Interview mit Anja Karliczek "Wissenschaft ist für die Gesellschaft ein Anker"
19.06.2021, 14:30 Uhr
Anja Karliczek ist seit 2018 Bundesministerin für Bildung und Forschung.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek will der Wissenschaft dabei helfen, Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu erklären. "Wenn wir wollen, dass die Gesellschaft die klimapolitischen Entscheidungen nachvollziehen kann, muss sie am Erkenntnisfortschritt teilhaben können", sagt die CDU-Politikerin. Angst davor, dass die Kommunikation von Wissenschaftlern dann die Politik zu stark unter Druck setzen könnte, hat sie nicht. "Ich bin sehr dankbar, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine engagierte Klimaschutzpolitik einsetzen."
ntv.de: Ihr Ministerium fördert die Entwicklung von Strategien für die Wissenschaftskommunikation, Sie haben ein Grundsatzpapier zum Thema vorlegt, in dem es heißt, das BMBF sehe sich "als ein Ermöglicher und Treiber von gesellschaftlichen Diskursen und der Vermittlung von Forschungserkenntnissen in die Gesellschaft". Was ist das Ziel dieser Initiativen?
Anja Karliczek: In der Corona-Krise haben wir gesehen, wie sehr die Wissenschaft den Menschen Orientierung bieten kann. Sie war für die Gesellschaft ein Anker. Das ist eine richtig gute Entwicklung. Mir war es schon von Anfang an als Bundesforschungsministerin ein großes Anliegen, dass Wissenschaft und Gesellschaft noch mehr in den Dialog kommen. Allein schon, weil die technologische Entwicklung immer schneller wird, wird auch die Notwendigkeit immer dringender, sich damit auseinanderzusetzen. Das gilt auch für den Klimawandel. Wenn wir wollen, dass die Gesellschaft die klimapolitischen Entscheidungen nachvollziehen kann, muss sie am Erkenntnisfortschritt teilhaben können.
Die Wissenschaft soll politische Entscheidungen erklären?
Nein, das muss die Politik schon selbst machen. Wissenschaft berät - Politik entscheidet. Aber Wissenschaft kann Hintergründe erklären und so die Entscheidungsprozesse verständlicher machen. Mir geht es noch um etwas anders. Viele Menschen sagen: Besser als heute kann es eigentlich nicht mehr werden. Wenn wir aber darauf schauen, woran heute geforscht wird, wissen wir: Vieles kann noch sehr viel besser werden - in der Medizin, durch die neuen Technologien, durch eine Veränderung der Arbeitswelt zum Positiven. Wir haben also Grund für Zukunftsoptimismus. Das ist auch wichtig für eine Gesellschaft. Und dazu können Wissenschaftler beitragen, wenn sie in den Austausch darüber gehen, woran und wie sie arbeiten und die Menschen am Erkenntnisgewinn teilhaben lassen.
Ist es nicht problematisch, wenn politische Akteure - in diesem Fall Ihr Ministerium - sich in die Wissenschaftskommunikation einmischen?
Als Ministerium sind wir zunächst einmal Förderer der Wissenschaft. Ein Großteil der deutschen Wissenschaftslandschaft wird von Steuergeldern bezahlt, allein das BMBF gibt in diesem Jahr fast 21 Milliarden Euro aus. Das ist eine Summe, die ja auch er erklärungsbedürftig ist. Nicht nur deshalb finde ich es auch wichtig, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Austausch gehen. Dabei nehmen wir jedoch keinerlei Einfluss. Die FactoryWisskomm, …
… die am kommenden Mittwoch, am 23. Juni, ihre Ergebnisse präsentieren soll, …
… ist ein Forum, das wir angestoßen haben, in das wir uns aber nicht einmischen. In der FactoryWisskomm haben in den vergangenen Monaten 150 Expertinnen und Experten der Wissenschaftskommunikation über Wissenschaftskommunikation diskutiert. Dabei ist klar: Die Kommunikation der Wissenschaft mit der Gesellschaft muss aus der Wissenschaft selbst herauskommen und organisiert werden. Aber natürlich ist auch uns daran gelegen, dass Wissenschaftskommunikation selbstverständlicher Teil wissenschaftlicher Arbeit wird und sogar zur Reputation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beiträgt. Das war in der Vergangenheit nicht der Fall - und auch heute ist es noch eher die Ausnahme. Antje Boetius, die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, hat mal gesagt, früher sei es mit Blick auf die wissenschaftliche Reputation geradezu hinderlich gewesen, wenn man sich als Wissenschaftlerin in eine Talkshow gesetzt und versucht hat, Erkenntnisprozesse verständlich zu erklären. Ich glaube, dass sich Forschende aber in einer Demokratie engagieren und in Debatten einmischen sollten. Wissenschaftskommunikation ist auch ein Beitrag gegen Fake News und Verschwörungstheorien. Das sehen sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile genauso.
Was waren die Themen in der FactoryWisskomm?
Da ging es auch um ganz praktische Fragen. Etwa: Wie und wann bringt man Wissenschaftlern am besten bei, wie Kommunikation in unserer Medienlandschaft funktioniert? Wir haben in der Pandemie ja erlebt, dass sie gerade in den sozialen Medien in schweres Fahrwasser geraten können. Und damit muss jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler erst einmal umgehen können. Aber auch die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus war ein Thema, denn auch Journalisten haben in der Kommunikation über Wissenschaft selbstverständlich eine ganz zentrale Rolle.
Die Physikerin Viola Priesemann hat im Mai im "Spiegel" gesagt, Öffentlichkeitsarbeit koste Zeit, und die brauche sie für ihre Forschung. "Ansonsten gibt es keine neuen Ergebnisse. Ich will ja nicht ständig dasselbe erzählen." Auch von anderen Wissenschaftlerinnen konnte man hören, dass die Kommunikation mit Medien und Öffentlichkeit anstrengend ist - gegen einige von ihnen liefen sogar regelrechte Kampagnen. Können Sie nachvollziehen, dass Forscherinnen und Forscher sich so etwas nicht antun wollen?
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Als Politikerin weiß ich, wie schwierig es ist, mit Botschaften durchzudringen. Für viele Wissenschaftler war die Pandemie das erste Mal, dass ihnen gewissermaßen im laufenden Betrieb über die Schulter geguckt wurde. Als das BMBF im März vergangenen Jahres seinen Förderaufruf zur Erforschung von Covid-19 veröffentlichte, wussten wir fast nichts über das Virus. Kein Vergleich mit heute. Umso wichtiger war es, dass Wissenschaftler - wie Christian Drosten mit seinem Podcast - die Menschen beim Erkenntnisgewinn der Wissenschaft wirklich mitgenommen haben. Er hat auch gezeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in Stein gemeißelt sind, sondern sich immer weiterentwickeln. Mir ist aber klar, dass öffentliche Kommunikation Zeit braucht und anstrengend ist. Aber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sollten sich dieser Aufgabe trotzdem stellen. Mit Menschen, über Wissenschaft und Forschung ins Gespräch zu kommen und deren Perspektiven aufzunehmen, sollten sie als Teil ihrer Mission ansehen.
Drosten hat in einem Interview darüber gesprochen, dass ihm vor der Pandemie gar nicht klar war, welche Rolle die false balance in der Öffentlichkeit und in den Medien spiele: Wenn eine Meinung von hundert Wissenschaftlern vertreten werde, eine gegenteilige These aber nur von zweien, dann werde in der medialen Präsentation einer von den hundert gegen einen von diesen zweien gestellt. Die Politik sage dann: "Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen." Trifft diese Darstellung aus Ihrer Sicht zu?
Ich habe früh in der Pandemie darauf hingewiesen, dass immer deutlich gemacht werden muss, was Mehrheitsmeinung ist und welche Positionen nur von einer Minderheit vertreten werden. Auch das gehört zu einer umfassenden Aufklärung der Öffentlichkeit. Das gilt auch für den Klimawandel. Auch dort ist es natürlich problematisch, wenn eine Außenseiteransicht so dargestellt wird, als wäre sie eine gesicherte Lehrmeinung.
In Großbritannien und anderen Ländern gibt es eine ständige Wissenschaftskommission, die die Regierung berät. Würde eine solche Kommission das Problem des false balancing nicht etwas entschärfen?
In Deutschland haben wir ja die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, zu deren Aufgaben die Beratung von Politik und Öffentlichkeit zählt. Seit Beginn der Pandemie haben sich die Bundesregierung und die Landesregierungen auch immer wieder zusätzliches Know-how geholt, von Christian Drosten, von Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, und von vielen anderen. Es war vielleicht eher ein Vorteil, dass diese Gruppe nicht starr fixiert wurde, so konnten auch immer wieder neue Stimmen angehört werden - wie die von Frau Priesemann.
Sie haben die Klimaforschung schon angesprochen. Viele Klimaforscher haben bis in die 1990er Jahre öffentlich noch sehr "wissenschaftlich" argumentiert, was teilweise so verstanden wurde, als seien ihre Ergebnisse noch gar nicht sicher. Wäre die Wahrnehmung des Klimawandels und damit auch die Klimapolitik eine andere gewesen, wenn Klimaforscher anders kommuniziert hätten?
Man muss dabei schon sehen, dass es genau darum geht: aufzuzeigen, was wir gesichert wissen und gleichzeitig klarzumachen, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert. Vor 30 Jahren gab noch keine letztlich gesicherten Erkenntnisse, dass sich der schon damals abzeichnende Klimawandel wirklich auf den Menschen zurückzuführen ist. Das hat sich aber schon vor langem geändert und heute ist die Sachlage völlig klar. Die Erkenntnis ist das Eine, die Umsetzung das Andere. Klimaschutzpolitik ist natürlich davon abhängig, dass sie von der Breite der Gesellschaft getragen wird. Seit Fridays for Future ist es deutlich einfacher, auch die Gesellschaft in ihrer Breite für eine engagierte Klimaschutzpolitik zu gewinnen.
Befürchten Sie nicht, dass Sie immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegenüberstehen, die so gut kommunizieren können, dass die Politik stärker unter Druck gerät, als es Ihnen lieb ist? Von den Scientists for Future etwa kommt nicht gerade ein Wahlaufruf zugunsten der Union.
Ich bin sehr dankbar, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine engagierte Klimaschutzpolitik einsetzen. Für die Union ist aber die Bewahrung der Schöpfung eine Verpflichtung und damit auch der Klimaschutz übrigens seit jeher ein zentrales Thema. Als Volkspartei führen wir dabei die unterschiedlichen Sichtweisen zusammen. Das ist Teil unserer DNA als Volkspartei. Und das ist auch anders als bei den Grünen etwa. Als Volkspartei haben wir die gesamte Breite der Menschen im Blick und wir wollen möglichst alle mitnehmen - die Jüngeren wie die Älteren, Stadt- und Landbevölkerung. Wir wollen Umweltschutz und Wirtschaftskraft stärken, nicht gegeneinander ausspielen. Für uns als CDU ist es undenkbar, einen Teil der Gesellschaft zurückzulassen.
Mit Anja Karliczek sprachen Hubertus Volmer und Clara Suchy
Quelle: ntv.de