Hummels-Kritik vs. Grätschgier BVB-"Kinderfußball" zerschellt an der Union-Rebellion
18.10.2022, 12:15 Uhr (aktualisiert)
BVB-Abwehrchef Hummels war mit der Leistung seines Teams alles andere als zufrieden.
(Foto: IMAGO/Contrast)
Union Berlins Aufstand gegen die Großen der Bundesliga geht beeindruckend weiter. Gegen den BVB feiert der Spitzenreiter mit Grätschgier eine doppelte Rebellion. Mats Hummels haut auf den Tisch, weil sich ein Mitspieler zu viel "schnickt" und zu oft an "Social Media" denke.
Dass Könige im Mittelalter verhältnismäßig oft nicht ruhig und altersmüde im Bett ins Jenseits drifteten, sondern auf grausame Art und Weise, in Gefangenschaft, oder unter ungeklärten Umständen starben, ist bekannt. Schon damals waren einige Zeitgenossen der Meinung, dass es quasi eine gute Sitte sei, die Könige irgendwann umzubringen. Nun hat die Bundesliga das Mittelalter weit hinter sich gelassen und es geht im Fußball zum Glück auch nicht um Leben und Tod (wenngleich Liverpool-Legende Bill Shankly das natürlich anders sah). Dennoch: Was Union Berlin in dieser Saison auf den Rasen bringt, ist nicht anderes als eine gewaltvolle Rebellion. In mehrfacher Hinsicht. Am Sonntagabend sind es die erfolgsverwöhnten Adligen von Borussia Dortmund, die sich der neuen Übermacht im Königreich geschlagen geben müssen.
Seit vielen, gähnend langweiligen Jahren heißt der Herrscher der Bundesliga FC Bayern und der Thronfolger BVB. Eigentlich. Mit dem 2:0-Sieg über den Revierklub stehen die Unioner nunmehr seit vier Partien, seit dem 6. Spieltag Anfang September, ganz oben in Fußball-Deutschland. Tabellenführung und 23 Punkte aus zehn Spielen, trotz Doppelbelastung durch die Europa League. Trotz eines viel kleineren Etats, trotz einer viel kürzeren Bundesligazugehörigkeit. Das ist mehr als eine Momentaufnahme. Das ist ein Aufstand gegen das Establishment, ein Angriff auf die Herrschaftstradition von Bayern und Dortmund. Eine Rebellion der eisernen Ritter aus Köpenick.
Die schwarze Wintermütze tief ins Gesicht gezogen, schnauft Mats Hummels in den Katakomben der Alten Försterei einmal durch und steht dann den Journalisten Rede und Antwort. "Es fehlen ein bis zwei Siege in der Bundesliga", sagt er. "Es fühlt sich gerade nicht so gut an, weil wir nicht viele Spiele gewinnen. Aber es fühlt sich auch nicht so schlecht an, wie es die Statistiken aussagen." Einer seiner Abwehrkollegen wird da schon deutlicher: "Wir wussten, was auf uns zukommt", erklärt der bedröppelte Niklas Süle. "Wir müssen in der Lage sein, bei unserer Qualität mehr Möglichkeiten herauszuspielen." Man müsse jetzt "knallhart analysieren", denn der BVB würde "Woche für Woche gelobt, was wir für Potenzial haben. Dann müssen wir aber auch mit mehr Überzeugung spielen."
Was ist passiert? Das, was bei fast jedem Heimspiel des FC Union geschieht. Der Gegner wird mit scheinbar einfachen Mitteln auf dem - entschuldigen Sie die martialische Darstellungsweise - mittelalterlichen Schlachtfeld namens Fußballplatz niedergekämpft. In der Berliner Festung namens Alte Försterei. Der Hochburg der Eisernen mit schier unerklimmbaren Defensiv-Mauern und kaum aufzustoßenden Toren. Zwar versucht der BVB die Eroberung, doch ihre Bemühungen zerschellen an der meterdicken Steinwand, auch bekannt als die beeindruckende Abwehrarbeit der Köpenicker. Im Burggraben dürften die Dortmunder etliche Skelette anderer Abenteurer gefunden haben, die sich vormals am neuen Monster der Bundesliga versucht hatten.
Der BVB findet weder eine Spielidee noch eine Lücke
Union, das nach dem Europapokal zwei Tage weniger Pause als Dortmund hatte, macht an diesem Sonntagabend von Beginn an mächtig Druck, haut sich in jeden Zweikampf und ist eng und aggressiv am Mann. Fast folgerichtig fällt direkt nach sieben Minuten das 1:0, wenngleich es der Ausrutscher und Mega-Patzer von Torhüter Gregor Kobel ist, nach dem Janik Haberer dann nur noch einschieben muss. Danach ziehen sich die Eisernen - das ist alles geplant - zurück, überlassen dem BVB den Ball und bilden hinten ihr Bollwerk. Die Dortmunder finden weder eine Spielidee noch eine Lücke. Ein halbherziger Freistoß von Jude Bellingham, der mittig über das Tor fliegt, stellt die einzige Halbchance dar (17.). Union hat zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr Torschüsse abgegeben (7:2) und 60 Prozent der Zweikämpfe gewonnen, während der BVB mit 72 Prozent Ballbesitz nichts anzufangen weiß.
"Es muss aus manchen Köpfen raus, dass erfolgreicher Fußball immer sexy und Hacke, Spitze, eins, zwei, drei auf fünf Metern ist", motzte Hummels nach dem 1:1 in der Champions League unter der Woche gegen den FC Sevilla. Das passt auch an diesem Abend, denn das einfache Spiel der Unioner ist das erfolgreiche. Dem BVB fehlt die Körpersprache komplett, er agiert ohne Tempo und Dynamik, fahrig mit dem Ball und unaufmerksam im defensiven Umschalten - genau so darf man, das ist längst kein Geheimnis mehr in der Bundesliga und dürfte sich auch bei den Schwarz-Gelben herumgesprochen haben, nicht gegen Union spielen.
Adeyemi hatte bei der Kritik seines Kapitäns am Dienstag wohl nicht zugehört. Gegen Union legt er nach dem Kobel-Aussetzer ausgerechnet per Hacke den nächsten Patzer nach: Der Fehlpass des Flügelflitzers leitet einen Gegenstoß der Köpenicker ein, den Jordan Siebatcheu clever auf Haberer ablegt, der zu seinem zweiten Treffer einschießt (21.). Nach dem Spiel antwortet Adeyemi auf die Frage, ob er für die Hacken-Kritik Verständnis habe: "Nö, würde ich nicht sagen." Allerdings gibt er auch zu: "Wir sind nicht gut ins Spiel gestartet. Wir müssen daraus lernen und es besser machen."
Und Hummels legt nach. Man habe sich "das 0:2 auf BVB-Art gefangen", meckert er. Es sei "ganz wichtig, dass man weiß, in welchen Situationen und Bereichen Risiko angebracht ist und wann und wo nicht". Und auch wenn Adeyemi in diesem Moment nicht neben ihm steht in der Mixed Zone, so wird er Hummels nächste Worte dennoch gehört haben: "Die Abschätzung, wann man 'schnickt' und wann man nicht 'schnickt', ist eine Aufgabe, die wir seit über drei Jahren haben. Manchmal ist der Rückpass die beste Lösung, auch wenn der nicht auf Social Media kommt."
Süchtig nach Zweikampf
Schon früher hatte Hummels mehrmals "Erwachsenenfußball" von seinen Kollegen gefordert. Gegen die Eisernen zeigt seine Mannschaft aber wieder nur eine Art "Kinderfußball". Dagegen präsentiert Union mal wieder diese Defensivsucht (Eigenkreation des ntv.de-Wortschöpfers Stephan Uersfeld), die den Verein seit Monaten so stark macht. Die Köpenicker sind süchtig nach aggressivem, intensivem und nervtötendem Bearbeiten des Gegners. Nach Ackern. Nach Ball ablaufen (gegen Dortmund laufen sie knapp zwölf Kilometer mehr) und immer irgendwie ein Körperteil dazwischen hauen. Danach, die Festung zu halten - als ginge es eben irgendwie doch um Leben und Tod. Süchtig nach Zweikampf.
Der BVB kommt mit dem aggressiven, körperbetonten Spiel der Eisernen, ihrer beeindruckenden Grätschgier, überhaupt nicht klar. Derweil beklatschen die heimischen Fans unter den 22.012 Menschen im ausverkauften Rund jedes Tackle, jede Abwehraktion, jeden gewonnenen Ball ihrer Mannschaft.
Es dauert bis zur 37. Minute, dann gelingt Youssoufa Moukoko der erste richtige Abschluss aufs Tor, bei dem Frederik Rönnow eingreifen muss - aber den Ball problemlos fängt. BVB-Trainer Edin Terzić ist so unzufrieden mit seinem Team, dass er in der Halbzeit zweimal wechselt. Sein Team beginnt anschließend engagierter, vor allem Marco Reus bringt mit seinem Comeback nach der Knöchelverletzung Geradlinigkeit, Energie und Zweikampfhärte mit, doch die Durchschlagskraft fehlt noch immer vollkommen. Es dauert bis zu 75. Minute, dann hält Rönnow seinen zweiten Ball im Spiel. Ein Schüsschen von Bellingham entschärft er locker.
Gefährlicher wird die Aktion von Reus zwei Minuten später, aber der Unioner Keeper bleibt lange stehen und klärt mit dem Oberkörper gegen den heran rauschenden Rückkehrer. In der 83. Minute kommt es dann tatsächlich zu einer Großchance des BVB, der ersten im gesamten Spiel. Doch Rönnow taucht geistesgegenwärtig ins linke untere Eck ab und hält den Flachschuss von Moukoko. Anschließend reklamiert Hummels, weil Robin Knoche ihn zu Boden klammert. Aber der Dortmunder fällt zu spät und theatralisch und Schiedsrichter Tobias Stieler pfeift keinen Elfmeter. Kurz darauf verpasst der Abwehrchef vorne eine Kopfballchance und tritt angesäuert gegen einen Pfosten hinter dem Tor. Das war es dann.
23 Prozent Ballbesitz genügen
Zu wenig durchschlagskräftige Truppen vorne, zu wenige Fortifikationen und zu anfällige Burgmauern hinten: Solch ein BVB ist kein Titelaspirant und wird die Rebellion der Unioner im Liga-Königreich nicht aufhalten können. Sieben Punkte liegt man nun schon hinter dem Tabellenersten. In dieser Saison, in der man beim Revierklub viel vor und dafür teuer eingekauft hatte und in der Bayern München ausnahmsweise hier und da mal schwächelt, kommen die Schwarz-Gelben wieder mal nicht von der Stelle. Das Team von Terzić agiert in Berlin lange einfallslos, so als sei vor der Partie kein Matchplan aufgestellt worden, als wären alle Spielideen in der Heimat geblieben.
Die von Hummels nach dem Sevilla-Remis geforderte "Spielintelligenz" zeigen nur die cleveren Unioner. Sie strotzen in dieser Spielzeit - vor allem in der heimischen Alten Försterei - nur so vor Selbstvertrauen. Die Männer von Trainer Urs Fischer spielen stets hellwach, kämpferisch, griffig und zielstrebig - und minimalistisch. 23 Prozent Ballbesitz genügen gegen den BVB. Generell gehört die Mannschaft zu den schlechtesten in der Bundesliga in Sachen Ballberührungen im gegnerischen Strafraum und Sprints.
In Zeiten der Balldominanz und des schnellen Power- und Kombinationsfußballs à la Bayern München, Manchester City oder FC Liverpool wirkt Union Berlin wie ein - recht naiver - Gegenentwurf. Und auch auf diese Weise wie eine kleine Revolution gegen den Trend.
Aber der bisher geglückte Angriff auf die Herrschaftstradition der Bundesliga spricht für sich. Die Eisernen zeigen, wie einfach und doch verschieden Fußball und die Wege zum Erfolg sein können. Und wie Zweikampfsucht und Grätschgier, die dem BVB fehlen, zu den wenigsten Gegentoren der Liga und auf den Thron führen. Auch wenn dabei - zum Glück - kein König ermordet wird.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 17. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de