
Das Rauchmonster frisst sich durch das Leben.
(Foto: IMAGO/Contrast)
Borussia Dortmund kommt bei Union Berlin zu einem 2:0-Sieg. Am Ende hat der Ballspielverein eine kurze Serie des Misserfolgs durchbrochen. Dabei zählt die Mannschaft von Edin Terzić zu den Streichkandidaten des Jahres. Doch dann kommt das Rauchmonster.
In der 2000-Serie "Lost" stürzt der Oceanic Flug 815 auf einer einsamen Insel zwischen Australien und Los Angeles ab. Dort haben die Überlebenden des Absturzes mit allerlei Problemen zu kämpfen. Sie wissen nicht einmal, ob sie überhaupt noch leben. Eine Unwägbarkeit: das Rauchmonster! Eine sich frei bewegende, schwarze Rauchwolke, die manche Menschen angreift. Es kann menschliche Gestalt annehmen. Es zeigt sich in Personen, die nicht mehr da sind. Dadurch kann das Rauchmonster Menschen manipulieren.
Als an diesem Samstag um 15:31 Uhr nach minutenlangen Vorbereitungen eine dicke Rauchwolke aus dem Gästeblock der Dortmunder durch das mit 22.012 Zuschauern vollbesetzte Stadion an der Alten Försterei wehte, war noch nicht klar, welche Gestalt das Monster hier im Osten der Hauptstadt annehmen, wen es angreifen und verschonen würde. Es dauerte bis zur 33. Minute. Dann herrschte Klarheit. Das Rauchmonster nahm die Gestalt von Julian Ryerson an und plagte ab sofort Union Berlin. Gute Nachrichten für Borussia Dortmund. Der ehemalige Köpenicker hatte seinen alten Verein angeschaut und attackiert. Fanden sicher nicht alle gut. Er war der Untote seines alten Klubs.
Julian Ryerson hatte den langen Aufstieg der Gastgeber aus der Zweiten Bundesliga miterlebt. Der Norweger war dann im vergangenen Winter nach langen Jahren in Köpenick nach Dortmund gewechselt, und dort in seiner ersten halben Saison ein entscheidender Faktor im Lauf zur Dann-doch-nicht-Meisterschaft. In der 33. Minute nun erinnerte sich der 26-Jährige daran, wie er einst in diesem Stadion den Bayern-Profi Kingsley Coman aufgefressen hatte, bis der seinen Restkörper vom Platz geschleppt hatte.
30 unverständliche Minuten
Diesmal langte eine kleine Aktion gegen Jerome Roussillon, dem er in der Union-Hälfte mit halblegalen Mitteln den Ball stibitzte, um die bis dahin restlos verunsicherten Dortmunder zurück ins Rennen, um höhere Aufgaben zu bringen. Bis dahin hatte sich das Spiel weit entfernt vom Tor der Berliner abgespielt, die den BVB immer wieder mit einem nicht sonderlich intensiven Pressing zu Ballverlusten zwangen. Die Berliner waren nur nicht in Führung gegangen, weil sie in der Winterpause Kevin Behrens an den VfL Wolfsburg abgegeben hatten und ihn jetzt immer noch mit Zuspielen suchten. Er war nicht mehr da. Der Dortmunder Verteidigung war nur zugutezuhalten, dass sie sich in jeden Ball schmiss und zumindest kämpferisch auf dem Platz vertreten war.
In der Offensive war es beim BVB erschreckend. Das Angriffsspiel sah so aus, dass Karim Adeyemi nach einer Berlin-Ecke den Ball nach vorne trug und es ihm nicht einmal gelingen wollte, einen einfachen Ball zu dem durchbrechenden Jadon Sancho zu bringen. Ganz im Gegenteil: Wenig später gab es erneut eine Ecke für Union. Adeyemis Bälle ins Nichts prägen die wenigen Konterversuche des BVB, der komplett die Kontrolle abgegeben hatte. "In den ersten 30 Minuten hatten wir große Probleme. Wir haben viele Bälle verloren", klagte BVB-Trainer Edin Terzić.
Als Ryerson in der 33. Minute zum Rauchmonster wurde, hatten die Dortmunder zwar zahlreiche peinliche Ballverluste verzeichnet, dafür aber noch keinen einzigen Abschluss. Das 2:3 gegen Hoffenheim aus der Vorwoche hing der Mannschaft noch nach, wie Torhüter Alex Meyer und Terzić zu Protokoll gaben. Es sei eine Fortsetzung gewesen. Keine besonders ansehnliche. Der unter immensem Druck stehende Coach der Dortmunder handelte. Kurz vor dem Ryerson-Kippmoment hatte er Karim Adeyemi von der linken auf die rechte Seite beordert. Er hatte mit dem verlorenen Sohn Jadon Sancho getauscht.
Rönnow rettet Union
Durch Ryersons Zweikampf war Dortmund aufgewacht und plötzlich schüttelten sie für Minuten die Last ab. Das Rauchmonster wälzte in Richtung Tor von Frederik Rönnow. Der kratzte erst einen Ball von Nico Schlotterbeck von der Linie (35. Minute) und war dann nach einem von Julian Brandt abgefälschten Schuss von Ian Maatsen (38.) zur Stelle. Machtlos hingegen war der Däne nach einem feinen Schlenzer des zuvor indisponierten Adeyemi, der in einem Moment der Helligkeit zur Führung traf (41.). Die Dortmunder hatten sich einmal von Seite zu Seite kombiniert, der weitgehend unsichtbare Niclas Füllkrug den entscheidenden Pass gespielt.
Der BVB hatte sich aller Sorgen entledigt. Unter der Woche war die Kritik mal wieder von allen Seiten auf den Verein eingeprasselt. Nach den spielerisch bereits schwachen Leistungen der Vorwochen war das Kartenhaus der Dortmunder beim ersten Windstoß gegen Hoffenheim kollabiert. Die Qualifikation für die finanziell so wichtige Champions League wird in dieser Saison kein Selbstgänger. Die Gerüchte um Trainer Terzić wollten nicht abreißen, hin und wieder war bereits von einem Endspiel in Berlin die Rede. Erst einen Tag vor dem Spiel wurden die Gerüchte in der "Süddeutschen Zeitung" halb einkassiert. Einige Niederlagen, hieß es da, könne der Sauerländer sich noch erlauben.
Davon musste sich Terzić in Berlin keine nehmen, weil Torhüter Meyer die Borussia nach einem Schuss von Kevin Volland mit einer starken Parade in der 56. Minute vor Schlimmerem bewahrte. Der Ersatz von Stammtorwart Gregor Kobel erwies sich wieder einmal als einer der stärksten zweiten Keeper der Liga und lenkte den Ball entscheidend ab. Trotz des weithin desolaten Aufbauspiels der Dortmunder erkämpften sie sich Stück für Stück die Kontrolle und als es ihnen eine gute Viertelstunde vor Schluss gelungen war, das Stadion gegen sich und Schiedsrichter Christian Dingert aufzubringen, war der Sieg in Köpenick absehbar.
Auf der Tribüne regiert die Wut
Das Stadion war aufgrund einiger knappen Entscheidungen von Dingert zutiefst aufgebracht, problematisierte nun jeden Pfiff, rief "Schieber, Schieber, Schieber" und im Gästeblock hüpften die Fans des BVB auf und nieder vor Freude. Endlich war was los und endlich erschienen die drei Punkte realistisch. Union probierte noch einmal alles. Der Ungar Andras Schäfer wollte Elfmeter ziehen, doch niemand ging auf seine Angebote ein. Benedict Hollerbach lieferte sich einen Ringkampf mit Rauchmonster Ryerson. Es half nichts. Auf der anderen Seite rannte der 22-jährige Niederländer Ian Maatsen erst in Union-Außen Josip Juranovic und peste dann in Richtung seines ersten Bundesliga-Treffers. 2:0 in der 90. Minute. Dortmund war erlöst. Für den Moment.
Wenn sich Trainerwechsel andeuten, fallen Klubs für kurze Momente in Schockstarre. Es geht nicht mehr darum, wie der noch amtierende Coach die Mannschaft retten kann, sondern wer den in diesen langen Augenblicken auseinanderfallenden Kader wieder zu einer Einheit führen kann. An diesem Samstag an der Alten Försterei war der BVB noch nicht gewillt, sich dieser Dynamik anzuschließen.
Die kommenden Aufgaben in Bremen und gegen PSV Eindhoven in der Champions League müssen erfolgreich abgeschlossen werden, sonst geht wieder alles von vorne los. Diese Drucksituationen habe man bei Spitzenvereinen immer, erzählte Maatsen nach dem Spiel und alles klang sehr selbstzufrieden. Dabei war der Dortmunder Sieg in Berlin nicht mehr als ein Pflichtsieg. Das Rauchmonster Ryerson hatte seine alten Bekannten aufgefressen. Nicht immer wird das möglich sein.
Als "Lost" nach sechs Staffeln endete, trafen sich die Protagonisten in einer Kirche. Sie hatten dort abseits der Insel aufeinander gewartet. Eine Tür öffnete sich. "Erinnere Dich und lass los", sagte Christian Shepard, der Vater der Hauptfigur Jack zu seinem Sohn. Der war erstaunt. "Wir ziehen nur weiter", sagte Shepard sr. "Wir finden schon raus, wohin." Noch ist Borussia Dortmund nicht so weit. Das Rauchmonster lebt. Ryerson sei Dank. "Wir wissen aber, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben", sagte Terzić am Samstag.
Quelle: ntv.de