An der Seitenlinie eskaliert's Vielleicht hat der BVB den richtigen Trainer längst gefunden
26.01.2025, 08:08 Uhr
Ein höchst emotionaler Typ: Mike Tullberg.
(Foto: IMAGO/Moritz Müller)
Borussia Dortmund legt im ersten Spiel unter Interimstrainer Mike Tullberg los wie die Feuerwehr und erlebt schnell zwei bittere Momente. Trotz Führung reicht es nur zu einer Punkteteilung. Und dennoch gibt es einen großen Gewinner.
Tief in der Nachspielzeit flog Julian Ryerson nochmal wie wild durch die Bremer Hälfte. Wie ein ausgehungertes Raubtier auf Beutezug war der Außenverteidiger des BVB am eigenen Strafraum losgerannt, hatte den nur den Ball im Blick, rempelte sich an zwei Werder-Fußballern vorbei und wollte diesen verdammten Ball einfach nur auffressen und ihn dann erst im Tor der Bremer wieder ausspucken. Doch Ryerson, das Raubtier, flog auf seinem wilden Beutezug knapp am Ball vorbei. Torwart Michael Zetterer spielte ihn gerade noch rechtzeitig weg.
Auf die rechte Seite. Dort aber lauerte bereits das nächste Dortmunder Raubtier: Mike Tullberg, der Trainer der Mannschaft in diesem Spiel. Er trieb seine Männer wie ein Wahnsinniger zurück. Vollgas, verteidigen, nicht auch noch diesen einen Punkt herschenken. Und seine Männer rannten, verteidigten. Mit Glück und Leidenschaft. 2:2 stand es da. Dabei blieb es. Dortmund hatte ein noch 2:0 hergegeben, über 70 Minuten in Unterzahl gespielt und war in diesen letzten Minuten physisch komplett am Ende.
Mit dem Schlusspfiff fielen sie um, auf die Knie, auf den Boden. Kein Tropfen war mehr im Tank. Damit war ein Auftrag erfüllt. Coach Tullberg hatte zum Minimum für diesen Samstag erhoben, dass seine Spieler kämpfen bis sie umfallen. Das hatten sie getan. Aber den festgezogenen Knoten der Krise, die in der Nacht zu Mittwoch Nuri Şahin fraß, hatten sie nicht durchschlagen können. Im Jahr 2025 bleibt der BVB sieglos. In der Tabelle steckt der Klub im Sandwich zwischen dem SC Freiburg und dem FC Augsburg. Mehr Niemandsland geht nicht.
Was haben die Fußballgötter nur gegen den BVB?
"Das ist unser Schicksal, das haben wir uns selbst eingebrockt", sagte Kapitän Emre Can. "Was uns nicht hilft, ist Mitleid mit uns selbst haben." Dabei hätten gegen Bremen die ersten 21 Minuten reichlich Anlass dazu gegeben. Nach zwölf Minuten musste Felix Nmecha, die alles umgreifende Mittelfeldspinne, raus. Neun Minuten später flog Nico Schlotterbeck mit Rot vom Platz. Er hatte Marco Grüll als letzter Mann nicht sehr geschickt vor dem Strafraum umgestoßen. Durch das Westfalenstadion tobten wütenden Schockwellen. Was hat der BVB den Fußballgöttern bloß getan, dass deren Zorn immer wieder ohne Gnade herniedergeht?
Auch Tullberg war für den Moment verzweifelt. Das kann doch nicht wahr sein, schoss es ihm durch den Kopf. "Wenn es scheiße läuft, läuft es scheiße", sagte er später. Aber der Däne hatte sich für diesen Nachmittag etwas vorgenommen: Nicht hadern, keine Ausreden suchen. Positiv bleiben, immer weitermachen. Marschieren, kämpfen. Auch wenn jeder Spielplan nun durchkreuzt war, Tugend-Fußball in Tullberg-Manier geht auch mit einem Mann weniger. Seine Mannschaft zog sich zurück, setzte auf Überfälle. Die Protagonisten dafür: Jamies Gittens und Karim Adeyemi, um den es Wechselgerüchte gibt, die den BVB zur Weißglut treiben. Ihr Tempo war eine Waffe, ihre Unentschlossenheit machte sie allerdings weitgehend unbrauchbar.
Tullberg hatte sich der großen schwarzgelben Verzweiflung schon vor diesem Spiel entgegengestellt. Am Freitag hatte er die BVB-Gemeinde aus ihrer Lethargie gerissen. Er wollte seine Spieler im Vollgas-Modus marschieren sehen, mit Sabber vor dem Mund und Messern zwischen den Zähnen. In der digitalen Welt waren die Fans angezündet. Da stand plötzlich einer und brannte. Was ein Gegensatz zu dem zuletzt fast nur traurig dreinblickenden Sahin, der schon durch seine Körpersprache kaum noch taugte, große Dinge anzuschieben.
Ryerson ist komplett angezündet
Mit den großen Dingen wollte sich auch der neue Mann noch nicht beschäftigen. Er konnte und wollte das Spiel nicht neu erfinden. Er konnte und wollte dem BVB nicht binnen weniger Tage alles neu beibringen. Was er aber wollte: Seinen Fußballern den Druck nehmen. Er selbst hat seinen Blick auf das Spiel verändert. Er betrachtet den Fußball als die "allerwichtigste Sache unter den unwichtigen". Vor zwei Monaten, das erzählte er nach dem Spiel nochmal, starb sein Vater. In einer bemerkenswerten Ansprache betonte er, wie wichtig der BVB für die Stadt und die Fans, er hob aber auch seine Fußballer als Menschen hervor. "Wenn du 24 Stunden für etwas brennst, kannst du k.o. gehen." Voller Fokus ja, aber auch Spaß und Abschalten. Schwierig in der Krise.
Und was er noch wollte: Dieser nur noch leise zuckenden Mannschaft, bestehend aus so vielen Nationalspielern, Energie geben. Einer, der besonders intensiv an der Batterie geleckt hatte, war das Raubtier Ryerson. Nach zehn Minuten hatte er zwei Powergrätschen auf den Rasen gebracht, die das Stadion und Tullberg mitrissen. Er hatte aber auch Gelb kassiert, denn in seinem Furor hatte er auch den Fuß von Romano Schmid zu tüchtig bearbeitet.
Aber die Dinge liefen in die richtige Richtung. Der BVB dominierte, ließ seinem Gegner keine Luft zum Atmen. Nur Torchancen gab es nicht. Nicht alles, was in den vergangenen Wochen nicht klappte, ließ sich bloß durch das dänische Feuer korrigieren. Matthias Sammer, der externe Berater des Klubs, hatte der Mannschaft nach dem Frusterlebnis in der Champions League in Bologna alles abgesprochen, was Fußball ausmacht: Die Mannschaft könne nicht angreifen und nicht verteidigen. Mehr Vernichtung geht nicht. Tullberg aber pfiff drauf. Der Trainer glaubte an die Kraft der unbändigen Leidenschaft. Und die lebte in Ryerson.
Ein Sahnetreffer verändert alles
Nach 28 Minuten brachte der Norweger eine Flanke in den Strafraum, Julian Brandt konnte sie vor der Auslinie zu Serhou Guirassy weiterleiten, der den Ball ins Tor köpfte. Das Stadion bebte. All den zornigen Göttern streckte die Borussia die Zunge raus. Tullberg sprang wie ein Derwisch an der Linie entlang. Ein Moment des Wahnsinns ergriff diesen Tempel. Und sie machten weiter. Die Dortmunder rannten, grätschten. Es war plötzlich alles gut. Und es wurde noch viel besser. In der 51. Minute stand es 2:0. Marco Friedl, der Bremer Kapitän, hatte einen Schuss von Guirassy abgefälscht. Der Ball drin, Tullberg drehte frei. Was ist die Steigerung von Derwisch? Der Däne flog durch die Luft, riss die Fäuste nach oben, landete, kniete und schrie das nicht mehr einzufangende Glück vor der Tribüne aus sich heraus. So etwas hatte man in Dortmund lange nicht gesehen. Es weckte große Erinnerungen. Erinnerungen an Jürgen Klopp, diesen dunklen Trainerschatten, den der Klub nicht loswird.
Dass das 2:0 irregulär war, wie der DFB spät am Samstagabend meldete, war den Dortmundern im Moment der Eskalation herzlich egal. Wie lange hatte sie auf diese Erlösung warten müssen? Jetzt war Zeit zum Genießen, denn sie hatten alles im Griff. Sie, diese zehn Mann, gegen die elf Bremer. Ja, was war eigentlich mit denen los? Sie hatten nichts zu bieten. Und schossen plötzlich ein Tor. BVB-Joker Julien Duranville spielte einen Konter nicht gut zu Ende, dann schlug der ebenfalls eingewechselte Leonardo Bittencourt zu. Der hämmerte den Ball aus der Distanz ins Tor, ein absoluter Sahnetreffer (65.), der auf dem Rasen alles veränderte.
Verzweifeln, zittern, kämpfen
Issa Kabore, auch neu im Spiel, drehte seine Gegenspieler fortan schwindelig. Bittencourt organisierte klug und Marvin Ducksch traf nach einer herausragenden Vorarbeit von Jens Stage, der einen Schuss antäuschte, dann aber einen fantastischen Pass spielte, den der Stürmer gegen seinen Ausbildungsverein veredelte, 2:2 (72.). Der verdammte Zorn der Götter! Dortmund klapperte und pfiff aus dem letzten Loch. Torwart Gregor Kobel räumte Mitspieler Marcel Sabitzer ab, das sah kurz böse aus. Aber es ging für beide weiter. Leidenschaft, Kampf, alles reinkloppen gegen die immer offensiveren Bremer. Dann tat sich Maximilian Beier die Chance auf, der Borusse schoss wuchtig aufs Tor (90.), Zetterer hielt stark. Sekunden später die Bremer. Kobel rettet gerade noch gegen Bittencourt, den Nachschuss von Stage schnappt sich Waldemar Anton mit der Wucht seines eingedrehten Körpers. Verzweifeln, zittern, kämpfen, Abpfiff. Und dann Applaus.
Als die BVB-Stars sich vor die Südtribüne geschlichen hatten, nicht wie so oft zuletzt als hart geprügelte Hunde, sondern einfach nur erschöpft, schallte ihnen entgegen: Auf geht's Dortmund, kämpfen und siegen. Den ersten Teil der Mission hatten sie erfüllt. Am zweiten können sie Mittwoch arbeiten, wenn es in der Champions League gegen Schachtjor Donezk geht. Wieder mit Tullberg. Das verkündete Klubboss Lars Ricken. Und eigentlich sei das schon vor dem Spiel gegen Bremen klargewesen. Aber Ricken wollte erst "100 Prozent Mike Tullberg" sehen. Die bekam er. Das gefiel ihm: "Mike erreicht die Mannschaft emotional. Wir sind mit ihm hervorragend aufgestellt."
Und plötzlich bekommt der BVB mehr Zeit, als er sich das vielleicht vorgestellt hat. Die von den Fans mit klaren Botschaften attackierten Bosse, in einem verzwickten Alphatiergeflecht offenbar zum Unwohl des Vereins sehr zerstritten, können nun in Ruhe abwägen, was diese Mannschaft braucht. Wirklich einen Niko Kovac? Einen Urs Fischer? Einen Joachim Löw? Und doch einfach nur einen Tullberg. Nach seinen ersten 90 Minuten, mehr waren es noch nicht, scheint dieses Trainer-Raubtier jedenfalls bestens vermittelbar in Dortmund. Und hatte hernach nur noch einen Wunsch: Die Kinder in den Arm nehmen. Abschalten.
Quelle: ntv.de