Erdoğan, Palästina und Frieden Ein türkischer Kontrast fegt durch Berlin
18.11.2023, 19:14 Uhr
Der Marsch der türkischen Fans zum Olympiastadion: Laut, bunt und unpolitisch.
(Foto: Stephan Uersfeld/ ntv.de)
Was für eine Aufregung in Berlin. Noch am Tag vor dem Testspiel der DFB-Elf gegen die Türkei ist der türkische Präsident Erdoğan in der Stadt. Die gleicht einer Festung. Alle sind nervös. Was passiert am Spieltag? Eine Stadt bereitet sich vor.
Berlin-Kreuzberg. Kottbusser Tor. Am frühen Nachmittag drängen sich die Massen vor und in den Restaurants und Imbissständen. Darunter tummeln sich viele mit Trikots der türkischen Nationalmannschaft oder mit türkischen Fahnen. Hauptsächlich junge Frauen und Männer. Die Straßen drumherum sind verstopft. Es ist mächtig was los, Stunden bevor im 13 Kilometer entfernten Berlin Olympiastadion das Freundschaftsspiel zwischen der deutschen und der türkischen Nationalelf angepfiffen wird. Die Stimmung: Vorfreude.
Dabei hat der Staatsbesuch von Recep Tayyip Erdoğan Teile Berlins am Vortag in eine Sicherheitszone verwandelt. Helikopter kreisen über der Stadt und blicken auf gesperrte Straßen. Berlin ist in Aufruhr. Zumindest dort, wo sich der türkische Präsident aufhalten wird. Sogar vor dem Eingang des Kulturkaufhaus Dussmann auf der Friedrichstraße patrouillierte die Polizei noch am späten Abend.
Der türkische Präsident hat Berlin längst verlassen, als sich an diesem Samstag Protestierende an mehreren Ecken der Stadt auf den Weg machen. Von Kreuzberg aus ziehen über 4000 Menschen in Richtung Mitte. Sie tragen die kurdischen Farben, sind teils martialisch gekleidet und skandieren "Erdoğan Terrorist". Die Demonstration gegen das PKK-Verbot verläuft weitgehend friedlich. Es gibt vereinzelte Festnahmen.
"Auf diesen Scheiß haben wir keinen Bock"
Wenig später ist davon am Kottbusser Tor nichts mehr zu sehen. Hier wird nur geschlemmt und über Fußball diskutiert. Sogar die Sonne schaut kurz vorbei. Kaya und Enes (Namen von der Redaktion geändert) sind extra aus Hamburg angereist für das Spiel. Kaya trägt einen Schal, der auf der einen Seite die deutsche und auf der anderen Seite die türkische Flagge zeigt. Er hat ihn schon am Morgen am Stadion gekauft. "Für wen wir sind?", lacht Enes. "Für den Gewinner. Den Schal kann man gut umdrehen." Die beiden Hamburger gehen davon aus, dass "bestimmt ein paar fanatische Leute unterwegs" sind, aber "auf diesen Scheiß haben wir keinen Bock". Deshalb sei "zum Glück Erdoğan auch wieder weg", den sie nicht unterstützen. Es stehe nun ein Freundschaftsspiel an und "die Freundschaft soll gewinnen".
Wie Kaya und Enes kommen viele am Kottbusser Tor am heutigen Nachmittag von weit her. Dortmund, Hamburg, sogar aus den Niederlanden und aus Belgien. Von Sicherheitszone ist hier keine Spur. Immer mal wieder braust ein Polizeiwagen mit Blaulicht vorbei. Aber es sei "alles ruhig", sagt eine Polizistin, wenngleich mehrere Hundertschaften wegen des Länderspiels in der Gegend im Einsatz seien. Vier Frankfurter erzählen, dass das Spiel für sie "keine besondere Bedeutung habe", dass sie angereist wären, um "einfach mal die türkische Nationalmannschaft zu sehen und etwas anderes zu erleben".
Am anderen Ende der Stadt sitzen vor den Toren der alten Schering AG im Wedding fünf Frauen mit Palästina-Schal auf ihrem Weg zu der am Invalidenplatz unweit des Berliner Hauptbahnhofs beginnenden Pro-Palästina-Demo. Sie zwängen sich in den Bus der 120er-Linie, in dem "Kurwa"-fluchende Polen sich kaum Gehör verschaffen können. Der Großteil überhört sie. An der Haltestelle Habersaathstraße steigen sie aus und mischen sich in das Meer der Demonstranten.
Palästina-Flaggen und "Freiheit für Gaza"
Entlang der Scharnhorststraße hat die Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern groß aufgefahren. Vor den rund 40 Wannen sammeln sich die Einsatzkräfte. Sie stehen vor dem Bundeswirtschaftsministerium, dessen Chef, Robert Habeck, Anfang des Monats in einer vielbeachteten Ansprache an die Nation mahnende Worte an die in Deutschland lebenden Muslime gerichtet hat.
"Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt - zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden", hatte der Grünen-Politiker gesagt und ergänzt: "Das Gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Sie müssen sich klipp und klar vom Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen."
Jetzt sind nach Polizeiangaben 4000 dieser in Deutschland lebenden Muslime gekommen, um zu demonstrieren. Rund 10.000 sind erwartet worden. Die, die gekommen sind, verschaffen sich Luft: Sie sind für Palästina und gegen Deutschland und Israel. "Freiheit für Palästina, Freiheit für Gaza", skandieren sie, werfen ein "Israel bombardiert, Deutschland finanziert" hinterher und enden bei "Unsere Kinder wollen leben, Deutschland ist dagegen, Israel ist dagegen". Der Veranstalter gab vom Lautsprecherwagen aus bekannt: "Wir wollen friedlich mit den Juden zusammenleben."
Neben den unzähligen Palästina-Flaggen und Pali-Tüchern sind auch einige Türkei-Flaggen auszumachen. Dazu gesellen sich eine Deutschland-Flagge, eine des Libanons und eine Bosniens. "Lasst Euch nicht betrügen, deutsche Medien lügen", schallt aus den Mündern, dann macht sich der Zug auf in Richtung Siegessäule. Die Demonstrierenden schwenken ihre Flaggen, auch hier sind die türkischen Flaggen der rote Farbtupfer neben der in den panarabischen Farben gehaltenen Palästina-Flaggen.
Am Kotti nur Frieden
Ganz anders die Lage am Kottbusser Tor. Keine Palästina-Schals oder -Flaggen, keine Pali-Tücher. Hier regieren Jogginghosen und Wintermäntel. Adem, Can und Mehmet, allesamt Anfang 20, sind aus Kiel angereist. Sie spielen dort zusammen in einem Fußballverein und erklären im vollgestopften Dönerladen: "Es kommt nur alle zig Jahre vor, dass man das türkische Team live sehen kann." Beim Plaudern über ihre Mannschaft geraten sie ins Schwärmen. Unter Vincenzo Montella laufe es jetzt viel besser als unter Stefan Kuntz, man habe eine der jüngsten Mannschaften Europas und in unserer Liga spielen jetzt mehr Türken als früher und nicht mehr so viele Alt-Stars aus Europa.
Ein paar aus ihrem Fußballteam hätten in der letzten Woche gesagt, Deutschland würde die Türkei "wegklatschen", deshalb hoffen sie auf einen Sieg von Montellas Männern. Es gibt für sie aber weitere Gründe: "Wir sind in Deutschland aufgewachsen, aber wegen unserer Familien dort identifizieren wir uns mehr mit der Türkei. Auch, weil die Türkei in dem Spiel ein Underdog ist." Aber sollte Deutschland gewinnt, "freuen wir uns auch mit". Vielleicht wäre ein Unentschieden mit vielen Toren das Beste.
Ihre Tickets haben die jungen Fans über die DFB-Seite gekauft, "wir sitzen also auch mit deutschen Fans". Auch Adem, Can und Mehmet haben einfach nur Lust auf Spaß und Fußball. Über Politik wird zwar diskutiert, aber sie solle nicht mit rein ins Stadion. Erdoğan macht zwar viel falsch, meinen sie, "aber das Problem in der Türkei ist, dass ein Nachfolger es auch nicht besser machen würde." Die Drei stört aber, dass einige in Deutschland denken, dass "alle Türken hier ihn wählen würden, aber das stimmt nicht". Als Nächstes ist Mesut Özil dran, den sie noch immer bewundern. "Er hat es gut gemacht: Er hat sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden, mit ihr große Erfolge gefeiert und seine türkischen Wurzeln dabei nie versteckt." Dass er in Deutschland dann beim Rücktritt 2018 Rassismus zu spüren bekommen hat, genauso wie später Antonio Rüdiger oder İlkay Gündoğan in Kommentaren in den sozialen Medien, betrübt sie.
Türkischer Fanmarsch bleibt friedlich
Um 17:30 Uhr sammeln sich die Fans der türkischen Nationalmannschaft am Theodor-Heuss-Platz im Berliner Westend. Von hier aus machen sie sich auf den Weg zum Gästeblock im Olympiastadion. Etwa 1900 Menschen, zumeist junge Männer kommen zusammen, dazu viele Polizistinnen und Polizisten. Der Veranstalter hatte Fans beider Teams eingeladen, doch nur ein DFB-Anhänger wird gesichtet. "Türkiye, Türkiye" schallt es in die Berliner Dunkelheit, die immer wieder von Pyrotechnik erhellt wird - obwohl der Veranstalter pflichtschuldig darauf hinweist, dass das Abbrennen von Pyrotechnik zu unterlassen ist. Allerdings: Verglichen mit jedem Bundesliga-Fanmarsch ist das hier eher Wunderkerzen-Niveau. Der Marsch walzt sich weiter durch den alten West-Teil der Stadt hin zum Olympiastadion.
Die Stimmung ist laut, aber friedlich und fröhlich. Vorfreude statt Politik, die Ansagen der Polizei, so ruft es der Veranstalter in die Menge, seien zu respektieren. Bei politischen Äußerungen, das ist dem Veranstalter klar, wäre der Marsch vorzeitig von der Polizei gestoppt und aufgelöst worden. "Dabei geht es aber eher um große Plakate", und nicht etwa um einzelne Palästina-Schals, sagt eine Polizeisprecherin zu ntv.de. Aber statt Plakaten gibt es hier Trommeln. Die Polizei, so sagt sie, habe keine Hinweise auf Problemfans aus der Türkei oder anderen Ländern. Auf ein paar Autokorsos sei man vorbereitet, ansonsten werde eine eher ruhige Nacht erwartet. Der Tag war schon anstrengend genug.
Quelle: ntv.de