstagmorgen, die evakuierten Bürger sollten noch nicht nach Hause zurückkehren, da die Lage weiterhin unsicher sei.
Steckt die Ukraine hinter der Aktion?
Die Regierung in Kiew dementiert ihre Beteiligung an der Aktion. Die Ukraine beobachte das Geschehen interessiert, "ist aber nicht direkt daran beteiligt", twitterte der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak zu Wochenbeginn. Der ukrainische Militärgeheimdienst verwies darauf, dass die Legion "Freiheit Russlands" und das "Russische Freiwilligenkorpus" ausschließlich aus russischen Staatsbürgern bestehen würden. Geheimdienst-Sprecher Andrij Jussow sagte dem öffentlich-rechtlichen Sender "Suspilne", diese hätten "eine Operation zur Befreiung des Gebiets Belgorod vom sogenannten Putin-Regime begonnen", um einen "Sicherheitsstreifen" zum Schutz der ukrainischen Zivilbevölkerung zu schaffen. Diese Aussage legt die Vermutung nahe, dass die Regierung in Kiew über das Vorhaben der russischen Kämpfer zumindest informiert war.
"Diese Kämpfer kommen aus der Ukraine: Sie sind dort ausgerüstet, sie sind dort ausgebildet", sagte der russische ntv-Korrespondent Rainer Munz. "So kann Kiew natürlich sagen: 'Wir halten unser Versprechen ein, wir werden unsere Truppen nicht in das russische Staatsgebiet schicken'. Aber die Ukraine kann mithilfe dieser russischen Kämpfer doch auf russischem Gebiet kämpfen."
Wie reagiert der Kreml?
Der Angriff beweist nach Ansicht des Kremls die Notwendigkeit, den Krieg gegen die Ukraine fortzuführen. "Das bestätigt ein weiteres Mal, dass ukrainische Kämpfer ihre Tätigkeit gegen unser Land fortsetzen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Das erfordere Anstrengungen von Russland. "Diese Anstrengungen werden fortgesetzt wie auch die militärische Spezialoperation, um künftig solches Eindringen zu verhindern."
Was halten die USA davon, der größte Militärpartner der Ukraine?
Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, sagte bei einem Briefing am Montag, die USA würden den Einsatz ihrer Waffen auf dem russischen Staatsgebiet verbieten. "Aber ich denke, es ist wichtig, die Welt daran zu erinnern, dass Russland diesen Krieg begonnen hat und dass Russland weiterhin Zivilisten angreift", erklärte Miller. "Die Ukraine hat das Recht zu entscheiden, wie sie ihre militärischen Operationen durchführen will. Der Aggressor in diesem Krieg ist Russland", so der Sprecher des US-Außenministeriums.
Ist es das erste Mal in diesem Krieg, dass russisches Gebiet angegriffen wird?
Seit Beginn des von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es immer wieder auch zu Angriffen auf russischem Staatsgebiet. Anfang März sorgte ein Vorfall in einem russischen Dorf unweit der ukrainischen Grenze für Aufsehen. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hatte damals von Gefechten mit angeblichen ukrainischen Sabotagetrupps im russischen Grenzgebiet Brjansk berichtet. In einem Bekennervideo übernahmen später das "Russische Freiwilligenkorps" die Verantwortung für die Angriffe.
Der Kopf hinter der angeblichen "Sabotage-Aktion" soll Denis Kapustin gewesen sein, der das "Freiwilligenkorps" auch gegründet haben soll. Der Russe gilt als Neonazi. Die Ukraine distanzierte sich von dem Rechtsextremen und wies damals jede Verwicklung zurück. Bei der Aktion Anfang März sollen nur wenige Kämpfer teilgenommen haben. Der aktuelle Vorfall in Belgorod ist die bislang schwerste Attacke auf russisches Territorium.
Was sind das für Gruppen?
Das von Kapustin gegründete "Russische Freiwilligenkorps" (RDK) ist eine im August 2022 gebildete Einheit russischer Freiwilliger, die für die Ukraine kämpfen. Sie ist nicht Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kapustin kämpft offenbar nicht in vorderster Linie für die Befreiung der Ukraine, sondern gegen Putin. Und das laut dem kanadischen Experten für Rechtsextremismus, Michael Colborne, nur, weil er ihn durch jemand noch Schlimmeren ersetzen wolle. Die Regierung in Kiew bekennt sich nicht zu ihm und seiner Einheit. Es ist dennoch gut möglich, dass die ukrainische Militärführung sein Treiben zumindest duldet, weil es Putin und seinem Angriffskrieg schadet.
Die Legion "Freiheit Russlands" ist – anders als RDK - ein Verband der ukrainischen Streitkräfte. Die Legion besteht aus Überläufern der russischen Streitkräfte, russischen Freiwilligen und Kriegsgefangenen. An der Spitze des Verbandes steht nach eigenen Angaben Ilja Ponomarjow – russischer Oppositionspolitiker, der seit 2016 in der Ukraine lebt. Ponomarjow steht offenbar auch hinter der sogenannten Republikanischen Nationalen Armee, die die Verantwortung für die Anschläge auf prominente russische Kriegsbefürworter Daria Dugina, Wladlen Tatarski und Sachar Prilepin übernahm. Ponomarjow bestätigte dem britischen LBC Radio die Teilnahme der Legion an der Aktion in der Region Belgorod und sprach auch über sein Ziel: "Dieser Krieg wird nicht in der Ukraine enden, dieser Krieg kann nur in Moskau enden, wenn Putins Regime ersetzt wird."
Wie nützt die Aktion der Ukraine?
Angesichts der erwarteten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte vermuteten einige Beobachter, der Angriff auf das russische Gebiet könnte ein Ablenkungsmanöver der Ukraine sein, um russische Truppen an einem Ort zu binden, damit sie woanders fehlen. Tatsächlich sollen mehr als 4200 Soldaten und Dutzende Militärfahrzeuge zur Bekämpfung der Partisanen eingesetzt worden sein, berichtete die Zeitung "Nowaja Gaseta Ewropa" unter Berufung auf eine Quelle in russischen Streitkräften. Ob es der ukrainischen Armee an der Front in der Ukraine nützt, ist jedoch unklar.
Nach offizieller russischer Interpretation dient der Angriff in erster Linie dazu, die ukrainische und internationale Öffentlichkeit von der vermeintlichen Niederlage in Bachmut abzulenken. Russland will die Stadt im Donbass erobert haben, Kiew dementiert dies. Militärexperte Oberst Markus Reisner hält die russische Interpretation für glaubwürdig: "Niemand redet mehr über Bachmut. Das Ziel ist erreicht", sagte er ntv.de mit Blick auf die Vorfälle in Belgorod.
Wie nützt die Aktion dem Kreml?
Nach Einschätzung des britischen Geheimdiensts wird Russland die Vorfälle in der Region Belgorod dazu nutzen, sich als Opfer in diesem Krieg darzustellen. Die russische Propaganda und auch Kreml-Chef Putin hatten zuvor mehrmals behauptet, der Westen führe einen Krieg gegen Russland. "Russland wird diese Vorfälle mit ziemlicher Sicherheit nutzen, um das offizielle Narrativ zu untermauern, dass es das Opfer des Krieges ist", erklärte das britische Verteidigungsministerium in seinem täglichen Lagebericht.
Dass die Angriffe russischer Partisanen auf das eigene Territorium direkt zur weiteren Eskalation des Krieges führen, ist nach Einschätzung des Militärexperten Reisner nicht zu erwarten. "Es kann nur dann eskalieren, wenn sich Russland tatsächlich in die Enge getrieben fühlt – zum Beispiel durch massive Angriffe auf das eigene Territorium", sagte der österreichische Bundesheer-Oberst ntv.de. "Davor sind wir weit entfernt".
Quelle: ntv.de