Köpenick verzückt die Bundesliga Warum der BVB bei Union eine klaffende Wunde reißt
19.01.2023, 19:09 Uhr
Julian Ryerson brachte im Herbst Kingsley Coman an den Rand der Verzweiflung.
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Für fünf Millionen Euro wechselt Julian Ryerson von Union Berlin zu Borussia Dortmund. Der Norweger soll den verletzten Thomas Meunier ersetzen und dem nach Mentalität dürstenden Klub neues Leben einhauchen. Der BVB ist verrückt nach dem Stoff, der die Köpenicker beflügelt. Damit sind sie nicht allein.
In der Bundesliga ist es wie überall im Kapitalismus. Es gibt immer jemanden, der es besonders gut macht und der dafür bestraft wird. Weil er finanziell nicht mithalten kann, aber etwas Besonderes an den Markt gebracht hat. Etwas, wonach die Konkurrenten gieren, was sie unbedingt haben wollen. Geschieht das, brechen Träume zusammen und Vereine kehren zurück an den Platz, der ihm vom System zugewiesen ist.
Werder Bremen zerfiel, als die Ära der Mittelfeldikonen nach dem Abgang von Mesut Özil endete, das Ende der großen Zeit der Schalker Knappenschmiede läutete das Ende der Schalker Hochzeit ein, Borussia Dortmund hat sich bis heute nicht vom Abgang von Jürgen Klopp erholt. Jetzt versuchen eben jene Dortmunder, sich mit dem Transfer des Norwegers Julian Ryerson an einem anderen Klub zu bereichern. Es geht ihnen nicht nur um den Spieler, sondern auch um die "Mentalität", die dem 25-Jährigen bei Union Berlin eingepflanzt wurde. Diese Gier ist die aktuell heißeste Ware auf dem Markt Bundesliga. Der BVB steht mit seiner Sehnsucht genau danach nicht alleine da.
Denn Ryerson ist nicht der erste Spieler, der mit seinem Abschied aus Köpenick eine klaffende Wunde hinterlässt. Bislang ist es Union formidabel gelungen, jeden einzelnen Abgang zu ersetzen, die Wunde zu schließen und gestärkt aus der Situation hervorzugehen. Anhänger anderer Vereine neigen bei Enttäuschungen auf dem Transfermarkt schnell dazu, mit aller Macht nachzutreten oder, wie im Falle des neuen Ryerson-Klubs BVB, vor lauter Angst vor dem Ende Spieler nur noch selten in ihr Herz zu schließen.
Ryerson-Wechsel wühlt Union-Fans auf
"In all den Jahren habe ich so viele Spieler kommen und gehen sehen. Viele von ihnen haben sich dabei das verinnerlicht, was es ausmacht, Unioner zu sein. Sie zeigen uns Einsatz, Wille und das Gefühl, Teil der Familie zu sein und bekommen dafür bedingungslose Unterstützung zurück. Das kann dir für deinen Vertrag kein Spielerberater der Welt aushandeln", sagt Sven König, der als "Beschallungsbeauftrager Wumme" mit seiner Songauswahl vor den Spielen in der Alten Försterei ein fundamentaler Bestandteil der Union-Familie ist. Diese verlässt Ryerson nun, um sich dem seit Jahren nach einer ähnlichen Stimmung sehnenden Ballspielverein Borussia aus Dortmund anzuschließen.

Oliver Ruhnert hält sein Telefon fest. Er braucht es für all die Transfers.
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Problem: Dieses Gefühl lässt sich nicht einkaufen. Es ist etwas, für das die Eisernen lange Jahre schwer malocht haben, was in ihrer DNA steckt und etwas, was sie sich bei allen Unebenheiten des Fußballgeschäfts immer noch nicht haben nehmen lassen. Gerade deswegen aber ist dieser widerstandsfähige Klub aus dem Berliner Stadtteil Köpenick ins Visier der restlichen Liga geraten. Die Bundesliga giert nach der Union-DNA. Es ist die Droge, die die Vereine glücklich machen soll. Bei den seit Jahren in einem emotionalen Loch steckenden Dortmundern genauso wie beim kleinen Lokalrivalen VfL Bochum, der mit Marc Lettau in diesem Winter den Assistenten von Oliver Ruhnert, dem Transferkopf der Eisernen, abgriff.
Auch Schalke 04 war auf der Suche danach, scheiterte aber bei dem Versuch, Tim Skarke in den Gelsenkirchener Überlebenskampf zu locken. Seit Jahren greifen sie danach, stillen ihre Sucht in Hoffenheim (mit Grischa Prömel), in Leverkusen (mit Robert Andrich, der auch beim BVB im Gespräch war), in Gladbach (wo Marvin Friedrich nicht glücklich wird) und Augsburg (bei denen Rafał Gikiewicz den Klub über der Abstiegslinie hält). Doch der Wechsel eines Spielers ins Westfalenstadion wühlt die Unioner mehr auf als alles andere zuvor. Dadurch sind sie endgültig auf der Landkarte der Spitzenklubs vermerkt. Zu denen zählen sie sich trotz der hervorragenden Runde bis zur WM-Pause noch lange nicht, doch natürlich würden sie gerne dort oben bleiben. Der Erfolg weckt immer die Sehnsucht nach ewigem Erfolg. Gestillt werden kann diese Sehnsucht nie.
Die magische Nummer 26 beim BVB
Das hat der klappernde Riese Borussia Dortmund in den letzten Jahren schmerzlich erfahren müssen. Die auf Stillstand schielende Transferpolitik der Vereinslegende Michael Zorc hat dem Klub in den letzten Jahren neben viel Bewunderung für das Auge für kommende Superstars auch vollkommen überzogene Gehaltskosten beschert. Es sind Gehälter, die dazu geeignet sind, den Spielern das Ende ihrer sportlichen Ambitionen vorzugaukeln. Bestraft wurde dies auf dem Platz zumeist mit einem Leistungsabfall und neben dem Platz mit einer lähmenden Erwartungshaltung an die Spieler, die immer wieder krachend an der Beantwortung der für das Ruhrgebiet so wichtigen Mentalitätsfrage scheiterten.

Rechtsverteidiger mit der Nummer 26 haben in Dortmund Tradition.
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Die Liste der an den Dortmunder Ambitionen gescheiterten Spieler füllt mittlerweile dicke Schinken. Mit zum Beispiel Emre Can, Thorgan Hazard, Donyell Malen und natürlich dem von der Bildfläche verschwundenen Nico Schulz stehen Gehaltsgiganten und Leistungszwerge am Borsigplatz unter Vertrag. Eine Mammutaufgabe für den neuen Sportdirektor Sebastian Kehl, der den BVB auf der einen Seite in der Champions League halten soll und auf der anderen von der Last der lähmenden Gehälter befreien soll. Es ist weithin unklar, ob ihm dies gelingen wird und ob der BVB gewillt ist und es finanziell stemmen könnte. Ob sie also bereit sind, für einen Umbruch, der das alternde, bald schon nicht mehr tragfähige Fundament erneuern könnte, auch einen Abstieg in die zweitklassige Europa League in Kauf zu nehmen?
Mit Ryerson aber haben sie nun einen Spieler, der den BVB auf die richtige Spur setzen könnte. Nicht unbedingt nur durch seine Leistung, sondern vielmehr als Signal eines Aufbruchs zu neuen Wegen. Dass der Norweger die Nummer 26 und damit die des beim BVB immer noch kultisch verehrten Lukasz Piszczek erhielt, kann durchaus als genau eben jenes Signal verstanden werden. Der Pole kam 2010 von Hertha BSC und niemand hätte nur im Traum daran gedacht, dass er, der gelernte Stürmer, als Rechtsverteidiger eine Ära prägen würde.
Ryersons Aufstieg bei Union Berlin
Durchaus große Fußstapfen, in die der 25-Jährige treten muss. Dass auch er tiefe Abdrücke bei einem Klub hinterlassen kann, hat der variable Außenverteidiger bereits bewiesen. Sein Abschied aus der Alten Försterei ging einher mit jenen Beschimpfungen in Richtung Dortmund, die Fußballfans nur für ganz besondere Momente reservieren. In einem herrlichen Stück verwünschte das Union-Fanmagazin Textilvergehen den Klub aus der Bierhauptstadt und bezichtigte ihn, die Bundesliga systematischer zu zerstören, als Bayern München das je gelungen war.
Während Textilvergehen wütete, gab man sich auf der Gegenseite beim BVB-Gegenstück schwatzgelb.de weithin ahnungslos. "Wer zur Hölle ist Julian Ryerson?", fragten sie sich am Borsigplatz und befeuerten damit wiederum den Unmut der Fans der Berliner. Denn für sie war der Norweger alles. Eine der großen Identifikationsfiguren des Vereins. Der 25-Jährige war einer, der die Geschichte vom Aufstieg aus den Niederungen der zweiten Liga hin zu einem auch in Europa vielbeachteten Klub mitgeschrieben hatte - erst als Einwechselspieler im Aufstiegsjahr und dann immer näher an der Startelf.
Aus der war er in dieser bisher so erfolgreichen Saison für die Eisernen kaum wegzudenken. Weil er sich reinschmiss und wie kaum jemand sonst den Klub auf dem Platz verkörperte. Bis es dazu kam, vergingen einige Spielzeiten. Ryerson wuchs mit dem Klub und eroberte sich erst in dieser Saison seinen festen Platz im Team. Bis dahin war er der Mann hinter der Vereinslegende Christopher Trimmel.
Diese Saison war es anders: Im Spiel gegen Bayern München brachte er Kingsley Coman an den Rand der Verzweiflung. Immer wenn der Bayern-Spieler dachte, jetzt habe er endlich einen Weg vorbeigefunden, tauchte Ryerson wieder vor ihm und vermasselte ihm die Tour. So groß war die Demütigung, dass der Franzose irgendwann einfach seinen Restkörper vom Spielfeld schleppte. "Am Ende gut verteidigt. So muss das sein", erklärte der Norweger seine Leistung. Auf insgesamt 21 Einsätze kam er in der Hinrunde. Einmal, im Pokal gegen Heidenheim, führte er die Eisernen auch als Kapitän in die Alte Försterei. Er war für immer gemacht.
Ein Abgang als Zeitenwende?
"Er war einer, der absolut das Zeug hatte, zehn Jahre bei Union zu bleiben", sagt Sebastian Fiebrig, einer der Köpfe hinter Textilvergehen: "Der Weggang tut sportlich weh. Aber die emotionale Lücke schmerzt mehr. Denn Julian war einer von uns." Nicht nur Fiebrig geistern dabei die Bilder des kometengleichen Aufstiegs der Eisernen im Kopf herum. Fiebrig zählt die Momente auf, die bleiben werden. Erinnert sich daran, wie Ryerson einmal bei einem Europapokalspiel in Israel auf einer Kiste saß und die Gesänge der Unioner in sich aufsaugte.
Der Norweger hatte das 1:0 beim Sieg bei Maccabi Haifa erzielt und war so glücklich jetzt. "Manchmal ist es so, dass sich ein Spieler schneller entwickelt als ein Verein. Und trotz der rasanten Entwicklung von Union war Julian Ryerson schneller." Es ist ein Abgang, der in der Bundesliga eine Zeitenwende markiert. Erstmals hat ein richtig großer Klub bei Union Berlin geräubert. An der Alten Försterei darf dieser Transfer nicht der Beginn einer Erosion sein. Alles, was gut ist, vergeht irgendwann (wenn es nicht Bayern München ist). Das sind die schmerzlichen Lehren der letzten Bundesliga-Jahrzehnte. Alles kommt und geht in Wellen. Ein Transfer der Marke Ryerson kann der Auslöser sein. Das muss Union verhindern. Auch, damit die Bundesliga weiter nach dem Union-Gefühl gieren kann.
Quelle: ntv.de