Ein Spiel wie ein Wadenkrampf Der FC Schalke 04 hat das Fußballspielen verlernt
09.10.2023, 07:24 Uhr
Schalker Krisengesichter.
(Foto: IMAGO/RHR-Foto)
Der FC Schalke 04 und Hertha BSC begegnen sich in den Niederungen der 2. Fußball-Bundesliga. Die einstigen Giganten kämpfen mit sich selbst. Während die Berliner langsam die Kurve kratzen, stürzen die Gelsenkirchener weiter ab. Und in der Stadionkapelle geht das Licht aus.
Als der FC Schalke 04 verzweifelt versuchte, diesen katastrophalen Nachmittag in der eigenen Arena noch zu einem guten Ende zu zwingen, da passierte das: Abwehrspieler Timo Baumgartl wollte den Ball auf die rechte Seite spielen, auf Bryan Lasme. Doch völlig unbedrängt schoss er den Ball an die Hacke von Mitspieler Henning Matriciani, das Spielgerät trudelte ins Aus. Ein blödes Missgeschick? Eher nicht. Was Baumgartl da passiert war, war den Schalkern über fast 90 Minuten widerfahren: rien ne va plus, nichts geht mehr.
Mit 1:2 (0:1) verloren die abgestürzten Gelsenkirchener das Gigantentreffen mit Hertha BSC. Wieder einmal, wie schon am 15. April dieses Jahres (5:2 für Schalke), lieferten sich die Absteiger ein Duell, dass zwar mit Fußball umschrieben war, aber mit der Schönheit dieses Sports selten etwas zu tun hatte. Wenn Fußball als Fehlerspiel verstanden wird, dann war dieser Sonntagnachmittag in der ausverkauften Arena ein vorzüglicher. Wer Fußball als Genuss auf andere Art interpretiert, der musste reichlich desillusioniert den Heimweg antreten. Als Berliner ging das immerhin beschwingt, denn mit dem Sieg lässt der Klub die größten Sorgen (vorerst) hinter sich. Wie die tüchtigen Eichhörnchen sammeln die Herthaner nach dem verbockten Saisonstart Punkte wie Kinder Kastanien.
Coach Pal Dardai atmete nach dem kuriosen Sieg, der irgendwie souverän war, aber irgendwie auch nicht, tief durch. "Das waren drei ganz wichtige Punkte für uns in einem nicht ganz einfachen Spiel." Aber so richtig glücklich war der Ungar an diesem Sonntag nie. Ihn schmerzte vor Anpfiff, bekannte er, dass sich diese beiden Fußball-Giganten in schweren sportlichen und finanziellen Zeiten nun im Tabellenkeller der zweiten Liga begegnen. Dardai hat als Spieler ganz andere Zeiten erlebte, ganz andere Duelle zwischen den Vereinen. Schillernd, auf großer Bühne. Längst vorbei. Immerhin, freute sich der Ungar, habe seine Hertha "einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung" gemacht.
Die 3. Liga ist näher als der Europapokal
Ganz anders die Schalker. Mehr Krise geht nicht. Platz 16 nach neun Spieltagen, gerade mal sieben Punkte, das hat mit den großen Ambitionen, Aufstieg (!), nix zu tun. Der Traditionsklub wird wieder zum Klassenkämpfer, der Absturz in die 3. Liga droht. Was für eine verrückte Welt, hatte Sportvorstand doch noch im Sommer ausgerufen, dass man gerne zurück in die "Top Sechs" wolle. Der 1. Bundesliga versteht sich. Doch sind Duelle mit Ulm, mit Sandhausen derzeit näher als schillernde Europapokalabende. Ob das auf Schalke jeder verstanden hat?
Irgendwie schon. So sagen sie zumindest. Weder Stürmer Sebastian Polter noch Matthias Kreutzer, der Trainer, der nun wieder ins zweite Glied rücken muss, glauben nicht, dass die Spieler nicht verstehen würden, worum es geht. Wenn das so ist, dann gibt es allerdings ein gigantisches Transferproblem: Das Wissen um die schwierige Lage sorgt nicht für Tugendhaftigkeit auf dem Platz, sondern für Angst, für Panik. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Besonders nicht nach dem 0:1 durch Smail Prevljak (41.). Das Portal Sport1 pushte nur wenige Sekunden nach diesem kuriosen Tor, das selbst die anwesenden Hertha-Fans nur mit einiger Verzögerung registriert hatten: "Gurkenflanke übertölpelt klägliche Knappen-Abwehr". Mehr muss man nicht wissen. Außer vielleicht, dass der Torschütze später befand, dass ihn seine Nase in die Position gebracht hatte, um diesen Treffer zu erzielen.
Schalke brach in sich zusammen. Wieder einmal. Jede Restüberzeugung schlich sich fortan über die angrenzende A2 wahlweise Richtung Oberhausen oder Castrop-Rauxel davon. Hertha dagegen kam mutig aus der Kabine und hatte seine besten 15 Minuten an diesem Nachmittag. Heimkehrer Fabian Reese natzte "Fußballgott" Matricani und traf zum 2:0 (51.). Der Schalke Außenverteidiger, der in der Abstiegssaison die große Sensation geworden war, sah abermals schlecht aus. Er ist derzeit das vielleicht größte Krisengesicht. Schlecht sah auch Torwart Justin Heekeren aus. Der sein Debüt gab, und bis dato mit einer guten Präsenz und Sicherheit am Fuß überzeugt hatte, dem der Ball dann aber irgendwie durchflutschte. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Kein Plan, keine Idee, nur Ballgeschiebe, oft in der eigenen Abwehr. Unruhe auf den Tribünen. Ist das ein echtes Aufbäumen?
Die Hoffnung heißt Karel Geraerts
Dabei waren sie vor dem Spiel noch optimistisch gewesen, die Schalker. Auf der Erzbahntrasse, einem Radweg voller Industrieromantik, eine Erinnerung an goldene Zeiten, waren viele von ihnen beschwingt zum Stadion geradelt. Sie sprachen über den Lieblingsbäcker von Torwart Ralf Fährmann, sie sprachen über Ex-Coach Thomas Reis, der ja schon eigentlich ein Guter war und sie freuten sich auf den neuen Mann an der Seitenlinie, der vermutlich Karel Geraerts sein wird, der in der vergangenen Saison das Überraschungsteam Union Saint-Gilloise betreut hatte. "Mit dem Boniface! Vielleicht hat er ja noch so 'ne Granate in der Tasche!" An diesem Montag um 12 Uhr soll der neue Mann vorgestellt werden.
Tatsächlich würde "noch so 'ne Granate" den Schalkern sehr weiterhelfen. Die Aussicht ist aber gering, das Transferfenster zu. Nur noch vereinslose Spieler sind derzeit zu haben. Bis zur Winterpause bleibt das so. Die Hoffnung muss woanders herkommen. Aus dem jugendlichen Elan womöglich. Mit dem 19-jährigen Yusuf Kabadayi und dem noch zwei Jahre jüngeren Assan Ouedraogo stemmten sich auch am Sonntag zwei Spieler gegen den Untergang, die doch eigentlich noch gar nicht führen sollen, sondern noch lernen. Kabadayi (80.) vollendete einen perfekten Konter, Ouedraogo (91.) tanzte mit der Hertha-Abwehr, sein Abschluss landete aber in den Armen von Torhüter Tjark Ernst. Was wohl möglich gewesen wäre, wenn diese beiden Fußball-Teenager schon früher eingewechselt worden wären?
In der Kapelle gehen die Lichter aus
So war es eben lange ein Spiel, zäh und schmerzhaft wie ein Wadenkrampf. Ballverluste hier, Fouls dort. Gute Aktionen am Ball muss man mit der Lupe suchen. Gefunden wurde eine in der 26. Minute. Polter und Kenan Karaman spielten Dominick Drexler frei, der allerdings verzog aus bester Position deutlich. "Das sind diese Momente, die wir benötigen würden - einfach mal das Quäntchen Glück auf unsere Seite zu ziehen", haderte Kreutzer hernach. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Aber das kann nicht das Ende sein. Und so rufen sie auf Schalke aus, was die Stadt Gelsenkirchen einst groß und lebendig gemacht hat: harte Arbeit!
Was der Mannschaft besonders zu denken geben muss: Als sie nach dem Spiel in die Nordkurve ging, wo die treusten Fans sitzen, gab es zwar Pfiffe, aber kein gellendes Pfeifkonzert. Was das bedeutet? Vielleicht, dass man dem Team keine Vorwürfe macht, sondern erkennt, dass mehr nicht möglich ist? Ob die neu aufgebaute Mannschaft nach dem fast berauschten Abstieg, weil hervorragender Rückrunde, überschätzt worden ist? Coach Kreutzer mochte das nicht bewerten. Er sagte bloß: "Wir müssen hart arbeiten, um uns aus dieser Situation zu befreien. Da sind wir alle zusammen gefordert." In der Stadionkapelle, tief unten in den Katakomben, brannten lange die Kerzen. Lichter der Hoffnung? Sie erlöschten, gerade als Polter und Kreutzer sprachen. Über die Krise, über die Maloche und den Glauben daran, dass man sich da rausziehen werde. Ein schlechtes Omen?
Quelle: ntv.de