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Purdy-Märchen, Super Bowl, Jesus Ein gottesfürchtiges Schneiderlein überrumpelt die USA

Brock Purdy von den San Francisco 49ers erzählte auf einer Medienrunde, was er von den Brüdern Grimm hält.

Brock Purdy von den San Francisco 49ers erzählte auf einer Medienrunde, was er von den Brüdern Grimm hält.

(Foto: picture alliance / Newscom)

Brock Purdy ist ein NFL-Superstar - doch wirkt mehr wie ein schüchterner Abiturient in der Bibelstunde. Der Quarterback der San Francisco 49ers wurde einst als allerletzter Spieler in die Liga gewählt, sein Super-Bowl-Märchen macht nun selbst die Brüder Grimm neidisch.

Es war einmal ein armer, junger Held, der seine körperliche Unterlegenheit durch Klugheit und Gewitztheit ausglich und sich durch mehrere Prüfungen als bereit für Größeres bewies. Klingt nach Märchen? Ist es auch.

"Das tapfere Schneiderlein" von den Brüdern Grimm aus dem Jahr 1812 ist eine typische David-gegen-Goliath-Geschichte, in der der Underdog durch Mut und Intelligenz obsiegt. Es ist ein Lehrstück für den Einsatz von Geist über Körper, Strategie über Stärke und Intelligenz über Einschüchterung. Doch bei näherer Betrachtung passt das Abenteuer hervorragend zum Endspiel um die NFL-Krone. Mit Brock Purdy - einem tapferen Außenseiter, der seine gesamte Karriere lang belächelt wird und nun die Liga überrennt - auf der einen, und dem Football-Riesen, dem einschüchternd wirkenden Seriensieger aus Kansas City, auf der anderen Seite.

Wie ein schüchterner Teenager und gar nicht tapfer wirkt der schmächtige Quarterback allerdings, als er am Dienstag im schwarzen Kapuzenpulli mit 49ers-Trikot darüber auf das kleine Podest im Hilton-Hotel in Las Vegas schleicht. Ein Körper, der einem 16-Jährigen gehören könnte. Die Haare akkurat geschnitten, kein einziger Bartstoppel im Gesicht. Mehr Abiturient als NFL-Star. Oder eher Bibelstundenschüler (dazu später mehr).

Purdy als krasser Gegensatz zu NFL-Stars

Leicht errötet Brock Purdy bei den ersten Fragen. Der 24-Jährige fühlt sich sichtlich unwohl vor dem Reporterheer. Sackt auf seinem Stuhl förmlich zusammen. Diesen Teil seines Jobs liebt er nicht, den anderen dafür umso mehr: Er ist der Quarterback der San Francisco 49ers und steht in seiner erst zweiten NFL-Saison mit seinem Team im Super Bowl. Am Sonntag geht es gegen den amtierenden Meister, die Kansas City Chiefs.

Doch Purdy ist für sein Alter extrem geerdet und bescheiden und macht sich nicht viel aus dem Rummel um seine Person. "Die Quintessenz ist, dass es im Leben nicht um dich geht", sagt er auf der Pressekonferenz zur Eröffnung des Super Bowls am Montag. "Das ist es, woran ich glaube. Ein Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst. Man verstrickt sich in den ganzen Ruhm und den Status, aber ich glaube, das ist ein oberflächliches Leben. Das kann ziemlich schnell verblassen."

Keine Ohrringe, kein Bling Bling, kein Cap auf dem Kopf. Purdy ist äußerlich und vom Typ her ein krasser Gegensatz zu anderen NFL-Stars und auch zu Patrick Mahomes. Der Superstar-Quarterback der Chiefs, der schon ein alter Hase ist und stets selbstbewusst, stylisch und locker rüberkommt. Purdy aber macht den Super-Bowl-Rummel zum ersten Mal mit.

Doch der junge Spielmacher übersteht nach 30 Minuten Fragensalven auch den Medienandrang. Genauso wie fast alle Schwierigkeiten auf dem Footballfeld. Die Massen lieben ihn dafür in den USA, bei der Eröffnungsfeier am Montag erhält er minutenlange Sprechchöre. Im Super Bowl will Purdy die erste Lombardi-Trophy der 49ers seit der Saison 1994 - und die sechste insgesamt - in die Höhe recken und das stolze Erbe der Quarterback-Legenden Joe Montana und Steve Young fortführen. Etwas, das ihm vor zwei Jahren niemand zugetraut hätte. Was ihm selbst jetzt viele nicht zutrauen.

Purdys Weg von Mr. Irrelevant zu Mr. Wichtig

Purdy ist der absolute Underdog, als er in die NFL kommt. Mehr "David" und Schneiderlein geht nicht. Denn kein Märchen ohne Hindernisse. Als "Mr. Irrelevant" wird er als allerletzter Spieler im Draft 2022 ausgewählt. Damals flippen er und seine Familie zu Hause vor dem Fernseher trotzdem komplett aus. Von diesem Moment an erhält Purdy zwar Aufmerksamkeit, aber wird in der Liga konsequent unterschätzt, schließlich ist er der "schlechteste" NFL-Profi seines Jahrgangs. Das bleibt selbst so, als er aufgrund der Verletzungen der beiden vor ihm stehenden Quarterbacks in die Startformation rückt und mit seinen 49ers erste Erfolge feiert.

Nun diese Teilnahme am Super Bowl, in seiner erst zweiten Saison, was einigen Nummer-eins-Picks in ihrer gesamten Karriere nie gelang. Mr. Irrelevant wird zu Mr. Relevant. Mr. Wichtig schreibt sein eigenes Grimm-Märchen, was ihm niemand jemals zugetraut hatte. Natürlich nicht. Auch jetzt, so kurz vor dem wichtigsten Spiel im US-Sport, wird der Youngster immer noch kritisiert. Spielmacher-Kollege Cam Newton sagt die Tage, Purdy sei nur "der zehnbeste Spieler der 49ers".

Hat Purdy nur Erfolg, weil das System von Coach Kyle Shanahan Quarterbacks gut aussehen lässt? Quatsch, die Chiefs um Mahomes setzen noch viel mehr auf die Würfe des Superstars. Weil er großartige Offensivspieler um sich herum hat? Geschenkt, diese haben etwa Quarterbacks wie Dak Prescott (Dallas Cowboys), Josh Allen (Buffalo Bills) und Lamar Jackson (Baltimore Ravens) ebenfalls. Und doch: Purdy hat schon jetzt mehr Super-Bowl-Teilnahmen in der Statistik als all die hochgehandelten Star-Quarterbacks zusammen.

Brüder Grimm passen zu Purdy

Körperlich ist Purdy Prescott, Allen und Jackson ähnlich wie das Schneiderlein komplett unterlegen. Auch an die Finesse und Agilität von Mahomes kommen seine 185 Zentimeter und 96 Kilo nicht heran. Doch tapfer und mutig, traut der 49ers-Quarterback sich stets, die schwierigen Pässe zu werfen. In kleine, enge Fenster. Mit hohem Fehlerrisiko zwar und bei stetiger Gefahr einer Interception. Doch meist hat er Erfolg, auch deshalb steht sein Team im Endspiel. Die "Sieben auf einen Streich" des Schneiderleins, in diesem Fall sieben Punkte, die es für einen Touchdown plus Zusatzpunkt gibt, sind ein Leichtes für Purdy. Wenngleich er sich das Mantra wohl nicht auf einen Gürtel eingravieren wird.

Überhaupt bekennt er auf Nachfrage von ntv.de in der Medienrunde am Dienstag, dass er von den Grimm Brüdern und ihren Märchen noch nie gehört hat. Jedoch kann er sich in der Geschichte des tapferen Schneiderleins durchaus wiedererkennen. "Seit der Highschool war ich nie der größte, schnellste oder stärkste, aber ich habe immer Wege gefunden, um zu gewinnen", erklärt Purdy. "Ich nutze meinen Kopf, ahne Dinge voraus, anstatt über Leute hinwegzuspringen oder den Ball 70 Yards weit zu werfen." Er glaube auch, dass er unter anderem unterschätzt werde, weil er eben aussieht, wie er aussieht "und nicht den stärksten Arm der Welt" hat.

Und so erarbeitete sich Purdy das Können, unter Druck extrem cool zu bleiben, was ihm gegen die bärenstarke Defensive der Chiefs helfen dürfte. Er besitzt ein hohes Maß an Spielintelligenz und Resilienz, streute etwa im Conference-Finale gegen die Detroit Lions überraschend abwechslungsreiche eigene Läufe ein, und wurde in diesen Playoffs zum Symbol für Cleverness, Tapferkeit und Durchhaltevermögen. Zweimal führte er seine Mannschaft von einem Rückstand noch zum späten Sieg. Gegen die Lions lag sein Team gar mit 17 Punkten hinten.

Schneiderlein Purdy liebt Einfachheit

Ferner zeigt Purdy, dass allein die Tatsache unterschätzt zu werden, eine Person besonders stark macht. Er hat aber noch eine andere Quelle der Stärke. Die nach seiner Aussage wichtigste seines Lebens: Gott. Der Spielmacher ist ungemein gläubig und spricht bei diesem Thema besonders ernst und überlegt, gibt lange Antworten. Er erzählt der Medienrunde, dass er sich in diesem Jahr vor allem mit Psalm 23 der Bibel beschäftigt hat. Der Herr ist mein Hirte. Für ihn bedeutet das: "Ich habe bereits alles, was ich brauche, vom guten Hirten und von Jesus." Die Einfachheit ist ein wichtiger Teil von Purdys Reise. Auch so überrumpelt er die USA, die aus der NFL nur Sensationsgier kennt.

"Ich habe nie versucht, mich fest an das Footballleben zu klammern", sagt Purdy, kurz bevor er endlich aus der Medienrunde fliehen darf. "Mal sehen, was Gott für mich auf Lager hat. Ich bin ihm treu geblieben und er hat mich an Orte gebracht, die ich mir nie hätte vorstellen können." Einer ist das Allegiant Stadium in Las Vegas.

Kann das tapfere NFL-Schneiderlein dort all die Prüfungen bestehen, die ihm die Chiefs auferlegen? Wer diese Möglichkeit angesichts der Verwandlung von Mr. Irrelevant zu Mr. Wichtig immer noch bezweifelt, sollte schleunigst zum Grimm-Gesamtwerk greifen.

Quelle: ntv.de

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