Fußball

Havertz-Experiment misslingt Die Fantasie geht mit Julian Nagelsmann durch

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Für eine gute halbe Stunde ist Julian Nagelsmann auch gegen die Türkei der Wunderheiler der DFB-Elf. Doch dann wendet sich das Blatt. Ausgerechnet sein Experiment Kai Havertz steht im Mittelpunkt der ersten Niederlage.

Julian Nagelsmann hatte sich einen Linksverteidiger geschnitzt. Einen mit Offensivdrang. Einen mit Torjägerqualitäten. Schon nach fünf Minuten drehte Kai Havertz jubelnd ab, die Hände an die Ohren gelegt. Lässig hatte er eine Traumkombination über Benjamin Henrichs und Leroy Sané im Strafraum stehend veredelt. Bundestrainer Nagelsmann hatte große Fantasie mit Havertz versprochen und die Fans der deutschen Nationalmannschaft gerieten ins Träumen.

"Auswärtssieg, Auswärtssieg", riefen sie, denn das Olympiastadion war ja fest in türkischer Hand. Der Wunsch der deutschen Fans wurde nicht erfüllt, stattdessen gab es am Ende einen echten Auswärtssieg - und das hatte auch mit Havertz zu tun. Der sollte später, in der zweiten Halbzeit, noch einmal genau an dieser Stelle im Strafraum stehen und Dinge tun, die Verteidiger halt auch tun.

Der 24-jährige offensive Mittelfeldspieler war vom neuen Bundestrainer vollkommen überraschend nach hinten geschoben worden. Julian Nagelsmann, so war nach dieser fünften Minute klar, kann überhaupt nichts verkehrt machen.

Für 36 Minuten war er der Wunderheiler der in den vergangenen Jahren so geschundenen DFB-Elf. Dann gingen im Olympiastadion die Taschenlampen an. Tausende Glühwürmchen leuchteten im Rund des Finalstadions der Europameisterschaft 2024. Bald schon machten sie aus dem Übertrainer Nagelsmann einen ganz gewöhnlichen. Der sagte nach dem 2:3 gegen die Türkei trotzdem: "Kai Havertz hat ein herausragendes Spiel gemacht. Die einzige Personalie, die heute überraschend war, war mit unser bester Mann." Es war eher der Versuch von Nagelsmann, sein Experiment zu rechtfertigen. Doch das war, bei einem genaueren Blick, misslungen.

"Nicht so komplex"?

Die Spielweise der Nationalmannschaft, hatte Nagelsmann bei seinem Amtsantritt gesagt, werde "nicht so komplex wie im Vereinsfußball sein". Vielmehr sei sie darauf ausgelegt, "den Spielern Halt zu geben". Keine komplexen Anweisungen, dafür rauschende Erfolge. Das war sein Versprechen.

Gegen die Türkei sah es dann so aus: Im 4-2-2-2-System spielte Havertz Linksverteidiger, schob immer wieder hoch, vor der Viererkette sollten die nicht gerade als Abräumer bekannten Joshua Kimmich und İlkay Gündoğan das Spiel für die offensiven Mittelfeldspieler Florian Wirtz und Julian Brandt anschieben. Kimmich auch für Leroy Sané, den er immer wieder suchte. Und ganz vorn stand Niclas Füllkrug im Zentrum, lief an, was anzulaufen war, während Sané alles bearbeitete. Er war hinten und vorn und in der 38. Minute zu wenig hinten. Rechtsverteidiger Benjamin Henrichs war aufgerückt, ein langer Ball übertölpelte Sané und fiel auf den echten Linksverteidiger Ferdi Kadioglu.

Der war aufgerückt, nur um den Ball trocken ins kurze Eck zu setzen. Kevin Trapp probierte alles, aber seine Finger konnten den Schuss nicht entscheidend ablenken. Aus den Glühwürmchen der 36. Minute erwuchs ein Freudenfest. Einsame Pyrofackeln leuchteten, das Stadion wurde einem Lautstärketest unterzogen. Ein zweiter folgte nur kurze Zeit später. Von der rechten Seite segelte ein langer Pass des Ex-Schalkers Kaan Ayhan quer übers Feld, Henrichs rückte ein, und hinter ihm tauchte der 18-jährige Kenan Yildiz auf.

Der gebürtige Regensburger war im Sommer 2022 von Bayern München zu Juventus nach Italien gewechselt und nach nur fünf Spielen jetzt erstmals auch für die Türkei nominiert. "Ich habe seit der U17 für die Türkei gespielt, darauf bin ich sehr stolz. Deutschland ist nie auf mich zugekommen, hat mich nie kontaktiert. Deswegen gab es die Option nicht, die Frage hat sich nicht gestellt", hatte er unlängst erzählt. In dieser zweiten Minute der Nachspielzeit nun stand er frei im Strafraum und erzielte ein Tor der Marke Weltklasse. Mit voller Wucht zimmerte er den Ball ins lange Eck. Der flipperte noch zwischen Latte und Pfosten und flog dann ins Tor.

Das Stadion feierte in die Halbzeit hinein, und bald nach der Pause balgten sich in einem der Blöcke ein paar Fans der türkischen Mannschaft. Das löste sich auf und auch Deutschland war zurück. Wirtz deutete an, was er der Nationalmannschaft mal bedeuten wird. Er nahm den Ball an der Mittellinie auf, spazierte mit ihm in Richtung Strafraum und fand Füllkrug. Der traf. Sein zehnter Treffer im zwölften Länderspiel. Einer, der aber nichts an seiner bereits fünften Niederlage im DFB-Dress ändern konnte.

Zu viel Fantasie?

Denn der Innenverteidiger Abdülkerim Bardakci war in der 68. Minute im Strafraum der Deutschen aufgetaucht, brachte einen Ball hinein und dort hielt Havertz seinen Arm hin. Zwar lief das Spiel noch einige Zeit weiter, doch als der Ball im Aus war, schaltete sich der VAR ein, Schiedsrichter Bartosz Frankowski schritt unter dem überwiegenden Jubel der Zuschauer an die Seitenlinie. Womöglich summte in Nagelsmanns Kopf der Gesang, der sonst an dieser Stelle durch die Stadien der Republik schallt. Womöglich sang er heimlich "Ihr macht unseren Sport kaputt". Alles egal: Veysel Sari lief zum Elfmeter an, Trapp flog in die richtige Ecke und wieder waren seine Finger zu schwach.

In der 71. Minute stand es somit 2:3. Daran sollte sich trotz wütender Angriffe und zahlreicher Konter der Türkei nichts mehr ändern. Einmal rettete Henrichs in höchster Not mit einer Grätsche nahe der Mittellinie vor dem durchbrechenden Sari (74.) und mehrfach vergab das DFB-Team den Ausgleich. Brandt scheiterte mit einem schwachen Schuss (73.) und Gnabry rauschte an einer Hereingabe von Sané vorbei (86.).

"Ein paar haben nicht das Emotionalitäts-Niveau erreicht, sind nicht an die Grenze gegangen", befand Nagelsmann und auch Kapitän Gündoğan merkte die fehlende Aggressivität der DFB-Elf an. "Sie machen die Tore nach Fehlern von uns. Wir waren einfach zu passiv. Das kann nicht der Fall sein", sagte er: "Vielleicht war es auch einfach ein zu guter Start ins Spiel. Am Ende waren wir immer einen Schritt weiter weg, gerade in der ersten Halbzeit. Es fühlt sich so an, als ob wir das Spiel in der ersten Halbzeit verloren haben."

Im dritten Spiel unter Nagelsmann kassierte die Nationalmannschaft eine ernüchternde Niederlage gegen eine türkische Mannschaft, die nach der Qualifikation für die EM mit einer B-Elf angetreten war. Das Havertz-Experiment konnte daran nichts ändern, auch wenn der neue Bundestrainer damit wieder ein wenig Fantasie in den Alltag gebracht hatte. Vielleicht war es zu viel davon. Den türkischen Fans war es sowas von egal. Sie schwenkten die Flaggen, brannten ein Feuerwerk ab und lagen sich in den Armen. Auswärtssieg beim Heimspiel in Berlin.

Quelle: ntv.de

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