
Die letzte Minute dauerte 14 Minuten.
(Foto: AP)
Das 2:1 von Saudi-Arabien gegen Argentinien am dritten Tag der Fußball-WM in Katar ist eine der größten Sensationen der Turniergeschichte. Über 51 Minuten in der zweiten Halbzeit verteidigen die Außenseiter ihren Vorsprung. Im Königreich Saudi-Arabien gibt es kein Halten mehr.
Die letzte Minute dauert 14 Minuten. Die allerletzte Minute noch einmal zwei Minuten. Argentinien wirft alles nach vorne. Immer wieder segeln lange Bälle von der Mittellinie in Richtung Strafraum, immer wieder steht dort ein Saudi. Der Jubel der Fans schwillt immer mehr an, niemand sitzt mehr, an der Seitenlinie steht das gesamte Team, dann ist es vorbei. Schiedsrichter Slavko Vincic pfeift das Spiel ab.
Menschen fallen sich in die Arme, ein Argentinier im Messi-Trikot gratuliert auf der Tribüne, auf dem Platz sinken ein paar Spieler auf den Boden. Der echte Lionel Messi ist nur noch eine tragische Randfigur. Die Zuschauer im randvollen Lusail-Stadion haben soeben einen Fehler im System gesehen. Saudi-Arabien schlägt den großen Titelfavoriten Argentinien mit 2:1 (0:1) und schreibt WM-Geschichte.
"Wir haben uns in der Halbzeit noch einmal richtig angefeuert", sagt der überragende Innenverteidiger Hassan Al-Tambakti. Der 23-Jährige hat das Spiel seines Lebens abgeliefert, sich in jeden Schuss geworfen, jeden Zweikampf gewonnen und danach mit lauten Schreien und Gesten zelebriert. "Wir haben gegen den besten Spieler, der jemals dieses Spiel gespielt hat, gewonnen. Und dann gegen den Titelfavoriten. Es ist ein großer, großer Boost für uns", sagt Salah Al-Sheri, der mit seinem Treffer zum 1:1 kurz nach der Halbzeit den WM-Schock einläutet. "Saudi-Arabien kann weit kommen, ganz weit."
Drei Tore und keins davon zählt
Der haushohe Außenseiter ist vollgepumpt mit Adrenalin, Euphorie und Emotionen. Ziemlich genau 51 Minuten lang haben sie in den letzten 45 Minuten ihre Führung verteidigt. Sich immer weiter in einen Verteidigungsrausch gesteigert, immer mehr an ihre Chancen geglaubt, obwohl Argentinien sie einschnürt, erdrückt und in minutenlangen Angriffsphasen zu einem Torerfolg kommen will.
Die Sensation entsteht nicht aus dem Nichts. Sie baut sich ganz langsam auf. Die erste Halbzeit gehört den Argentiniern, die Saudi-Arabien immer wieder überfordern. Mit einfachen Bällen hinter die Kette, mit Spielverlagerungen, mit schnellen Bewegungen im Mittelfeld kommen sie in gute Positionen. Nach Lionel Messis frühem Treffer zum 1:0 ist das Spiel eigentlich schon beendet. Doch die ersten 45 Minuten stecken voller Andeutungen. Mit der ersten Aktion des Spiels pariert Torwart Mohammed Al-Owais einen feinen Messi-Schlenzer, für ein paar Minuten zwischen der 10. und 20. Spielminute gelingt es dem Außenseiter, das Spiel in die Hälfte der Argentinier zu tragen.
Dann fallen drei Abseitstore - einmal Messi mit dem Kopf und zweimal Inter-Stürmer Lautaro Martinez. Bis auf einen Treffer sind es knappe Entscheidungen, aber sie stehen. Argentinien wiegt sich in Sicherheit. Eigentlich führen sie hier 4:0. Zudem scheidet Saudi-Kapitän Salman Al-Faraj praktisch mit dem Pausenpfiff verletzungsbedingt aus. Was soll da schon passieren?
Sechs Verwarnungen in der Schlussphase
Alles! Erst lässt Al-Sheri seinen Gegenspieler Cristian Romero stehen und schiebt aus spitzem Winkel an Damian Martinez vorbei, dann zaubert Salem Al-Dawsari. Er lässt nach einer missglückten Abwehr von Romero mehrere Spieler im Strafraum stehen und legt den Ball gefühlvoll von der Strafraumecke in den langen Winkel. Was für ein Tor. In nur fünf Minuten ist das Spiel gekippt. Drei Minuten später grätscht Al-Tambakti gegen Messi. Der Weltstar kommt an dem Verteidiger von Al-Shabab nicht vorbei.
Wenn doch einmal ein Argentinier durch die Linien kommt, ist im Tor Al-Owais schon da. Gegen Nicolas Tagliafico klärt er in der 63. Minute aus drei Metern. Kopfbälle des eingewechselten Julian Alvarez und von Messi sind für ihn an diesem Tag nur leichtes Training. Einmal gibt er den Manuel Neuer, verlässt den Strafraum und holt sich den Ball vor dem heranstürmenden Martinez. Die Argentinier, die in der ersten Halbzeit noch so organisiert sind, agieren kopflos, hektisch, werfen alles und jeden nach vorne. Dreifachwechsel in der 59. Minute, dann noch ein Wechsel.
Die Saudis kassieren Gelbe Karten. In der 67. Minute stehen sie bei null Gelben Karten, bei Spielende sind es sechs. Acht Spieler stehen zeitweise in einer Linie am Strafraum, machen alles dicht. Argentinien findet keinen Weg. Sie beginnen, um einen Punkt zu kämpfen und nicht mehr um den Sieg. Torhüter Al-Owasi kennt keine Freunde mehr. In der fünften Minute der Nachspielzeit räumt er Mitspieler Yasser -Sharani ab. Der muss mit Verdacht auf Gehirnerschütterung vom Platz. Das alles interessiert nicht mehr, als die letzte Minute nach 14 Minuten endet.
Auf Kurs "allerschlechteste WM"
Auf dem Weg aus dem Stadion liegen sich die Fans der Saudis in den Armen, sie lachen, präsentieren ihre Fahnen, vereinzelt sind auch Frauen in traditionellen Gewändern zu sehen. "Deutschland ist so viel stärker als Argentinien", sagt einer: "Gegen die haben wir 0:8 verloren." Aber 2002 hatte Deutschland auch Carsten Jancker im Sturm, Argentinien hat 20 Jahre später eben nur Lionel Messi.
Die Fußball-Weltmeisterschaft ist jetzt endgültig in Katar ankommen. Nach dem desaströsen Auftakt für Gastgeber Katar hat der große Nachbarstaat die Region nun elektrisiert. Ein Weiterkommen der Saudis wird dieses Turnier auch in dem kleinen Emirat noch einmal neu aufladen. Ein plötzlich denkbares Aus Argentiniens jedoch eine Katastrophe. Rund 80.000 Argentinier sollen in Doha sein. Bricht der FIFA auch noch dieser Markt weg, steuert das Turnier endgültig auf Kurs "Allerschlechteste WM der Geschichte". Gianni Infantino wäre nicht begeistert. Freuen wird es ihn sicher für seinen Kumpel Mohammed bin Salman, den saudischen Kronprinz, mit dem er sich erst jüngst bei der Eröffnungsfeier der Weltöffentlichkeit präsentiert. Doch an diesem Tag, an dem der Fußball nach Katar kommt, rückt auch das kurzzeitig in den Hintergrund.
"Als allererstes möchte ich den Fans danken, dass sie gekommen sind, und ich hoffe sehr, dass sie gut in ihre Hotels oder in ihr Zuhause kommen", sagt Stürmer Al-Sheri: "Wir brauchen sie noch. Wir haben noch zwei Spiele mehr und wir sind auf ihre Unterstützung angewiesen." Das Lusail, das Final-Stadion, haben sie bereits zu einem Heimspiel werden lassen.
Die Fans der Albiceleste, der Himmelblauen, haben ihnen wenig entgegenzusetzen. Dabei sind auch sie unfassbar laut. Doch nicht so laut wie der TV-Kommentar auf Saudi Sports, wo in der Übertragung ein Public Viewing abgefilmt wird. Achtmal stößt der Kommentator "Allahu Akbar" aus, und schon wenig später öffnet der Chef der saudischen Unterhaltungsbehörde, der einflussreiche Sportfunktionär Turki al-Schaich, die Tore zu drei Vergnügungsparks. Eine der größten Sensationen der WM-Geschichte muss ja gefeiert werden.
Quelle: ntv.de