
Ach, Ermre Can.
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Wenn es Herbst wird in Deutschland, bricht bei Borussia Dortmund traditionell die große Sinnkrise aus. Nicht einmal der Nebel kann den Blick auf das Trübsal-Chamäleon des deutschen Fußballs verhüllen. Wenn die Scheinwerfer angehen, leuchten sie einen orientierungslosen Klub aus.
Wenn sich in diesen ersten Tagen der Winterzeit der Nebel über den Mittellandkanal in Wolfsburg legt, ist eins klar: Hinter der grauen Wand ist es auch im Jahr 2024 nicht sonderlich einladend. Ganz im Gegenteil. Alles geht dahin. An diesem Dienstag waren es die letzten realistischen Titelhoffnungen von Borussia Dortmund in der Spielzeit 2024/2025. Diese Hoffnungen hat die graue Wand verschlungen. Das 0:1 von Borussia Dortmund beim VfL Wolfsburg war geeignet dazu, in den Menschen Mitleid hervorzurufen oder Schadenfreude. Je nachdem, wie diese Menschen dem von den schweren Niederlagen der Vorwochen geplagten, von jedem Selbstvertrauen befreiten und von Verletzungen gebeutelten Klub gegenüberstehen.
Der Champions-League-Finalist des Sommers 2024 hat sich dabei in den vergangenen Wochen mit dem tristesten Trübsalgrau einbalsamiert. Wie ein Chamäleon hat sich der BVB dabei der Jahreszeit angepasst. Den bei seiner Vorstellung im Sommer so lebensfrohen Trainer Nuri Şahin hat jede Zuversicht verlassen. "Das tut extrem weh", sagte er nach der wettbewerbsübergreifend fünften Auswärtsniederlage nacheinander. Nach dem 2:5 in Madrid, nach dem schlechtesten Saisonstart in der Bundesliga seit langer Zeit, jetzt also auch noch das Aus im DFB-Pokal.
Die Lage des BVB ist momentan in etwa so Erfolg versprechend wie die Aussicht auf ein Sonnenbad nach 17 Uhr in den kommenden Monaten. Der BVB hebt sich wenig ab vom Grau des Nebels, der in Niedersachsen am frühen Mittwoch den Blick auf den vorletzten Oktobertag des Jahres 2024 erschwerte. Ungefähr so eindeutig wie diese grau verhüllte Industrielandschaft sind auch die Krisensymptome des BVB.
BVB wird von Monstern attackiert
Nichts ist in Ordnung und etwas muss und wird passieren. Dann durchbrechen zaghafte Lichtstrahlen die Mauer des Schreckens. Denn in allen Dingen gibt es Ritzen und Fugen, durch die Sonne dringen kann. Es sind diese Lebensphrasen, die in Dortmund noch Hoffnung machen. Der Rest erscheint angemessen trostlos. Das Problem: Manchmal sind es offenkundig die falschen Ritzen, aus denen das Licht dringt und die einen in sich zerstrittenen Verein ausleuchten. Es sind immer nur Momentaufnahmen. Dann schließen sich die Fugen. Es wird wieder dunkel.
Borussia Dortmund weiß schon wieder nicht mehr, wer Borussia Dortmund ist und wie Borussia Dortmund wieder Borussia Dortmund werden kann. Der Ruhrgebietsriese irrt orientierungslos und ohne Sicht durch die vergangenen Wochen. Immer wieder springen ihm aus dem Nebel Monster entgegen. Sie machen ihnen das Leben schwer und lähmen den Klub mit dem erst kaum wahrnehmbaren, dann so brutal wirksamen Gift der Angst. Dem BVB scheint die Saison fatal zu entgleiten. Dabei geht der Verein auf dem Zahnfleisch. Der auf Kante geplante Kader wird mal wieder von einem Verletzungstsunami überrollt. Dieser Tage bekommt der BVB nicht immer genug Spieler für ein Training zusammen.
BVB und der Dortmunder Weg
Nach dem Aus im DFB-Pokal beim VfL Wolfsburg durchzucken Durchhalteparolen die Dortmunder Kommunikation, wenn diese überhaupt stattfindet. Denn eine Erklärung hat kaum einer. Außer, dass es Präzedenzfälle gibt. "Es ist keine Situation, die Borussia Dortmund in der Vergangenheit nicht schon einmal gemeistert hat", erklärte Sportdirektor Sebastian Kehl nach dem 0:1 am Mittellandkanal. Er sprach immerhin. Die Frage ist: wie lange noch? Sein Schicksal scheint eng mit dem des 36-jährigen Trainernovizen Şahin verknüpft. Der hatte im Sommer Edin Terzić abgelöst.
Sportdirektor Kehl ist dabei das Symbol des Dortmunder Wegs. Der soll eigentlich ein harmonischer sein, ist am Ende jedoch ein mutloser. Einer, der im irgendwann verharrt und für die Gegenwart keine Verantwortung übernimmt. Einer, der für die Zukunft große Dinge verspricht und in der Gegenwart keine Konsequenzen einfordert. Einer, der Borussia Dortmund zu einem Stammgast in der Champions League gemacht hat.
Kehl, ehemaliger Kapitän des Klubs, soll dabei die Vereinslegende Michael Zorc ersetzen. Gelungen ist es ihm bislang nicht. Der BVB jagt nicht mehr nur Rohdiamanten, sondern auch gestandene Bundesligaspieler. Erfolg hat er damit nur bedingt. Die Substanz des Klubs wird dabei jedoch in jedem Sommer ein Stück mehr angefressen. Kehls Vertrag läuft im kommenden Sommer aus. Seine Zukunft beim BVB ist ungeklärt. Schon länger ist er umstritten, immer mal wieder wird von seinem möglichen Ende in Dortmund gesprochen. Weil er außer Stallgeruch kaum Erfolge anzubieten hat. Weil seine Mitarbeiter für Kontroversen sorgten.
BVB kennt die Situation bereits
Zu allem Unglück ist der Status als deutscher Repräsentant in der Königsklasse ist in diesem Herbst 2024 ernsthaft in Gefahr. Wie schon so oft. Der BVB aber hat sich dabei immer als stärker als jede aufziehende Gefahr erwiesen. Mit ihren Helden und auch mit ihrem Heldenfußball ohne Helden zogen sie am Ende doch immer wieder an der Konkurrenz vorbei und wenn dies nicht gelang, wie im Vorjahr, holten sie sich die notwendigen Punkte durch ihre Auftritte in Europa.
Der später aus dem Amt getriebene Trainer Terzić fand immer eine Lösung, wenn sie auch manchmal schlichtweg "Glück" hieß. Als der klappernde Riese vor der Winter-WM 2022 von der Hinrunde der Spielzeit 2022/2023 mal wieder erbarmungslose an den Rand des Höllenlochs mit der Ortsmarke "Abgestürzter Traditionsverein" geschleudert worden war, raffte der BVB sich auf und kapitulierte erst vor der Herausforderung Deutscher Meister. Ihr 2:2 gegen Mainz am letzten Spieltag jener Saison war ein Spiel für die Geschichtsbücher. Eines, das, wäre Dortmund vorher nie Bundesliga-Meister geworden, die Schalker Vierminutenmeisterschaft in den Schatten gestellt hätte.

Terzic (m.) tauchte vollkommen überraschend als Experte bei Dortmunds krachendem 2:5 in Madrid auf.
(Foto: IMAGO/Kirchner-Media)
Niemand hätte erklären können, wie es dazu gekommen ist, aber es wäre egal gewesen. Zwölf Monate später dominierte der BVB mit einer zukunftslosen Mannschaft Real Madrid im Finale der Champions League. Aber das war nicht genug. Terzićs Heldenfußball ohne Helden hatte für zu viele Verstimmungen überall gesorgt. Sein Erfolg wurde dem Glück zurückgeschrieben. Gehen musste er trotzdem. Oder besser: Gehen durfte er trotzdem.
Jahre der verfehlten Transferpolitik
Denn Trainer werden in Dortmund nicht im hohen Bogen rausgeschmissen, sie verabschieden sich kurz vor oder kurz nach der Saisonanalyse mehr oder weniger freiwillig. Es gibt in Dortmund keine Trainerfindungskommissionen, denn immer lauert schon jemand im Hintergrund. Es gibt in Dortmund keinen erkennbaren Willen, aus den ja in der Vergangenheit durchaus erfolgreichen Strukturen auszubrechen. Aus ihnen ist ein klappriger Leuchtturm erwachsen. Einer, der in guten Momenten einen ganzen Kontinent ausleuchten kann und der weltweit strahlt.
Einher geht das alles mit einem Qualitätsverlust, für den die Adjektive "gigantisch" und "dramatisch" noch untertrieben erscheinen. War Borussia Dortmund noch vor kurzer Zeit für die großen Talente des Weltfußballs einer der beliebtesten Spielplätze, so ist nach Jahren teils konfuser Transferpolitik wenig davon übrig geblieben.
Nicht nur die Haalands, Bellinghams und Sanchos dieser Welt werden am Borsigplatz schmerzlich vermisst, es werden überhaupt Gesichter vermisst. Die Vereins-Ikonen Marco Reus und Mats Hummels werden als Identifikationsfiguren schmerzhaft vermisst. Die mit viel Geld zusammengekaufte Mannschaft mit den Neuzugängen Maxi Beier, Waldemar Anton, Serhou Guirassy, Pascal Groß und Yann Couto (Paketpreis mehr als 100 Millionen Euro) kommt gänzlich ohne Führungsspieler daher. Der unausgewogene Kader lässt auf Schlüsselpositionen (Außenverteidiger, defensives Mittelfeld, Flügel) Tiefe und Qualität vermissen. Auf dem Feld ist der in der Öffentlichkeit so häufig verspottete Emre Can das Gesicht des Klubs.
Wer ist das Gesicht von Borussia Dortmund?

In Dortmund gibt es viele Experten. Auf diesem Bild sind einige davon. Aber wer ist das Gesicht des Klubs und wer bestimmt den Weg?
(Foto: IMAGO/Ulrich Wagner)
Doch nicht nur auf dem Platz stimmt wenig. Es erscheint absolut rätselhaft, wer in dieser ewigen Transformation des Stillstands überhaupt noch als Gesicht abseits des Platzes taugt? Ist es der neue Sportvorstand Lars Ricken, der erst noch in seine Rolle reinwachsen muss? Ist es Matthias Sammer, dessen Auftritte als TV-Experte für mindestens genauso viel Kopfschütteln und Irritationen sorgen wie die Auftritte der BVB-Stars auf dem Platz?
Ist es der im kommenden Jahr scheidende Vorstandsvorsitzende Hans-Joachim Watzke, dessen Ruf in den vergangenen Jahren massiv gelitten hat? Ist es vielleicht Sven Mislinat, das einstige Diamantenauge, der vom Verein nach seiner Rückkehr als Kaderplaner direkt zurechtgestutzt wurde? Oder ist es eben Kehl, der mal ohne Perspektive und dann doch starker Mann ist? Wer ist der Ballspielverein Borussia aus Dortmund und was will er sein?
Die gnadenlose Sucht nach Geld und Anerkennung führte im Sommer zu dem bei Teilen der Anhängerschaft höchst umstrittenen Deal mit Rheinmetall. Wer dieser Tage das Westfalenstadion besucht, wird auch abseits davon mit den irrwitzigen Werbeauswüchsen des Fußballs konfrontiert. Wettanbieter, Krypto-Unternehmen und andere Windhunde erscheinen auf den Tafeln rund um das Spielfeld. Der BVB hängt wie der restliche Fußball am Tropf, braucht immer mehr Geld, immer mehr Geld und immer mehr Geld. Damit das System aufrechterhalten werden kann.
BVB lebt in einer Transfertraumwelt
Neulich war es deshalb mal wieder so weit. Stolz verkündete der Boulevard den nächsten 100-Millionen-Euro-Transfer der Borussia aus Dortmund. Es war eine Nachricht, die einen nicht einmal mehr milde lächeln ließ. Sie zeigte nur, wie sehr dem BVB die Realität entglitten ist. Was war passiert?
Nach einigen passablen Auftritten als Joker verkündete die "Bild": "Dortmund will 100 Millionen für diesen BVB-Star". Dieser BVB-Star war Jamie Gittens, der den "klaren Vorstellungen" von Kehl folgend im kommenden Sommer dem BVB eine Menge Geld einstreichen soll. Kehl, hieß es, habe den Vertrag in weiser Voraussicht erst kürzlich bis 2028 verlängert. Die Leistungen des 20-jährigen Engländers bieten dabei wenig Anhaltspunkte für einen Transfer dieser Größenordnung. Aber damit ist er nicht allein.
Wenige Wochen zuvor hatte die Zeitung einen anderen "BVB-Star" als nächsten 100-Millionen-Euro-Transfer vorgestellt. Intern sei man sich längst sicher: Der Belgier Julien Duranville habe das Zeug dazu. Der 18-Jährige hat seit seinem Wechsel von Anderlecht zum BVB im Januar 2023 insgesamt 135 Minuten für die Dortmunder gespielt. Die meiste Zeit war er verletzt - und ist es aktuell auch wieder.
Es waren Gerüchte, die das gesunde Maß an Absurdität überstiegen und gerade deswegen die Dortmunder Verzweiflung illustrierten. Die Transferillusionen vermitteln einen guten Blick auf die manchmal entglittene Realität. Der BVB braucht für sein Geschäftsmodell weiterhin außerordentliche Erlöse. Das sind die Wunderkinder-Transfers oder die sportlichen Erfolge in den aufgeblähten internationalen Vereinswettbewerben. Dafür aber müssen sie sich qualifizieren. Das jedoch scheint in diesen nebligen Tagen in Deutschland in weite Ferne gerückt.
Dem Prozess vertrauen oder dem Druck
Wo der BVB, dieses gigantische Mysterium, im Frühjahr 2025 stehen wird, kann niemand sagen. Niemand kann klar genug durch die graue Wand schauen. Es würde nicht verwundern, wenn sich dahinter längst ein neuer Trainer bereit macht. Wenn die Dortmunder sich allen Durchhalteparolen zum Trotz erstmals seit dem Aus von Lucien Favre und erst zum dritten Mal seit der Saison 2007/2008 während einer laufenden Spielzeit von einem Trainer trennen.
Nach dem Fast-Abstieg in der Saison 2006/2007 hatte der BVB meist ein stabiles Fundament. Damals begannen sie mit Bert van Marwijk und landeten über Jürgen Röber bei Thomas Doll. Auf ihn folgte im Sommer 2008 Jürgen Klopp, der Übervater der Watzke-Jahre. Klopp verließ den Verein nach der Seuchensaison 2014/2015. Damals war der BVB kurzzeitig sogar Tabellenletzter. Das Aus von Thomas Tuchel, dem Klopp-Nachfolger, war 2017 lange vor Saisonende besiegelt, wurde aber erst nach dem Sieg im DFB-Pokal vollzogen. Darauf folgte eine Saison mit Peter Bosz und Peter Stöger. Das schwache Jahr wurde den Folgen des Anschlags auf die Mannschaft im April 2017 zugeschrieben.
Mit einem Abgang von Şahin könnten dem Verein die Strukturen der letzten Jahre zusammenbrechen. "Trust the process", sagte der 36-Jährige bei seiner Vorstellung im Sommer. Jetzt müssen die Verantwortlichen ihm jedoch erst einmal den unüberschaubaren Weg durch den Dortmunder Winter zutrauen. Das ist kaum mehr realistisch.
Quelle: ntv.de