Gittens lässt den BVB beben Umstrittenes Tor des FC Bayern legt Westfalenstadion schlafen
01.12.2024, 05:39 Uhr
Bei Jamal Musiala ist gerade vieles Kopfsache.
(Foto: IMAGO/Eibner)
In einem mitreißenden Bundesliga-Topspiel kommt der FC Bayern beim BVB spät und umstritten zurück. Wieder trifft Jamal Musiala per Kopf. Um einen anderen Starspieler mussten sich die Münchner sorgen.
In der 73. Minute verließ die Hoffnung den Rasen des alten Westfalenstadions. Noch stand es 1:0 für Borussia Dortmund, noch war der erste Bundesliga-Heimsieg gegen den FC Bayern seit über sechs Jahren möglich, doch er war an diesem fortschreitenden Samstagabend von Minute zu Minute etwas unwahrscheinlicher geworden. Nun eben das: Jamie Gittens, der bereits von den Boulevard-Medien zum neuen Dortmunder 100-Millionen-Euro-Mann hochgehypte Superengländer, musste das Feld verlassen. Entkräftet von all dem Gesprinte.
Er hatte Manuel Neuer bei dessen Eintritt in die Top Ten der Bundesliga-Rekordspieler den Ball über den Scheitel gezogen und das 1:0 erzielt (27.), er hatte das Stadion in Ekstase versetzt und war kurz davor, es endgültig explodieren zu lassen. Doch nach 50 Minuten nahm er den Ball nach einem fantastischen Konter über DFB-Spieler Maximilian Beier an, statt ihn direkt mit mehreren hundert km/h erneut über Neuer zu versenken. Der im Tempo gnadenlos unterlegene Konrad Laimer konnte gerade noch klären. Anders als zuvor, als er sich hatte vernatzen lassen.
In der 73. Minute also gingen er und die Hoffnung. Nur die der Insel-Journalisten blieben. Sie sinnierten später in der Mixed-Zone des Dortmunder Stadions über das Nationalmannschaftsdebüt des Flügelrenners. Für Gittens kam Donyell Malen, auch ein schneller Mann. Aber von der Form des jungen Engländers ist der Niederländer meilenweit entfernt. Um ein eigenes Tor ging es in dieser Phase des Spiels nur noch nachrangig. Es brauchte frische, rennende, kämpfende Kräfte gegen die riesige Übermacht des Gegners. Der FC Bayern hatte nach einer überraschend schwachen ersten Halbzeit und der Verletzung von Torjäger Harry Kane längst den Wut-Turbo angeworfen. Sie schnappten sich schnell nach Wiederanpfiff den Ball und wollten ihn nicht mehr hergeben. Momente wie der erfolgreiche Beier-Gittens-Konter wurden Sammlerstücke. Der Druck wurde groß und größer. Der verzweifelte Trainer Vincent Kompany warf immer neue Helden in das Spiel, um irgendwie die Wende herbeizuführen. Und in der 85. Minute passierte es, Jamal Musiala traf erneut per Kopf, 1:1, Endstand.
Sahin wundert sich über die Regel
Die legendäre Dortmunder Südtribüne verstummte für einen Augenblick, dabei hatte sie sich und die eigene Mannschaft in diesem plötzlich einseitigen Gigantenduell doch so richtig stark gesungen. Ihre Helden kämpften um jeden Zentimeter, warfen sich in jeden Zweikampf, rannten sich die Lunge aus dem Leib. Wie Julian Ryerson, der erst Kompanys überraschendes Experiment mit Mathys Tel auf der rechten Außenbahn scheitern ließ und sich dann um Kingsley Coman kümmerte, der ihm alles abverlangte. Und noch viel mehr. Yan Couto löste ihn ab. Oder Felix Nmecha, der in der ersten Halbzeit überall war und vor allem an den Hacken von Musiala. Als hätte er mehr als zwei Beine stopfte er Löcher, rettete Bälle, behauptete Bälle, erkämpfte Bälle und organisierte als neuer Chef den Spielaufbau. Was bisweilen ein Spiel mit dem Feuer ist, denn oft wird er unter größtem Druck in gefährlichen Räumen in der eigenen Hälfte angespielt. Dem Stadion stockt dann der Atem.
Als Musiala traf, sich vor dem eigenen Fanblock wieder und wieder auf den Kopf hämmerte, redeten die Spieler des BVB auf Schiedsrichter Sven Jablonski ein. Denn der Ausgleich, der Endstand, hatte einen Beigeschmack. Ein Freistoß von Leroy Sané landete mitten im Gesicht von Niklas Süle, der danach benommen hinfiel und liegen blieb. Das Spiel lief weiter, Musiala sich im Zentrum, wo Süle sonst arbeitete, frei und Tor. Aber war das alles rechtens? Nicht aus Sicht der Borussen. "Ich kenne die Regel so, dass das Spiel abgebrochen oder unterbrochen wird, wenn jemand im Gesicht getroffen wird", sagte Nuri Şahin, der nicht das erste Mal mit Jablonski an diesem Abend haderte und dafür spät im Spiel Gelb sah. "Der Ball wird abgewehrt, dann folge ich dem Ball, wie es unmittelbar weitergeht - und ein Tor erzielt wird. Dann habe ich auf Tor entschieden", sagte der Schiedsrichter bei Sky. "Ich war mir nicht sicher, ob eine Kopfverletzung vorliegt."
Auch Kompany wollte keine Fehler erkennen. Weder vom Schiedsrichter, noch von seiner Mannschaft, die ja weitergespielt hatte. "Das war schlau von Süle, er ist ein erfahrener Verteidiger. Wenn du dir die Hand vors Gesicht hältst, pfeift der Schiedsrichter vielleicht. Er hat es versucht, kein Problem", bekannte Kompany und verteidigte seine Spieler: "Es geht alles so schnell und man kann nicht immer sofort aufhören zu spielen", sagte er weiter und hoffte, dass es dem Dortmunder gut gehe. Tat es augenscheinlich, er spielte ohne Behandlung weiter. Für Kompany war das Tor in Ordnung und er fand, dass doch alle das so sehen würden. Er irrte. Nico Schlotterbeck hätte die Szene abgepfiffen, wollte die Sache aber nicht größer machen. Sahin und Jablonski klärten die Dinge derweil noch auf dem Feld sachlich: "Damit war die Sache für mich erledigt", so der BVB-Coach.
Denn es gab nicht den Hauch eines Zweifels, dass sich der FC Bayern das 1:1 verdient hatte. Obwohl sie seit der 33. Minute auf jenen verzichten mussten, den sie immer suchen. Harry Kane hatte sich abgemeldet, irgendwas im Oberschenkel. Thomas Müller, der ihn ersetzte, war später in Sorge. Ein Harry Kane setze sich in so einem Spiel nicht einfach ab, befand er. Er fürchtete Schlimmeres. Anders als Trainer Kompany und Sportvorstand Max Eberl, die beide um vorsichtige Entwarnung bemüht waren. Ein Ausfall des Torjägers wurde die Münchner vor dem DFB-Pokal gegen Bayer Leverksen in der kommenden Woche schwer treffen. Denn eine echte Alternative haben sie nicht. Auch nicht Müller, der als Fußballer so wahnsinnig viel kann, nicht aber einen Kane ersetzen.
Musiala zaubert für seine Zukunft
Dortmund: Kobel - Ryerson (74. Couto), Anton (17. Süle), Schlotterbeck, Bensebaini - Nmecha, Groß, Sabitzer (90. Reyna), Beier, Gittens (74. Malen) - Guirassy; Trainer: Sahin
München: Neuer - Laimer (62. Boey), Upamecano, Kim (80. Olise), Davies - Kimmich, Goretzka - Sane, Musiala, Tel (62. Coman) - Kane (33. Müller); Trainer: Kompany
Schiedsrichter: Sven Jablonski (Bremen)
Tore: 1:0 Gittens (27.), 1:1 Musiala (85.)
Gelbe Karten: Ryerson (2), Beier (2) - Sane, Upamecano (4)
Zuschauer: 81.365 (ausverkauft)
Und so endeten viele Münchner Angriffe lange Zeit in einer panischen Leere. Dort, wo der Ball hinsollte, damit es gefährlich wird, da war niemand. Doch je länger das Spiel dauerte, desto mehr hieß die Antwort beim FC Bayern: Musiala. Wieder einmal. Der 140-Millionen-Euro-Mann (Marktwert) ist der stets bereite Problemlöser. Und mit jedem Problem, das er löst, wird er teurer. Derzeit spielt er um seine Zukunft.
Der FC Bayern will, dass diese in München liegt und weiß, dass eine Vertragsverlängerung von Woche zu Woche das bessere Blatt in die Hand des Spielers mischt. In der ersten Halbzeit hing er fest im Netz der Dortmunder Spinne Nmecha. Doch dann dehnte er seinen Aktionsradius aus, war überall. Selbst der mehrbeinige BVB-Chef kam nun nicht mehr mit. Unmittelbar vor Gittens Monsterchance zum 2:0 dribbelte Musiala alle aus und legte auf Müller auf, der aus kurzer Distanz am überragend reagierenden Gregor Kobel scheiterte. Im alten Westfalenstadion ahnten sie, was nun auf die zurollen würde. Aber sie genossen es. In der Halbzeit trällerte Jennifer Lopez "Waiting vor tonight" vom Band. Etwas Großes sollte passieren.
Beim letzten BVB-Sieg spielte Ribéry noch
Wie im November 2018, als der BVB zuletzt vor eigenem Publikum den FC Bayern besiegte. Niemand aus dieser Startelf spielt noch für die Schwarzgelben, denen Paco Alcácer damals die magische Nacht bescherte. Auf der anderen Seite war Franck Ribéry noch aktiv. Das war eine andere Zeit. Sie wirkt so weit her, dass einen das Gefühl beschleicht, eine ganze Generation habe sich erfolgreich am Rekordmeister abgearbeitet.
Sie waren, zurück ins Hier und Jetzt, zur Halbzeit voll im Spiel. Dabei war die Angst vor einem erneut denkwürdigen Debakel groß gewesen. Denn die Münchner sind in dieser Saison in viel besserer Verfassung als beim letzten Spiel an gleicher Stelle. In der vergangenen Saison erlebten die Tuchel-Bayern eine ihrer ganz seltenen Sternstunden. Nach neun Minuten führte das Wut-Ensemble schon mit 2:0, am Ende stand es 4:0. Harry Kane traf dreifach und der Trainer rechnete gnadenlos mit den Sky-Experten Lothar Matthäus und Dietmar Hamann ab.
Von solch einem Multi-Spektakel war das Wiedersehen in neuer Besetzung weit entfernt. Auch davon, ein Kampf um die Vormacht im deutschen Fußball zu sein. Die haben sich die Münchner in dieser Saison mit Besonnenheit von den Leverkusenern zurückgeholt. Der BVB hat im Kampf ganz oben derzeit (noch) nichts zu melden. Wie so viele andere Teams auch, deswegen hatte Uli Hoeneß den Fans des Rekordmeisters die Meisterschaft ja bereits versprochen. Was für Wirbel sorgte, wie alles, was Hoeneß sagt. Also ging es an diesem Abend ums Prestige und ein auch ein kleines bisschen darum, Hoeneß das ewig freche Mundwerk zu stopfen.
Die Bayern war mutig gestartet, der BVB wirkte nervös. Einmal bitte wie immer, die Bestellung fürs Topspiel-Dinner war kurz davor, in die Küche telegrafiert zu werden. Aber dann grätschte Nico Schlotterbeck Musiala an der Mittellinie um, machte ein Kraftgeste Richtung Publikum und riss die Kollegen mit. Die attackierten feurig und verteidigten konzentriert. Ließen sich vom Ausfall von Waldemar Anton nicht umwerfen und jubelten wie die Wilden, als Gittens über den Flügel gerast kam und sehenswert vollendete. Auf der Süd brannten rote Fackeln, Sahin sprang in die Luft. War was möglich? Hier und heute? Weitermachen, malochen, Spinnennetze knüpfen, kontern. Kane verletzte sich, Bayern suchte und fand nichts, 1:0, Pause. Die Festung hielt, die Angriffe der fahrigen Gäste waren aber auch mau gewesen.
Mitreißende Unordnung ergreift das Spiel
Als Wachmacher spendeten die Münchner Fans ihrer Mannschaft auch zum Wiederanpfiff eine Pyro-Show, die war funkelnder als jene zu Beginn. Ein vorweihnachtliches Blitzen. Musiala rannte los, fand Müller. Dann Gittens. Das Topspiel drehte hoch, endlich Puls auf beiden Seiten. Atemberaubende Momente. Musiala probierte es aus der Distanz, der Ball segelt haarscharf am Tor vorbei (59.), deutlicher ist es bei Leroy Sané, der indes besser stand als sein nicht mehr zu bändigender Mitspieler (60.). Die Zuschauer werden unruhig, der BVB steht zu tief. Aber mehr geht nicht. Aus der Unruhe wächst unbändige Anfeuerung. Jeder Zweikampf wird gefeiert wie ein Tor. Dann ein Unikat-Moment. Marcel Sabitzer wird herrlich von Beier geschickt und scheitert an Neuer. In der Mitte tobt Serhou Guirassy, der Superstürmer des BVB, er stand alleine und frei. Haare raufen, weiterkämpfen.
Auf dem Platz knallt und knistert es. Jablonskis Linie ist großzügig, die Dortmunder wollen Fouls, bekommen sie nicht. Sahin sieht Gelb, er versteht das alles nicht mehr. Auch Kompany nicht. Der bringt Gefahrspieler Michael Olise, die nächste Rakete. Der flankt schließlich perfekt auf Musiala, 1:1, Kompany kann sich nicht mehr halten. Eine mitreißende Unordnung hat das Spiel nun ergriffen, Leroy Sané will einen Elfmeter, bekommt Gelb. Wegen Meckerns. Nachspielzeit, Freistoß für den BVB, Neuer faustet den Ball aus der heiklen Zone vor sich, Beier haut den Abpraller in den Unterleib von Alphonso Davies, der ringt nach Luft. Dann ist Schluss. Sahin und Kompany fallen sich in die Arme, die Spieler treten vor ihre Kurven. Es gibt Applaus, aber keinen Sieger.
Und schnell kommt auf dem Weg vom Stadion in die Stadt die Frage auf, die Dortmund seit Tagen in Atmen hält: Ist der gigantische Weihnachtsbaum (der eigentlich viele Bäume sind) der hässlichste aller Zeiten? Viele sagen: ja. Darauf einen Strandfeuer. Wie warm es doch ist.
Quelle: ntv.de