Was die Heim-EM bedeutet Die naive Idee vom "Sommermärchen 2.0"

Es ist angerichtet: Die Fußball-Europameisterschaft geht los.

Es ist angerichtet: Die Fußball-Europameisterschaft geht los.

(Foto: picture alliance/dpa)

Nun ist es endlich so weit: Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland beginnt. Das Turnier ist nicht nur von sportlicher Bedeutung, sondern auch politischer. Für das Land kann es eine große Chance sein.

Es sind nur etwas mehr als 1,7 Kilometer, doch Jens Spahn ist arg genervt. Direkt am Berliner Regierungsviertel darf auf der Straße des 17. Juni für drei Monate kein Auto mehr fahren. Das gefährde sogar die Arbeit des Parlaments, mahnte der CDU-Politiker unter der Woche. Dort, wo normalerweise Touri-Busse von Brandenburger Tor zur Siegessäule zuckeln, liegen jetzt 24.000 Quadratmeter Kunstrasen. Die Prachtstraße war während der Weltmeisterschaft 2006 der Ort, an dem das "Sommermärchen" geschrieben wurde. Und auch diesmal wird sie wieder zur Fanmeile.

Ab heute wird sie nun auch gebraucht, ab jetzt gilt: Fußball. Endlich. Es heißt immer, Vorfreude sei die schönste Freude, doch was, wenn es sie gar nicht richtig gab? Schon seit Wochen wird alles dafür getan, sie zu erzeugen, mit eingeschränktem Erfolg. Ein Thomas Müller aus Pappe lächelt einen an, während man Tomaten kauft. Die ersten schwarz-rot-goldenen Überzieher hängen wieder über den Außenspiegeln. Und wer jedes Mal etwas Alkoholisches trinken würde, wenn irgendjemand das Wort "Sommermärchen" sagt oder schreibt (Sorry!), die oder der hätte schon jetzt ein gewaltiges Problem.

Doch am Abend geht es endlich los. Keine Reden mehr, keine Vorfreude mehr: Die UEFA zündet eine gewaltige Pyro-Show in der Münchner Fußball-Arena, Heidi Beckenbauer, die Witwe des "Kaisers", trägt den Pokal ins Stadion, dann ist es so weit: Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland ist eröffnet. Das DFB-Team absolviert gegen Schottland das erste Pflichtspiel seit dem Debakel bei der Katar-Weltmeisterschaft (21 Uhr/ZDF, MagentaTV und im ntv.de-Liveticker).

Eine EM der Superlative

Bis zum 14. Juli heißt es dann für vier Wochen: "United by football. Vereint im Herzen Europas." Es wird eine EM der Superlative: Nach der Weltmeisterschaft 2018 in Russland, der Kontinental-EM 2021 und der Wüsten-WM 2022 in Katar könnte die Europameisterschaft das erste klassische Turnier seit 2016 in Frankreich sein.

Das Land steht vor einer großen Herausforderung. Die Heim-EM soll die "klimafreundlichste Europameisterschaft aller Zeiten" werden, wie es Bahn-Chef Richard Lutz formulierte. Auf den kriselnden Konzern kommt eine gewaltige Aufgabe zu: Keine der Mannschaften soll per Flugzeug reisen, Millionen Fans müssen quer durch das Land bewegt werden. Das Netz ist ohnehin schon am Limit, die zusätzliche Belastung trifft auf eine marode Infrastruktur. Erst nach dem Turnier beginnt dann die große Generalsanierung.

Die Erwartungen an das Turnier sind gewaltig, teilweise überzogen. Ein "Friedensfest" erwartet Außenministerin Annalena Baerbock. Kanzler Olaf Scholz hofft auf ein "Heimspiel für Europa". Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte dem "Kicker", das Land habe es verdient, "jetzt mal vier großartige Wochen zu haben". "Das Turnier findet zu einem Moment statt, in dem man ökonomisch sagen muss: Wir haben noch viele Herausforderungen, aber die gröbsten, ja existenziellen Herausforderungen der letzten zwei Jahre haben wir in den Griff bekommen."

Einer, der unermüdlich mit großen Worten für seine Vision kämpft, ist EM-Turnierdirektor Philipp Lahm. Egal, ob im Kanzleramt, an Gleis acht im Berliner Hauptbahnhof oder in Leitartikeln: Es sei "Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der Gesellschaft", schrieb Lahm im "Kicker". Die EM solle ein "Wendepunkt" werden: "Für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle. Dieses Turnier ist ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens, um künftig besser den Krisen und Konflikten trotzen zu können."

Eine gewaltige Chance

Es soll wieder so sein, wie im Sommer vor 18 Jahren, das ist die Vision. Der Sommer 2006, als die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand, hat in der kollektiven Erinnerung des Landes einen besonderen Platz. Es war das "Sommermärchen", die Welt zu Gast bei Freunden. In diesen vier Wochen überraschten sich die Deutschen selbst mit ihrer Gastfreundschaft, so lautet die allgemeine Erzählung.

"Ich war ein Teenager, saß in Gelsenkirchen stundenlang mit meinen Schulfreunden beim Public Viewing und war fasziniert davon, wie so viele Menschen aus so vielen unterschiedlichen Ländern glücklich zusammen sein konnten", sagte etwa Kapitän İlkay Gündoğan im "Spiegel"-Interview. "Diese Stimmung hat mir ein ganz neues Gefühl von Deutschland vermittelt." Toni Kroos erzählte jüngst, dass er selbst auch im "Fieber" gewesen sei. "Es ist unser aller Ziel, dass wir etwas auslösen können, mit unserem Fußball, mit unseren Ergebnissen."

Doch die Welt hat in den vergangenen 18 Jahren einen wilden Ritt hingelegt. Corona-Pandemie, Russlands Angriff auf die Ukraine, die Klimakatastrophe: Das sind nur einige Stichworte. Auch Deutschland wurde davon mitgerissen. Kurz vor dem Turnier wählten fast 16 Prozent bei der Europawahl die AfD, eine Partei, die in Teilen offen rechtsextrem ist. Und vor den Landtagswahlen im Herbst führt sie in den betroffenen drei Bundesländern die Umfragen an. Wenige Wochen zuvor grölten auf Sylt Menschen im Champagner-Rausch schlimmste fremdenfeindliche Parolen. Auch das war kein Einzelfall.

In der ARD lief im Vorfeld der Heim-EM eine Dokumentation des Journalisten Philipp Awounou. In "Einigkeit und Recht und Vielfalt" geht es um die deutsche Nationalelf, das "Sommermärchen" und Rassismus. Was jedoch vor allem hängengeblieben ist, das ist eine repräsentative Umfrage, die im Rahmen des Films durchgeführt wurde. Darin gab jeder fünfte Deutsche an, sich eine "weißere" Nationalmannschaft zu wünschen. Die Empörung zielte jedoch auf die Fragestellung an sich, nicht auf den zutage getragenen Rassismus.

Die Europawahl, die Landtagswahlen, die Sylt-Videos, die Umfrage: Kann man sich in diesem Klima wirklich unbedacht schwarz-rot-goldene Blumenketten um den Hals hängen? Vielleicht ist es naiv, immer wieder 2006 als Schablone für die kommenden vier Wochen hervorzukramen. Die Welt ist eine andere als vor fast 20 Jahren. Zumal eine Untersuchung mahnte, dass auch der "Party-Patriotismus" von damals ernste Folgen hatte.

"Eine neue Realität"

Und doch: Es gibt eine Hoffnung, die nicht unterschätzt werden sollte. Großereignisse können ihre ganz eigene Dynamik entwickeln, wenigstens für ein paar Wochen oder Monate. Sie können Menschen zusammenbringen. Vielleicht fällt beim Public Viewing auf, dass die Nachbarn doch gar nicht so blöd sind. Vielleicht melden Eltern ihre Töchter und Söhne nach dem Turnier beim Fußball an, weil die Kinder auch so dribbeln wollen wie Jamal Musiala und Florian Wirtz.

Es klingt pathetisch: Aber dieses DFB-Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann ist auch eine Vision, wie es sein kann. Es trägt pinkfarbene Auswärtstrikot nicht nur aus Marketinggründen, sondern auch als Zeichen für Vielfalt - und dann ausgerechnet gegen Ungarn. Es hat einen Kapitän mit Migrationsgeschichte. Er wolle das gar nicht so sehr betonen, sagte Gündoğan im "Spiegel"-Interview. Aber: "Ich weiß, dass es Menschen wie mich in Führungspositionen braucht, weil es eine neue Realität in Deutschland widerspiegelt", sagte er. "Wir sehen vielleicht anders aus, aber wir sind auch deutsch. Ich weiß, dass ich ein Vorbild sein kann." Es ist wichtig, was diese Mannschaft ausmacht und dass mit ihr ordentlich umgegangen wird - besonders bei Misserfolg. Dann kann das Hoffnung auf einen wunderbaren Monat voller Fußball und guter Laune machen.

Und wer weiß, vielleicht passiert ja auch das ganz große Wunder und bei der Bahn läuft für vier Wochen alles glatt. Dann wäre zumindest Jens Spahn nicht mehr auf das Auto angewiesen.

Quelle: ntv.de

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