Hat DFB-Trainer sich verzockt? Tränen, Emotionen und eine große Rede von Nagelsmann

Ausgerechnet vor wohl dem wichtigsten Spiel seiner Karriere stellt Julian Nagelsmann die Startaufstellung um. Es wirft Fragen auf, er korrigiert sich selbst. Das Aus im Viertelfinale der Heim-EM ist für alle aufwühlend, besonders aber für den Bundestrainer.

Es ist die klassische Nagelsmann-Pointe. Schon wieder droht alles zu emotional zu werden, wie schon im ARD-Interview direkt nach dem Abpfiff. Da hat er mit Tränen gekämpft, gerade kam er aus der Kabine. Bei der Pressekonferenz passiert ihm fast wieder das Gleiche. Die Spieler, sein Trainergespann, das Team hinter dem Team: All das sei großartig gewesen, alle hätten wahnsinnig viel investiert, erklärt Bundestrainer Julian Nagelsmann. Doch es hilft nichts: Trotzdem ist die Heim-Europameisterschaft für das DFB-Team vorbei. Mit 1:2 gegen Spanien, der Schock kam in der 119. Minute. Das Turnier ist im Viertelfinale beendet.

Zu früh, findet nicht nur der Bundestrainer. "Wir hätten es gerne eine Woche länger gehabt, um auch die Symbiose mit den Fans zu spüren", sagt er und meint das EM-Finale in acht Tagen. "Das Traurigste ist, dass so eine Heim-EM in meiner Karriere nicht wieder kommt, das tut weh und auch dass man zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird. Tut auch weh", sagt Nagelsmann. Moment. Weltmeister? Das Timing passt, die Pointe sitzt. Nagelsmann schaut hoch, scannt den Raum und schiebt hinterher: "Die Aussage gefällt euch, gell? Da werden die Augen groß." Jetzt lacht er wieder. Klar, natürlich wollen sie 2026 in den USA, Kanada, Mexiko auch Weltmeister werden.

Nagelsmann hat an diesem tragischen Abend viele bemerkenswerte Dinge gesagt. Über Fußball, aber auch über das Leben. Manchmal klingt er dann weniger nach Bundestrainer, sondern ein bisschen nach Bundeskanzler Nagelsmann. Er hoffe, dass diese Symbiose zwischen Fans und Team auch in der Gesellschaft stattfindet. "Das sollen die Jungs mitnehmen, dass ein Land, das (...) ständig in Tristesse und in Schwarzmalerei verfällt, dass sie es gemeinschaftlich geschafft haben, es ein bisschen aufzuwecken und ihm schöne Momente beschert haben." Im ZDF legte er dann nach und hielt ein Plädoyer für mehr Zusammenhalt, dass jeder in der Gesellschaft aufgenommen wird, dass alle gemeinsam Gasgeben für das Land.

Plötzlich Can in der Startelf

Der Bundestrainer hat sich selbst erst in die Position gebracht, dass er diese Dinge auch sagen kann. Er hat entscheidenden Anteil daran, dass die DFB-Elf überhaupt irgendwelche Emotionen auslöst. Bei Nagelsmann selbst sowieso, aber auch bei Fans. Im Stuttgarter Stadion war es trotz des langen Rückstandes gegen Spanien so laut, wie bei noch keinem deutschen Heim-EM-Spiel, teilweise ohrenbetäubend. Es war der letzte Beweis: Die Nagelsmänner haben etwas entfacht, was aus Sicht des Bundestrainers weit über den Sport hinausreicht. Er eröffnete immer wieder selbst den Vergleich: Mit den lustlosen Auftritten im November wäre das noch unmöglich gewesen.

Und eben das muss man ihm zugutehalten. Er hat dem Team selbst und auch vielen Menschen den Spaß an der DFB-Elf zurückgegeben. Die Auftritte bei der EM waren häufig mitreißend: der rauschende 5:1-Auftakt gegen Schottland, die Last-Minute-Explosion gegen die Schweiz, das Gewitter-Drama gegen Dänemark. Dass sich plötzlich wieder Leute für die Nationalelf interessieren, hat aber auch andere Nebeneffekte. Es heißt, dass die vielen Millionen Bundestrainerinnen und Bundestrainer, die in den Krisenjahren eingeschlafen sind, wieder wach werden.

Und so stellt sich nach diesem furiosen, teils wilden Viertelfinale die Frage: Hat sich Nagelsmann vielleicht doch verzockt? Kam Superjoker Niclas Füllkrug zu spät? Warum durfte "Connector" Thomas Müller erst in der 80. Minute ran? Bislang umschiffte Nagelsmann diese Art von Fragen weiträumig. Die DFB-Elf war noch zu fragil für Experimente, der Bundestrainer handelte deshalb vorsichtig. Er hat die Mannschaft nie überfordert, nicht zu viel auf einmal geändert. Diesmal wirkte es aber so, als hätte er den Bogen etwas überspannt und als hätte wieder der Taktiktüftler Nagelsmann übernommen, der in den vergangenen Wochen etwas versteckt wurde.

Er stellte vor dem Viertelfinale gegen Spanien entscheidend um. Die Rückkehr von Innenverteidiger Jonathan Tah war schon vorher klar. Fragezeichen hinterließ dagegen eine andere Entscheidung: Emre Can wollte Nagelsmann statt Robert Andrich den spanischen Ballkünstlern im Mittelfeld entgegensetzen. So mancher rieb sich bei der Verkündung der Aufstellung verwundert die Augen, schließlich war Can ursprünglich nicht im EM-Kader, rutschte nachträglich rein und spielt plötzlich im wichtigsten Spiel: Wie passt das zusammen?

Kroos grätscht, Nagelsmann stellt um

Die Idee dahinter zeigte sich schnell: Der BVB-Kapitän sollte die ballsicheren Spanier schon in deren eigener Hälfte beim Spielaufbau stören. Der Plan war höchst riskant, das hohe Pressing hatte zur Folge, dass Can dann hinten fehlte. Nagelsmann baute deshalb auf das Tempo des 30-Jährigen, so richtig hat das aber nicht geklappt. Vor der DFB-Abwehr klafften große Lücken, es war der Raum, in dem Can fehlte, weil er eben vorne war. Es zwang Toni Kroos überraschend häufig in Zweikämpfe. Bei Real Madrid machte er das schon öfter, im DFB-Team eher weniger.

Das Spiel war in der ersten Hälfte von viel Nervosität geprägt. Es gab viele Zweikämpfe, aber keinen Spielfluss. Und der Bundestrainer sah, dass sein riskanter Plan nicht so richtig aufgeht. Nicht nur wegen Can, der wirklich keinen glücklichen Tag erwischte, sondern auch wegen Leroy Sané, der wie schon gegen Dänemark für Florian Wirtz in die Startelf gerückt war. Besonders defensiv hatte der Tempodribbler zu kämpfen, immer wieder wurde er überlaufen. Auch wenn er sich Mühe gab: Manchmal reichte eine einfache Finte, um an ihm vorbeizukommen. Das machte das Leben für Joshua Kimmich, der hinter ihm spielte, nicht unbedingt leichter.

Nagelsmann vernahm das alles an der Seitenlinie, während er immer unzufriedener wurde. Er gestikulierte viel, schüttelte manchmal auch den Kopf. In der Pause korrigierte er sich deshalb. Er hat sich verzockt, ohne dass es aber schiefging. "Du musst Entscheidungen treffen als Trainer", erläuterte Nagelsmann später, "und dann triffst du in der Halbzeit neue Entscheidungen." Die Neubewertung ergab: Can und Sané blieben draußen, Robert Andrich und Wirtz kamen ins Spiel.

Wieder unter Starkstrom

Nur änderte es zunächst wenig: Besonders der Abräumer mit den pinkfarbenen Haaren brauchte, um ins Spiel zu finden. Andrich kam beim Gegentreffer zum 0:1 zu spät und traf den Ball an der Strafraumkante nicht richtig. Erst das Gegentor löste die Fesseln beim DFB-Team. Die Spanier wurden in dieser Phase immer passiver. Für die Wende sollte dann Superjoker Füllkrug sorgen, dessen Einwechslung mit wirklich lautem Applaus gefeiert wurde. Das Team spielte befreiter auf, erarbeitete sich Chance um Chance: ein Pfostenschuss, mehrere Kopfbälle, Kai Havertz, der einen schlampigen Abstoß abfing und aufs Tornetz lupfte. Und doch: Der Ausgleich fiel erst kurz vor Schluss. In der Verlängerung dann das gleiche Bild: Die DFB-Elf war das bessere Team, das Tor machten aber die Spanier - eben in der 119. Minute.

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Und Nagelsmann? Er war wieder unter Starkstrom, wie schon im Blitz-und-Donner-Achtelfinale gegen Dänemark. Wieder tigerte er durch die Coaching-Zone. Von links nach rechts -und wieder zurück. In der zweiten Hälfte krempelte er die Ärmel hoch. In der Verlängerung griff er immer wieder zur Wasserflasche, warf sie wieder weg, schob sie mit den Füßen beiseite. Irgendwann steckte er auch seinen Co-Trainer Sandro Wagner mit seiner Aufregung an, auch dieser stand plötzlich. Als Wirtz in der 105. Minute das 2:1 nur um Zentimeter verpasste, vergrub Nagelsmann sein Gesicht erst in den Händen, dann haute er sich immer wieder auf die eigene Hand. Die Szene schaute er sich ganz genau noch mal auf der Leinwand an, die über den spanischen Fans hing.

Dann der Abpfiff, die Niederlage. Die Emotionen und die große Rede - es ist ungewohnt, dass ein Bundestrainer, über den gesellschaftlichen Zusammenhang spricht und dermaßen leidenschaftlich ein Spiel miterlebt, dass er am Ende mit den Tränen kämpft. "Wir können uns Szenen von den letzten Turnieren anschauen", sagt er später auf der Pressekonferenz. "Da gab es keine einzige Szene, wo die ganze Bank stand." Auch, weil er es anders als seine Vorgänger vorlebt.

Quelle: ntv.de

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