Ein Fußballspiel wie Kirmesboxen Schalke 04 haut Hertha auf groteske Weise k. o.
15.04.2023, 08:10 Uhr
Er traf doppelt für Schalke 04: Marius Bülter.
(Foto: IMAGO/Nordphoto)
Der FC Schalke 04 feiert, Hertha BSC leidet und sucht womöglich schon sehr bald einen neuen Trainer. Sandro Schwarz wackelt nach der surrealen Pleite in Gelsenkirchen gewaltig. Die Gastgeber überraschen mit einer bislang unbekannten Offensivwucht.
Das Fußballspiel, das an diesem Freitagabend in Gelsenkirchen stattgefunden hat, war all das nicht, was sich die kapitalhungrigen Bosse und Super-League-Lobbyisten für die schöne neue Welt des Spiels vorstellen. Das Duell zwischen dem FC Schalke 04 und Hertha BSC hatte keinen Glanz, keine schillernden Stars, keine Wow-Momente im klassischen Sinne. Diese Partie war roh, hölzern, in manchen Phasen unterhaltsam fürchterlich, aber immer spektakulär und mitreißend. Kleiner Spoiler: Nur nicht, wenn man es mit den Berlinern hält. Es war ein Spiel, vollgepackt mit Geschichten, die den Fußball auf seine ursprünglichen Tugenden reduzieren.
In der 75. Minute etwa, Schalke führte mit 3:1, wechselte der Ballbesitz gleich sechsmal! Eine Minute später feuerte der Berliner Dodi Lukebakio den Ball aus 25 Metern ins Nichts. Dieser Versuch sollte wohl ein Torschuss werden. Weitere zwei Minuten später schlug Marius Bülter zum zweiten Mal zu. Der Schalker lupfte den Ball aus gut 20 Metern über den wild hinausstürmenden Torwart Oliver Christensen hinweg, 4:1. Die Entscheidung.
Tore: 1:0 Skarke (3.), 2:0 Bülter (13.), 2:1 Jovetic (45.+3), 3:1 Terodde (48.), 4:1 Bülter (78.), 4:2 Richter (84.), 5:2 Kaminski (90.+2)
Schalke: Fährmann (36. Schwolow) - Brunner (71. Uronen), Jenz, Kaminski, Matriciani - Latza, Kral - Skarke (46. Karaman), Drexler (65. Krauß), Bülter - Terodde. - Trainer: Reis.
Berlin: Christensen - Uremovic, Kempf, Dardai (55. Ngankam) - Richter, Cigerci (26. Serdar), Plattenhardt - Tousart, Kevin-Prince Boateng (62. Kanga) - Lukebakio, Jovetic. - Trainer: Schwarz.
Schiedsrichter: Dr. Felix Brych (München)
Zuschauer: 61.981 (ausverkauft)
Gelbe Karten: Krauß (5), Jenz (4) - Kevin-Prince Boateng (3), Ngankam (4), Uremovic (5)
Aber noch längst nicht das Ende dieses ungestümen Spektakels zweier Geldvernichtungs-Giganten der vergangenen Jahre, die in diesen Wochen so verzweifelt um den Klassenerhalt kämpfen. Die Schalker waren vor diesem Spieltag Letzter, die Hertha einen Platz besser. Mehr Not lässt sich auf einem Bundesliga-Rasen nicht versammeln. Mit 5:2 (2:1) ging dieses Spiel zu Ende, nach 102 wilden Minuten (49 Minuten in der ersten Halbzeit und 53 in der zweiten Hälfte). Nach einer grotesken Mischung aus Kirmesboxen und Hallenhockey in der Schule. Immer wild aufeinander zu, immer der Gefahr ausgesetzt, sich zu verletzen. Die Hertha verdiente sich dabei Applaus dafür, dass sie nach jedem Hieb wieder aufstand und einfach weitermachte Planlos zwar, aber mutig. Die Schalker verdienten sich Applaus, weil sie wieder Schalker waren.
Reis rotiert die alten Helden rein
In der vergangenen Wochen hatte es an der Malocherhaftigkeit der Fußball-Kumpel mächtig Zweifel gegeben. In Hoffenheim hatten sie das wichtige Abstiegsduell trotz massiver Fanunterstützung vergeigt. Trainer Thomas Reis war sogar "entsetzt" gewesen und hatte Konsequenzen angekündigt. Und so rotierten nun mit Simon Terodde, Danny Latza, Dominick Drexler und Marcin Kaminski vier alternde Aufstiegshelden in die Startelf. Sie kämpften, sie rannten, sie grätschten, sie rieben sich auf. Terodde, der den Klub im Sommer verlässt, traf sogar. Reis hatte alles richtig gemacht und freute sich, dass sein Plan prima aufgegangen war. Als er darüber sprach, lächelte er. Verschmitzt wie immer. Wenn einer richtig Spaß am Klassenkampf hat, dann Reis. Schon mit dem VfL Bochum hatte er seine Tauglichkeit für dieses existenzielle Handwerk unter Beweis gestellt. Und ganz egal, ob ihm das nächste Wunder gelingt, Jobsorgen muss er nicht haben. Die Bosse würden ihn in Liga zwei mitnehmen.
Ganz anders ist die Lage bei der Hertha. Dort steht es nicht gut um Sandro Schwarz. Zwar wollte Sportdirektor Benjamin Weber nach Abpfiff "keine Personaldiskussion" führen, aber in den nächsten Stunden "jeden Stein umdrehen". Er gestand: "Das war ein richtiger Schlag in die Fresse." Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Berliner im kommenden Heimspiel gegen Werder Bremen ein anderen Coach haben. Auch wenn es aus dem Team Fürsprache gibt. "Die Trainer sind energisch dabei. Sie geben uns viel Kraft. Wir Spieler müssen das halt umsetzen, das hat überhaupt nicht geklappt. Fünf Tore auf Schalke ist unfassbar", sagte Kapitän Marvin Plattenhardt. Tatsächlich ist es so: Die bislang so harmlosen Königsblauen erzielten an diesem Abend 19,02 Prozent ihrer gesamten Saisonausbeute! "Wir haben heute fünf Tore geschossen, was vielleicht den einen oder anderen verwundet hat. Aber die Mannschaft hat es sich absolut verdient", befand Reis. "Wir haben von Anfang an Druck gemacht, haben gewisse Phasen überstanden und uns in jeden Ball reingeschmissen."
"In vielen Bereichen war es keine Leistung"
Zurück zu Schwarz: Welche Argumente kann er nach dem Sturz ans Tabellenende für sich vorbringen? Die Abwehr, ein totales Desaster. "In vielen Bereichen war es keine Leistung. Man hat gesehen, dass wir in den Zweikämpfen nicht da waren", schimpfte Plattenhardt. Das Angriffsspiel irgendwie planlos und arg unpräzise. Schwarz bekannte resigniert: "Das, was uns gerade in den letzten zwei Spielen gegen gute Gegner ausgezeichnet hat, die Stabilität, die Konsequenz, das haben wir vermissen lassen. So haben wir den Gegner aufgebaut." Und wann immer die Mannschaft im Spiel war - und davon gab es durchaus ein paar Momente - etwa nach dem 1:2 durch Stevan Jovetic, zerstörte sie sich jedes Momentum durch einen dicken Bock. Marton Dardai ging zu ungestüm gegen Kenan Karaman ins Duell, verlor es. Karaman war alleine durch, legte auf Terodde und der zündete das Stadion mit seinem Treffer so richtig an. Eine Befreiung für ihn, eine Befreiung für die Fans.
Die Anspannung, auch dieses Duell zu verpatzen, war für jeden greif-, besser gesagt, hörbar gewesen. Die Arena, sonst ein Ort des Donners, war bis Minuten vor dem Anpfiff fast still. Pfiffe gegen Kevin-Prince Boateng, der sehr robuste Zweikämpfe angekündigt hatte und diese auch führte. Und lautstarkes Mitsingen des Steigerlieds und der Vereinshymne. Aber sonst war's seltsam ruhig. Für einen ersten Seelenstreichler sorgte Tim Skarke nach drei Minuten. Ein kurioses Solo, bei dem er Ball zweimal fast vertändelt hatte, krachte über die Unterlatte ins Tor. Als Bülter nach zwölf Minuten eine Flanke von Skarke veredelte, schien alles in die richtige Richtung zu laufen. Aus königsblauer Sicht. Es blieb spektakulär: Jovetic schloss ab (22.), Ralf Fährmann hielt sensationell und drehte den Ball an den Pfosten. Dann der Schock: Auferstehungsriese Fährmann musste verletzt raus (36.), später konnten auch Skarke und Cedric Brunner nicht weitermachen. Der Ex-Herthaner Alexander Schwolow kam für Fährmann. In Berlin haben sie keine guten Erinnerungen an ihn. Die Fans aus der Hauptstadt sangen: "Jetzt geht's los". Tat es tatsächlich irgendwie. Schalke wirkte angeknockt, Hertha war besser drin. Dann haute Boateng dazwischen. Statt den Ball zu treffen, landet sein voll durchgezogenes Bein zwischen den denen von Danny Latza, Gelb.
Brych pfeift, als wäre er in einem Orchester
In dieser Phase ist es richtig hölzern. Bälle segeln kreuz und quer ins Nirwana, die Passquoten liegen irgendwo bei 60 Prozent. Das hat mit Profifußball nicht viel zu tun. Aber die Leidenschaft stimmt. Zweikämpfe werden in aller Intensität geführt, dann knallt Jovetic den Ball in der Nachspielzeit sehenswert rein. Dann der Wiederanpfiff, der frühe Schlag gegen die Hertha. Es wird hitziger, es wird getreten, gerungen, gerissen und gerudelt. Brych pfeift, als wäre er in einem Orchester. Er pfeift für drei, vier, fünf Spiele. Dass die Statistik nur 29 Fouls ausweist, ist ein Witz. Irgendwo liegt mittlerweile immer einer. Die Bänke meckern im Akkord. Dann das 4:1. Auch so ein skurriles Dingen. Hertha greift an, verliert den Ball. Schalke kontert, Karaman fällt. Das Kollektiv schaut zu Brych, der pfeift dieses Mal nicht. Latza reagiert am schnellsten, passt zu Bülter, Lupfer, Entscheidung. Vier Treffer, alle von Spielern, die in der Vergangenheit mal bei Herthas Stadtrivalen Union gespielt hatten.
Das zweite Tor der Berliner und das fünfte der Schalker sind nur noch statistische Werte. Wobei auch diese Treffer eine Geschichte erzählen. Marco Richter vollendet einen perfekten Konter der Gäste, er rutscht eine Hereingabe gekonnt ins Tor. Als er aufsteht, knallt sein Auge mit dem Finger von Henning Matriciani zusammen. Richter blutet heftig. Matriciani entschuldigt sich sofort. Er konnte nichts dafür. Aber irgendwas war an diesem Abend eben immer. Dann trifft Kaminski noch per Freistoß. Die einen sagen: Traumtor. Die anderen sagen: Torwartfehler. Auf der letzten Rille wanken die Spieler dem Schlusspfiff entgegen. Abwehrspieler Moritz Jenz, den die Schalker zuletzt so vermisst hatten, geht in den Sturm. Weil er Krämpfe hat, weil er dort nicht mehr so viel sprinten muss. Als die Schicht getan ist, fällt er völlig erschöpft auf den Rasen. Die Kollegen feiern ihn. Und später feiert er mit ihnen vor der Nordkurve. Sie besingen den Mythos vom Schalker Markt. Der Glaube an den Klassenerhalt ist zurück. Hertha dagegen leidet. Als die Spieler zum Fanblock schleichen, ist der schon halb leer. 3000 waren gekommen - und haben die Hoffnung verloren.
Quelle: ntv.de