Fußball

Katars LGBTIQ+ in Angst "Als würde ich von innen heraus sterben"

Faisal ist für das Interview nach Europa gereist.

Faisal ist für das Interview nach Europa gereist.

Faisal ist eine trans Frau. Für Faisal ist das ein Problem. Denn sie kommt aus Katar und führt im Wüstenstaat ein Leben in ständiger Angst. Denn Menschen der LGBTIQ+-Bewegung werden im Emirat, das in diesem Winter die Fußball-WM ausrichtet, nicht geduldet. Sie sind der ständigen Gefahr ausgesetzt, polizeiliche und behördliche Willkür zu erleben. Den RTL/ntv Reportern Jonas Gerdes und Timo Latsch ist es erstmals gelungen, mit Homosexuellen und trans Menschen aus Katar vor der Kamera zu sprechen und die erschütternden Einblicke in den Alltag zu dokumentieren. Um offen über ihre bedrückende Lebenssituation reden zu können, ist Faisal für das Interview nach Europa gereist, an einen geheimen Ort.

RTL/ntv: Faisal, Sie haben erzählt, dass Sie sich anders fühlen, wenn Sie hier sind und nicht in Ihrer Heimat Katar. Können Sie kurz beschreiben, was genau sich für Sie anders anfühlt?

Faisal: Es fühlt sich einfach gut an, tragen zu können, was auch immer ich anziehen möchte und mich öffentlich zu präsentieren ohne Angst zu haben, von Zivilisten attackiert oder von Behörden beschuldigt zu werden, gegen ethnische Normen und die kulturellen Gegebenheiten zu verstoßen.

Wann haben Sie eigentlich in sich gespürt, dass sie eine trans Frau sind?

Ich habe es schon immer gewusst. Aber ich wurde mir dessen erst bewusst, als die Leute mir sagten, ich solle mich nicht so verhalten oder ich sollte anfangen, mich mehr wie ein Mann zu verhalten oder mehr wie ein Mann zu reden und aufzuhören, über bestimmte Themen zu sprechen. Sie sagten "hör auf, so anders zu sein". Während meiner Kindheit in Katar wurde ich in der Schule gehänselt.

"Rote Karte statt Regenbogen - Homosexuelle in Katar"

Die Reportage "Rote Karte statt Regenbogen - Homosexuelle in Katar" zeigt RTL in einem Nachtjournal-Spezial in der Nacht auf den 23. Juni um 0:20 Uhr, im Rahmen der "Woche der Vielfalt". Erste Auszüge der Reportage von Jonas Gerdes und Timo Latsch zeigt RTL Aktuell am Mittwoch, den 22. Juni ab 18:45 Uhr. Am Donnerstag, den 23. Juni, zeigt ntv die Reportage ab 15:35 Uhr. Auch bei ntv.de und RTL+ ist sie abrufbar.

Nachdem Sie realisiert haben, dass Sie sich verändern wollten, wem haben Sie davon erzählt?

Ich begann mit meiner Mutter. Ich erzählte ihr davon. Und ich sprach mit anderen weiblichen Familienmitgliedern. Sie waren alle sehr abweisend. Sie sagten mir: "Warum solltest du eine Frau sein wollen? Ein Mann zu sein, ist viel einfacher und du solltest aufhören, solche Dinge zu sagen", oder "Du solltest dich wie ein Mann verhalten."

Konnten Sie Ihre Familienmitglieder überzeugen? Konnten Sie Ihre Situation erklären und für ein wenig Verständnis sorgen oder führten diese Gespräche zu einem Bruch mit der Familie?

Ich habe versucht, mit ihnen zu reden und mich ihnen zu öffnen. Sie waren sehr abweisend. Wenn andere Leute über mich redeten, hatten sie das Gefühl, dass ich sie beschäme. Deshalb sagten sie mir, ich solle aufhören so zu handeln und dass ich ihnen Schande bringe. Ich fühlte mich dann schlecht für etwas, was ich nicht getan habe. Ich wurde beschuldigt, etwas falsch gemacht zu haben, obwohl das nicht meine Absicht war.

Wie fühlt sich Ihr Leben an? Wie ist es beispielweise bei der Arbeit, im Supermarkt oder bei anderen Aktivitäten draußen, wenn Sie sich wie ein Mann kleiden?

Ich bin besser darin geworden, zu wissen, wie man sich auf eine bestimmte Art und Weise kleidet. Ich verursache also keine unerwünschte Aufmerksamkeit. Die Art und Weise, wie ich mich jetzt zu Hause präsentiere, ist nicht mein wirkliches Ich. Es fühlt sich so an, als würde ich schauspielern und als wäre ich nicht ich selbst. Aber nach einer Weile verliere ich den Kontakt zu meiner Identität und zu dem, was ich bin. Und dann werde ich einfach … Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es fühlt sich einfach so an, als würde ich langsam von innen heraus sterben. Und ich wäre nicht der, der ich wirklich bin. Ich fühle mich wie eine leere Hülle.

Andere Menschen aus Katar, mit denen ich über dieses Thema spreche, beschreiben ähnliche Gefühle. Sie fühlten sich eingeschlossen und erzählten auch von psychischen Problemen.

Ja, definitiv. Es ist keine sehr gute Umgebung für die psychische Gesundheit, wenn dir in einem sehr jungen Alter gesagt wird, dass das, was du tust, Scham bringt und was du tust, falsch ist, obwohl du nichts anderes tust, als nur du selbst zu sein. Also musst du so tun, als wärst du jemand anderes. Und wenn du das dann tust, bist du entweder unglücklich oder es ist nicht sehr erfolgreich. Es dauert nicht sehr lange, dann versuchst du wieder, du zu sein, wer du wirklich bist. Ich habe Katar verlassen, um meinen Bachelor zu machen. Ich dachte, ich werde nie wieder zurückkommen. Aber dann kam ich zurück, und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich überhaupt dort sein wollte. Ich fühlte mich, als würde ich mich zurückentwickeln, indem ich an den Ort zurückkehrte, an dem ich versuchte, meiner gesamten Jugend zu entkommen. Also fing ich an, viel zu trinken, entwickelte mich sogar zum Alkoholiker.

Welche Art von Diskriminierung haben Sie erlebt?

Ich wurde in der Schule diskriminiert und als ich älter wurde, passierte es mir auch an öffentlichen Orten. Also versuchte ich, so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zu sein oder zumindest nicht allein in die Öffentlichkeit zu treten. Das Schlimmste ist, wenn ich reise und dann nach Katar zurückkomme und durch den Zoll muss. Das sind die gruseligsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Sie zwingen mich, meinen Koffer zu öffnen und durchsuchen alle meine persönlichen Sachen. Sie fragen mich, warum ich Frauen-Klamotten und Make-up besitze. Auch wenn ich ihnen sagen würde, dass der Besitz von Frauenklamotten als Mann nicht illegal ist und nicht vergleichbar mit Drogenschmuggel ist, würden die Zollbeamten darauf beharren, dass ein Mann mit Frauenklamotten in Katar gegen das Gesetz verstößt. Selbst wenn ich argumentieren würde, dass die Klamotten nicht meine sind, würden sie mir sagen, dass sie mich mit auf die Polizeiwache nehmen und mein Handy durchsuchen. Sie bringen Menschen in eine Situation, in der sie nicht mehr argumentieren können. Ich müsste betteln, damit sie mich gehen ließen. Dadurch bekommen sie ein Gefühl der Macht.

Können Sie sich an die Situation auf der Polizeiwache noch genau erinnern?

Sie gingen durch meine persönlichen Gegenstände. Sie fanden etwas, das ihrer Meinung nach illegal war. Ich wurde zur Polizeistation gebracht. Die Art, wie sie die Situation gehandhabt haben, war sehr unprofessionell. Sie wollten mich lediglich demütigen. Ich wusste nicht, was los war. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, wie lange ich dort bleiben würde. Sie spielten nur mit mir. Selbst wenn ich versuche, darüber nachzudenken, erinnere ich mich nicht, weil ich viel von dieser Erfahrung blockiert habe. Am Ende ließen sie mich ein falsches Geständnis unterschreiben, dass ich nie wieder tun würde, was ich getan habe. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich das Gesetz überhaupt gebrochen habe. Die Gesetze sind sehr unklar, alles kann also illegal sein.

Apropos Strafen. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind illegal und sie werden in der Theorie mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. Wie laufen die Bestrafungen wirklich ab? Ich habe sogar von Leuten gehört, die den Kopf rasiert bekommen haben.

Bezogen auf den ersten Teil: Ja, homosexueller Sex ist strafbar, allerdings muss man auf frischer Tat ertappt werden. Ohne Zeugen kann man Sie nicht einfach bestrafen. Aber bezüglich der zweiten Frage, in der Sie erwähnt haben, dass die Polizei den Leuten die Köpfe rasiert, das ist mir tatsächlich einmal passiert, weil ich mit ein paar Freunden in einem Einkaufszentrum unterwegs war und jemand uns gemeldet hat. Sie haben uns angezeigt, weil sie homophob waren. Als meine Freunde später gingen und ich alleine im Einkaufszentrum war, kam die Polizei. Sie wollten wissen, wo meine Freunde waren, aber ich erzählte ihnen, dass ich diese Personen vor dem Einkaufszentrum kennen gelernt hätte. Die Polizisten beschuldigten mich mehrerer Tatbestände, wie tanzen und anderer Dinge, die ich nicht getan habe. Sie brachten mich zur Polizeiwache und rasierten meinen Kopf. Nach ein paar Stunden ließen sie mich gehen.

Wie haben Sie sich in dieser Situation gefühlt?

Zu der Zeit, als es passierte, verlor ich jegliche Hoffnung in das System. Diese Menschen sollen uns beschützen, aber sie tun das komplette Gegenteil. Sie suchen uns auf und beschuldigen uns für Dinge, die wir nicht getan haben, nur um uns zu bestrafen. Und wenn es Gesetze gäbe, die besagen, dass wir dies oder das oder jenes nicht tun können, dann würden wir wissen, was wir können und was nicht. Aber es scheint, als ob sie uns verstecken oder aus der Gesellschaft entfernen wollen. Sie wollen nicht, dass wir existieren. Nach dem Motto: "Verlassen Sie nie das Haus und treten Sie nicht in die Öffentlichkeit."

Wie hat Ihre Familie reagiert, als sie sah, was mit Ihrem Haar passierte?

Ich erzählte es meiner Familie nicht, weil ich mich zum einen schämte und zum anderen, weil es meiner Familie sehr weh tun würde. Zudem gäbe es auch die Möglichkeit, dass sie nicht meine Geschichte glauben, sondern die Geschichte der Polizei, in welcher ich all diese unanständigen Dinge tue. Ich kann mich nicht einmal mehr an alle Anschuldigungen erinnern. Der zentrale Punkt war, ich hätte mich unverschämt in einem Familien-Einkaufszentrum verhalten, was nicht zu Katars konservativer Kultur passe. Nachdem ich zum ersten Mal solcher Taten beschuldigt wurde, erzählte ich meinem Onkel von dem Vorfall. Ich erzählte ihm, dass ich fälschlicherweise all dieser Dinge beschuldigt wurde. Er sagte mir, dass das nicht akzeptabel sei und dass er mit den Polizisten reden würde. Danach hörte ich länger nichts von ihm. Ich tat etwas, was meinen Onkel verärgerte. Dann kam er zu mir nach Hause, kam direkt in mein Zimmer, nahm alle meine Kleider, legte sie in den Müllsack und fing an, mir zu sagen, dass ich der Familie Schande bringe. Und er sagte mir, dass ich ihn über den ganzen Vorfall belogen und mir alles ausgedacht habe.

Es gibt keine offene LGBTQ-Community in Katar. Wie ist es für Sie möglich, sich mit anderen zu treffen? Haben Sie einen Weg gefunden, Menschen aus dieser Community zu finden?

Ich meine, es ist sehr schwer, Leute zu treffen oder neue Freunde zu finden. Außerdem muss man verstehen, dass Leute, die wie ich in Katar viel Schlimmes erlebt haben, nicht die einfachsten Menschen sind, mit denen man befreundet sein will, weil ich meine eigenen Traumata habe. Jeder hat seine eigenen Probleme. Zudem ist es schwierig für die Menschen, mit unbehandelten psychischen Problemen gesunde Beziehungen aufzubauen.

Wie risikoreich sind Dating-Apps bezüglich der Überwachung durch die Regierung?

Ich habe keine schlechten Erfahrungen mit Dating-Apps gemacht. Ich wurde nie von einem Polizisten gecatfished. Ich hatte einfach nie Glück mit den Apps und habe vor einiger Zeit aufgehört, sie zu benutzen.

Eine andere Sache, von der ich gehört habe, ist die Reparations- oder Konversionstherapie. Können Sie dazu etwas sagen?

Davon habe ich auch gehört. Ein Freund von mir wurde von seiner Schwester zu so einer Therapie angemeldet. Es ist also etwas, was auch Familienmitglieder erzwingen können.

Indem man vorgibt, dass diese Person nicht gesund ist?

Nein. Sie sagen sogar öffentlich, dass sie bei sexuellen Abweichlern helfen. Egal ob feminine Männer oder männliche Mädchen. Es wird öffentlich gesagt, das ist, was wir heilen. Eine dieser Kliniken wird von der Katar Foundation unterstützt.

Allah spielt in Katar nach wie vor eine große Rolle: Wie hat sich Ihre Religion verändert?

Ich habe mich mit dem Islam und der Homosexualität beschäftigt, und es gibt keinen einzigen Vers im Koran, der es erwähnt. Es gibt nur wenige Hadithe also, die der Prophet gesagt hat. Aber sie sind nicht sehr glaubwürdig. Sie sind keine aussagekräftigen Quellen. Der Koran spricht nicht über Homosexualität. Ich weiß nicht, woher die Menschen, die Religion nutzen, um Homophobie zu rechtfertigen und Homosexuelle strafrechtlich verfolgen zu lassen, ihre Argumentationsgrundlage haben. Allerdings nicht vom Islam, wenn man den Koran tatsächlich liest.

Lassen Sie uns noch über die FIFA-WM sprechen: Ich weiß, dass Sie sich nicht unbedingt für Fußball interessieren, aber ist da etwas in Ihnen, was sich auf diese Veranstaltung freut?

Ich habe keinerlei Erwartungen. Ich kann mir beide Möglichkeiten vorstellen, sowohl dass es ein sehr gutes als auch ein sehr schlechtes Fußballturnier sein könnte. Ähnlich sehe ich es bei den Wirkungen auf Katar. Die Weltmeisterschaft könnte positive Veränderungen für das Land bringen, aber auch dafür sorgen, dass Katar sich zurückentwickelt und noch konservativer wird. Vor allem, nachdem Katar sehr vom Westen kritisiert wurde, seitdem sie die WM zugeteilt bekommen haben.

Einige Katarer erzählten mir, dass die westliche Kritik sehr anstößig sei. Sehen Sie das ähnlich, wie zum Beispiel westliche Politiker und auch Journalisten über Katar urteilen?

Manchmal fühle ich mich so, aber wenn sie denken, dass es unfair ist, dann sollte Kritik aus dem Landesinneren kommen. Aber auch das ist nicht erlaubt. Wir dürfen nicht kritisch sein. Wenn es also nicht von uns kommt, müsste es vom Westen kommen, ob wir ihre Kritik mögen oder nicht.

Hat es in Ihren Augen in den letzten Jahren einen gesellschaftlichen Wandel gegeben? Ist es liberaler oder strenger geworden, nachdem Katar 2010 den Zuschlag erhalten hat?

Ich sehe einige Veränderungen, von denen ich nicht sagen würde, dass sie positive Veränderungen sind. Ich habe das Gefühl, dass das Land defensiver, paranoider und wütender geworden ist. Sie versuchen, eine Menge zu zensieren. Die Regierung hat Einheimische im Blick, die sich kritisch gegenüber der Regierung und der Fußball-Weltmeisterschaft äußern und schreckt diese ab oder bringt sie zum Schweigen. Ich habe bemerkt, dass das oft passiert. Es fühlt sich an, als würden die Katarer immer wütender auf den Westen werden, wegen der ganzen Kritik. Es entsteht kein Dialog zwischen den zwei Parteien. Ich weiß nicht genau, wie ich das erklären soll. Die Katarer denken, dass der Westen hinter ihnen her ist und der Westen versucht, Katar gegenüber kritisch zu sein. Allerdings schürt dies nur die Wut und Paranoia der Katarer. Dadurch wird es für die Einheimischen immer schlimmer, in dieser Gesellschaft zu leben.

Fußballer und Funktionäre haben viel Einfluss: Haben Sie Erwartungen zum Beispiel an Nationalmannschaften aus Deutschland, aus Großbritannien, aus den USA? Sollten sie für die LGBTIQ+-Szene in Katar demonstrieren?

Meinen Sie, ob ihr Protest etwas Positives bewirken wird oder der Thematik in irgendeiner Weise helfen wird? Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Ich denke, es könnte es sogar noch schlimmer machen, denn wenn sie protestieren, werden einige Katarer wütend werden. Sie werden ihre Wut nicht an der deutschen Nationalmannschaft auslassen, sondern an Leuten wie uns.

Das Gespräch mit Faisal führte Jonas Gerdes

Read the interview in English here.

Quelle: ntv.de

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