Haft für Netanjahu und Hamas? Sollen sich doch Juristen um den Nahost-Wahnsinn kümmern


Auch keine Netanjahu-Freunde: In Israel bangen die Menschen weiter um die von der Hamas entführten Menschen - vor allem deren Angehörige.
(Foto: picture alliance / newscom)
Das Völkerrecht lädt zum Entspannen ein: Sollen die Gerichte das Chaos in Nahost regeln. Braucht dann noch wer Deutschlands nervige "Staatsräson"?
Etwas unübersichtlich alles, da in Nahost, aber wenn ich alles richtig mitbekommen habe, sind beide schuld: Israel und Hamas! Immerhin müssen, wenn alles glattgeht, sowohl Benjamin "Bibi" Netanjahu, sein Verteidigungsminister und ein Terror-Trio der Hamas in Den Haag vor den Strafrichter treten. So jedenfalls wünscht es sich der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs.
Man muss sich Karim Asad Ahmad Khan KC als einen zufriedenen Mann vorstellen und das liegt nicht nur am Zusatz "KC" für Kronanwalt. Ordinäre Staatsanwälte rufen vielleicht bei der "Bild" an, wenn mal irgendwo eine Hausdurchsuchung ansteht. Provinz-Medienarbeit! Ein Khan setzt sich zur wohl berühmtesten Journalistin des Planeten, Christiane Amanpour von CNN, in einen Sessel und berichtet von dort aus über die Haftanträge. Und zwar, da man gerade dabei ist, über beide in einem Rutsch: Israels Premier, Israels Verteidigungsminister und drei Hamas-Führungs-, naja, -persönlichkeiten: Gaza-Hamas-Chef Yahya Sinwar, Mohammed Deif, den Chef der Al-Qassam-Brigaden und Ismail Haniyeh, den politischen Kopf der Terrorgruppe aus Doha.
Auch auf der Webseite des Anklägers passt kein Blatt zwischen Staatsführung Israels und Hamas-Schlächter: Da trennt nur der kursiv gesetzte Name "Netanjahu" den islamistischen Terror von der israelischen Regierung.
Pflichtdurchnässt in die Schlamastik
Mich hat diese Medienarbeit ganz rasend gemacht, aber zu meinem größten Frösteln war ich damit in der Minderheit. Die Mehrheit hüllt sich in Rechtsfrömmelei: Ja, so ist das eben, gleiches Recht für alle! Es scheint alles so außerordentlich ordentlich, wie die Art, wie Agent Smith im ersten "Matrix" mit unendlicher Sanftheit Neos Akte von ihrer Fadenbindung befreit. So, dann wollen wir doch einmal sehen.
Unschön, wiederum: Wenn die beiden Israelis nach Deutschland reisen, kommt das Tätervolk pflichtdurchnässt in die Schlamastik, nach Recht und Gesetz zwei Juden festzunehmen, schon wieder, auweh! Aber was soll man machen, wir befolgen hier ja nur die Regeln, sagte, sinngemäß, der Sprecher des Bundeskanzlers.
Irgendetwas störte mich wahnsinnig an dem Manöver des Juristen Khan. Aber was denn eigentlich? Immerhin türmen sich haufenweise Argumente auf, an den Haftanträgen nicht herumzukritteln. Vor dem Recht sind ja alle gleich, tönt es allerorten und das ist ja nicht einmal falsch. Ich hatte auch nicht vergessen, dass der zu verhaftende Verteidigungsminister Yoav Galant immerhin Palästinenser mit Tieren verglich und drakonische Maßnahmen zur Abriegelung Gazas ankündigte. Hass ist ja kein Terroristen-Privileg.
Staat, Nichtstaat, egal!
Und ist nicht das Völkerstrafrecht an sich genial? Es ist ein mit den Nürnberger Prozessen gegen deutsche Nazis entwickelter Gegenentwurf zu Staatenwillkür, eine Impfung gegen organisierte Rechtlosigkeit, wie sie die vielen Jahrhunderte zuvor bestimmte. Das schönste denkbare Geschenk wäre doch ein Wladimir Putin, der beim Shoppen in einem Ratifizierungsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs aus der Boutique gezerrt und in niederländische Untersuchungshaft geworfen würde!
Gibt es denn durchgreifende juristische Zweifel an Khans Haftanträgen? Ganz evident ist die Lage nicht: Die Zuständigkeit eines eigentlich für Staaten zuständigen Völkerrechtsgerichts für einen bislang zweifellos nicht existenten Staat "Palästina" ist wackelig.
Eigentlich hat Israel zudem selbst eine funktionierende Justiz und ist daher nicht auf prinzipiell nur ergänzende völkerrechtliche Hilfestellung angewiesen. Der Oberste Gerichtshof wendet Recht immerhin auch auf die palästinensischen Gebiete an, einschließlich des Kriegsrechts. Das spricht normalerweise gegen ein Eingreifen internationaler Justiz - aber auch das, so sieht es aus, lässt sich offenbar überwinden, denn von nationalen Ermittlungen gegen Netanjahu und Galant ist nichts bekannt.
Endlich Ruhe im Karton
Was, bitte schön, sorgt also für mein Störgefühl? Vielleicht dies: Das sonst von der breiten Öffentlichkeit eher selten beachtete Völkerstrafrecht ist blitzartig zu einem Erlösungsversprechen angewachsen: Justitia packt die beiden Streitparteien jeweils in eine Waagschale. Der rechtschaffende Mann mit Arbeitsplatz in Den Haag zieht die Bengel an den Ohren in die stille Ecke, weil sie schon wieder das halbe Wohnzimmer zerlegt haben und man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Endlich Ruhe im Karton.
Der Generalanwalt hat durch seine Justiz-PR den Eindruck erweckt, dass israelische Kriegsverbrechen, die es womöglich gibt, auf einer Stufe stehen mit der Bestialität der Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober. Die in dieser Woche bekannt gewordene Gemeinschaftsvergewaltigung einer Frau durch ein Hamas-Mitglied, dessen Sohn und seinem Cousin samt anschließender Ermordung ist demnach dasselbe wie die kriegsrechtswidrige Abriegelung und Aushungerung der Zivilbevölkerung in Gaza. Klingt falsch, ist es auch.
Was mich aber vor allem stört, ist die deutsche Bequemlichkeit, die sich mit der Bekanntgabe der Haftanträge Bahn bricht: Wann immer die Justiz sich mit Israel beschäftigt, erhoffen sich manche Deutsche nämlich süße Entlastung von der lästigen Staatsräson, dem Solidaritätsschwur der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Knesset-Rede von 2008. Ruhe von den Juden und der alten Schuld, das ist die Verheißung aus Den Haag.
Mit Recht zwei Juden verhaften
Die Staatsräson ist vielen nicht geheuer. Der Direktor und Mitgründer des Global Public Policy Institute (GPPi), Thorsten Brenner, möchte sie sogar gleich ganz beseitigen und hat das im Februar mit durchaus hörenswerten Argumenten hergeleitet. Das Verständnis für Deutschlands im globalen Vergleich noch israelfreundliche Haltung lässt täglich nach. Von ganz linken Postkolonialisten und ganz rechten Revisionisten sickert die Unzufriedenheit ein, in der Mitte steht tapfer die CDU und hält der Staatsräson die Stange: Friedrich Merz nannte die vom Kanzlersprecher angedeutete Verhaftungsbereitschaft zu Recht einen "Skandal". Es war eine geradezu einsame Stimme.
Die naive Vorstellung, das Völkerstrafrecht spanne nun einen Reinraum auf, innerhalb dessen der Nahostkonflikt ohne eigene Haltung wie mit einer Registrierkasse ausgerechnet werden könnte, ist ein Wunschtraum. Der vom Chefankläger insinuierte "Bothsideism" führt dazu, dass Israels Regierungsmitglieder wie Hamas als zweifellos der Kriegsverbrechen schuldig hingestellt werden. Finden Kriegsverbrechen in Gaza statt? Vermutlich. Hat die israelische Regierung das so geplant? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist dies: Juden sind die wohl einzigen Menschen, deren blutige Massakrierung nicht etwa globales Mitgefühl, sondern noch mehr Gewalt auslöst: Judenfeindliche Übergriffe sind seit dem 7. Oktober explodiert. Antisemitismus ist eben ein extrem genügsames Unkraut: Was immer man draufkippt, ob Massenmord oder missverständliche Medienarbeit - es wuchert.
Unbedarft oder geschickt
Wenn ein Chefankläger also ohne Not den Eindruck erweckt, hier stritten moralisch gleichwertige Seiten, dann ist er entweder atemberaubend unbedarft - oder, was schlimmer wäre, außerordentlich geschickt. Er hätte schlicht den einen Haftantrag am Dienstag und den anderen am Donnerstag verkünden können. Er entschied sich anders.
Man mache sich keine Illusionen: Ein Grund, von deutscher Staatsräson abzurücken, ist weder ein Haftantrag, noch ein Haftbefehl, nicht einmal ein Strafurteil des Gerichtshofs und auch nicht ein Einschreiten des Internationalen Gerichtshofs. Israel ist mehr als die Summe seiner teils hasserfüllten, fundamentalistischen, womöglich kriminellen Regierungsmitglieder. Die Staatsräson bezweckt Israels Sicherheit, sie erfordert nicht Sympathie zu Netanjahu und seinen Leuten. Die Staatsräson muss bleiben, wo sie ist: auf unseren Schultern.
Quelle: ntv.de