Hamburger SV frisst Werder aufEin Spiel als wundervolle Liebeserklärung an den Fußball

Die Fußball-Bundesliga hat dieses Derby vermisst: Nach fast acht Jahren begegnen sich der Hamburger SV und Werder Bremen mal wieder im Oberhaus und lassen es richtig knallen. Die zweite Halbzeit ist etwas für Liebhaber des alten Fußballs.
In den letzten Sekunden des völlig enthemmten Nordderbys verordnete Luka Vušković seiner Mannschaft Ruhe und Gelassenheit. Das war in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Denn Luka Vušković war zuvor nicht als Mann aufgefallen, der dieses Spiel beruhigen wollte. Der 18-Jährige war stets bemüht, den Eskalationspegel dieses Duells zwischen seinem Hamburger SV und Werder Bremen hochzuhalten. Er rannte seine Gegenspieler ab, räumte sie aus dem Weg, erzielte ein Traumtor und rudelte, als gäb's kein Morgen mehr. Für eine nur leicht ausgeführte Kopfnuss sah er Gelb und provozierte danach ständig mit "Leise"-Gesten. Nun aber, in den letzten Sekunden, schob er seine Mitspieler weg, erwartete die letzte Werder-Chance und jubelte. Der HSV gewann 3:2.
Fast acht Jahre war es her, dass sich die beiden Riesen aus dem Norden in der Fußball-Bundesliga begegnet waren. Im Februar 2018 gewannen die Bremer mit 1:0. Danach verschwand der Dino aus der Bundesliga und blieb eine Ewigkeit verschüttet. Bitter für die Bundesliga, die solche Vereine zum Leben braucht. Weil sie das liefern, was das Spiel so sehr liebt: Drama und Emotionen.
Echter Fußball statt FIFA-Shitshow
Der Fußball setzte mit diesem Derby ein Statement, wie er sein will. Er zeigte ein ganz anderes Gesicht als jenes vom Freitag, das die Welt erschaudern ließ. In einer unerträglichen Hochglanz-Shitshow hatte sich FIFA-Boss Gianni Infantino dem US-Präsidenten Donald Trump zu Füßen geworfen. Er hatte den finalen Beweis geliefert, dass der Fußball längst zum politischen Machtinstrument geworden ist, trotz aller Bekenntnisse, vor allem von Infantino, dass man ein unpolitischer Akteur sei. Der Fußball hatte tief in den Abgrund geschaut.
In Hamburg war nichts Hochglanz, hier krachte und knallte es an jeder Ecke. Auf den Tribünen wurde gefackelt, was das Zeug hält, und auf dem Rasen wusste jeder Fußballer um die große Bedeutung des Spiels. Hier ging es nicht um drei Punkte, hier ging es um die emotionale Vorherrschaft im Norden. Und die sicherte Yussuf Poulsen ab. Was für eine Heldengeschichte. Im Sommer war die Klublegende von RB Leipzig an die Elbe gewechselt. Er wurde Kapitän und fiel immer wieder aus. Gerade mal 184 Minuten war er für seinen neuen Klub im Einsatz gewesen. Zwei weitere reichten ihm, um sich einen seinen Platz in der HSV-Geschichte zu sichern.
Die gigantische Erlösung des Yussuf Poulsen
In der 84. Minute stürmte Miro Muheim los. Er büffelte sich durch das Mittelfeld, vorbei an allen Werderanern. Er hätte dabei fallen und einen Freistoß rausholen können. Doch Muheim schob sich unaufhaltsam durch, legte quer auf Poulsen, der den Ball direkt und so brillant schoss, dass er genau in der Ecke einschlug. Was für ein Tor. Was für eine Torpremiere. Bislang hatte der Däne noch nicht für die Hamburger getroffen, die sich so sehr nach einem echten Neuner sehnen. Nach einem wie Poulsen. Im Stadion brach nun die Hölle los. Poulsen schrie alle Schmerzen davon, die Fans ihm ihr kaum zu fassendes Glück entgegen. Der HSV tobte vor Glück.
0:1 hatten sie zur Pause hinten gelegen. Jens Stage hatte das Stadion unmittelbar vor der Pause schlafen gelegt. Die Hamburger waren nach einem Ballverlust eiskalt ausgekontert worden. Verdient war das nicht. Aber so ist Fußball. Und er ist noch mehr so, wie die zweiten 45 Minuten wurden. Die Hamburger rannten an, mit jeder Minute wilder, ein wenig verzweifelter. In der 56. Minute lag Vušković in der Luft, wollte einen Fallrückzieher ansetzen. Das misslang. Gefährliches Spiel. Rudelbildung. Vušković provozierte und hatte Glück, dass der Schiedsrichter nicht allzu kleinlich pfiff. Das Derby hatte hohes Fieber.
Was für ein Tor
Und es stieg und stieg. Über die linke Seite rannten die Hamburger auf Bremen zu. Muheim und Jean-Luc Dompé brachten den Ball nach vorne, er landete über weitere Stationen bei Albert Lokonga, der sich überragend durchsetzte und traf, 1:1 (63.). Hamburg bebte, der Spieler gleich mit. Es war aber nur ein leckerer Aperitif für das, was dann serviert wurde. Grätsche, Gelbe Karten und ein Freistoß für den HSV. Fábio Vieira hob den Ball in den Strafraum. Da stand der robuste Abwehrhüne Vušković und tat etwas völlig Verrücktes: Er hob die Hacke nach hinten hoch und drückte den Ball mit einer ausschlagenden Bewegung ins Tor (75.). Vušković, der von Tottenham ausgeliehen ist, kannte kein Halten mehr. Er jubelte die Welt in Grund und Boden. Und feierte vor allem sich. Der FC Bayern soll ihn einmal abgelehnt haben, weil er zu "arrogant" spielte.
Vušković ist ein Typ, bereits 18 Millionen Euro wert, und hat das Potenzial, sich den Titel zum besten Liga-Transfer des Sommers zu verdienen. Seit Wochen trägt der Bruder des wegen Dopings gesperrten Mario den Verein. Mit seiner Qualität und seiner Emotion, die nun keine Grenzen mehr kannte. Wie lange die Hamburger noch Freude an ihm haben? Es wird eine eng begrenzte Zeit sein.
"Sicherlich eines der heißesten Bundesliga-Spiele"
Das Derby hatte seine Geschichten aber noch längst nicht auserzählt. Die Freude auf den Tribünen tobte noch, da stand es 2:2 (78.). Der eingewechselte Justin Njinmah pfefferte den Hamburgern den Ball um die Ohren, 2:2. Ernüchterung, Pyronebel. Ein Fieberrausch zwischen Schweißausbruch und Schüttelfrost. Die Gastgeber spielten auf Sieg, Poulsen kam und traf. Die Szenen des Glücks folgten keinem Drehbuch mehr. Die Kamera konnte gar nicht alles einfangen, was hier eskalierte. "Mein erstes Tor, im Nordderby, vor der Nordkurve - mehr geht gar nicht", sagte der Derbyheld und scherzte: "Ich kann jetzt meine Karriere beenden." Er hatte in seiner Karriere viel erlebt, den Erfolgsweg von RB aus der 4. Liga in die Spitzengruppe der Eliteklasse etwa, aber er gestand: "Das war sicherlich eines der heißesten Bundesliga-Spiele, die ich bislang gespielt habe."
Poulsen war völlig beseelt. "Für solche Momente wie heute: Genau deswegen spielt man Fußball", sagte der Däne. "Die Spiele, in denen es um ein bisschen mehr geht als um drei Punkte. Die emotional auf dem höchsten Niveau sind. Wo das Stadion 90 Minuten lang kocht. Wo man von den Fans schon zum Stadion begleitet wird: Sowas hofft man als Fußballer, immer zu erleben." Was den Umgang mit seinem Kapitän angeht, steckt der HSV nun in einem kleinen Dilemma. Auf regelmäßige Tore und Einsätze des Stürmers zu setzen, wäre nach den bisherigen Erfahrungen in dieser Saison zu riskant. In der Winterpause einen weiteren Angreifer zu verpflichten, würde Poulsens Perspektiven aber weiter schmälern. Dabei ist er mit 86 Länderspielen, zwei WM- und zwei EM-Teilnahmen für Dänemark der mit Abstand erfahrenste Spieler des Kaders.
Es war immer noch nicht vorbei. Werder suchte den finalen Schlag, aber knallte immer wieder in die Deckung. Trainer Horst Steffen wollte nachher auch nichts davon hören, dass seine Fußballer nicht bereit gewesen seien für dieses Duell. Es sei ein Leichtes, die Einstellung oder die Bereitschaft zu kritisieren. "Das kann ich heute in keinster Weise bestätigen. Beide Mannschaften haben gefightet um den Sieg. Wir sind nach dem 1:2 zurückgekommen und haben gezeigt: Wir schenken das nicht her. Wir sind da." Das galt auch nach dem Schlusspfiff noch, als fröhlich weiter gerudelt wurde. Ehe sich die Hamburger zum Jubeln verzogen, die Eckfahne außer Dienst stellten und den HSV feierten, als gäbe es keinen Morgen mehr.