CR7, Can und andere Unglücke Werder-Unwetter legt "dämlichen" BVB lahm
21.08.2022, 08:32 Uhr
Marius Wolf kann es nicht fassen.
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
Borussia Dortmund geht mit großen Ambitionen in die Saison. Doch die meisten der teuren Neuzugänge sind krank, verletzt oder noch nicht angekommen. Aufsteiger Werder Bremen trägt Lachs-Trikots und spielt den BVB schon vor den sechs historischen Minuten an die Wand. Kommt jetzt Cristiano Ronaldo?
Über Nacht hat es das Stellwerk der Deutschen Bahn erwischt. Ein Unwetter hat es lahmgelegt. Die Infrastruktur des Landes ist nicht mehr auf der Höhe. Rund um Dortmund herrscht ein Chaos, das am späten Nachmittag auch die Borussia erreichen wird. Innerhalb von sechs Minuten schafft Werder Bremen eines der verdientesten Wunder der Fußballgeschichte. Das Werder-Unwetter legt die BVB-Defensive und Meisterträume lahm. In der Nachspielzeit holt sich der Aufsteiger das, was er sich über ein gesamtes Spiel verdient hat. Mit 3:2 triumphieren die Gäste über die vollkommen konsternierte Spitzenmannschaft aus Dortmund.
Als Oliver Burke in der 95. Minute einen flachen Pass aufnimmt, an dem angeschlagenen Nico Schlotterbeck vorbeizieht, BVB-Keeper Gregor Kobel mit einem wuchtigen Ball überwindet, stürmen die Bremer Ersatzspieler in Richtung Nordtribüne. Dort stehen die Gästefans. Sie wollen das Stadion abreißen. Auf der anderen Seite brechen die Borussen zusammen. Angeführt von Mittelfeldspieler Leonardo Bittencourt tanzen die Spieler durch das Westfalenstadion und können ihr Glück kaum fassen. Die Bremer-Fans singen: "Wir werden Deutscher Meister sein!". So weit ist es noch nicht ganz.
Der frustrierte Kapitän
Drei Jokertore ab der 89. Minute sorgen für den großen Wahnsinn. Lee Buchanan zaubert den Ball in den Winkel, Niklas Schmidt gewinnt ein Kopfduell gegen den wieder einmal vollkommen indisponierten Emre Can und dann kommt Burke, der einst bei RB Leipzig als großes Talent gehandelt wurde, und den Bremen in diesem Sommer bei Sheffield United wieder ausgegraben hat. Der Schotte dankt es seither mit späten Toren. "Das ist meine Signatur", sagt Burke, ein Mann mit einer seltsamen Frisur, lächelnd. Schon in der vergangenen Woche hat er gegen Stuttgart in der Nachspielzeit getroffen. Doch das hier ist noch eine Spur wilder.
"Es gibt viele, die noch gar nicht checken, was passiert ist", sagt Verteidiger Amos Pieper beinahe entschuldigend für die norddeutsche Nüchternheit, die durch die Mixed Zone des Westfalenstadions weht. Wenige Meter von ihm entfernt steht Marco Reus Rede und Antwort. Immer wieder nimmt der Nationalspieler die Worte "Schock" und "enttäuschend" in den Mund und versucht eine Erklärung zu finden. "Vielleicht haben wir in den letzten Wochen unser Glück überstrapaziert. Es ist frustrierend", sagt er.
Borussia Dortmund ist mit zwei Siegen gegen Leverkusen und Freiburg in die Saison gestartet, hat dabei jedoch in der Tat schon reichlich Glück gebraucht. Gegen Leverkusen rettet sie Keeper Kobel, in Freiburg der SCF-Torhüter Mark Flekken, dem ein Schuss durch die Finger flutscht. Auch gegen Bremen geht wenig zusammen. Die Gäste sind mutiger, organisierter und interessierter. Trotzdem reicht es irgendwie zu einem zwischenzeitlichen 2:0 für den BVB. Tore des weithin unauffälligen Julian Brandt vor der Pause und von Raphael Guerreiro in der 77. Minute stellen im Westfalenstadion den Spielverlauf auf den Kopf.
Emre Can vogelwild
Der BVB bekommt nie die Kontrolle über das Spiel, das von hoch verteidigenden Bremern dominiert wird. Sie finden die Räume hinter Dortmunds Abwehr, kommen zu einigen guten Abschlüssen und sind verblüfft, dass es 13 Minuten vor Ende der Partie doch 0:2 gegen sie steht. "Weil es von uns keine gute Leistung war, ist die Niederlage verdient. Trotzdem ist sie natürlich brutal ärgerlich", sagt BVB-Trainer Edin Terzic, der erstmals während seiner zweiten Amtszeit in Dortmund eine Niederlage einstecken muss.
Vor Spielbeginn entscheidet er sich für einen Startelfeinsatz von Marius Wolf, Julian Brandt und Jamie Bynoe-Gittens, nach 16 Minuten verliert er Stabilisator Mo Dahoud verletzungsbedingt. Can kommt und es geht dahin. "Mo war in den ersten Minuten ein wesentlicher Faktor, weil er immer wieder gut die Außenverteidiger gefunden hat", sagt Terzic: "Mo ist immer in der Lage, sicher am Ball zu bleiben in ganz engen Situationen."
Bei Can, der Fehler an Fehler reiht, ist das nicht Fall. So gibt Dortmund das Spiel aus der Hand. Erst verliert das Top-Team die Kontrolle, und ganz spät auch auf der Anzeigetafel. Vorher vermittelt ein konstantes Raunen mit lautstarken Unmutsspitzen bei den zahlreichen Ballverlusten Brandts, wie dünn der Geduldsfaden der Dortmunder Fans auch in dieser Saison ist.
"Über 90 Minuten", sagt Bremen-Trainer Werner, sei der Sieg "nicht unverdient" und muss immer wieder Fragen zu diesen sechs Minuten beantworten: "Nach dem 1:2 keimte Hoffnung, nach dem 2:2 versuchst du, die Emotionen in geordnete Bahnen zu lenken, aber nach dem 3:2 gab es natürlich kein Halten mehr." Auf der Bank und der Tribüne. Überall fallen sie übereinander und können ihr Glück kaum fassen. Es sind sechs Minuten, die den Glauben an eine große Werder-Zukunft wieder aufleben lassen.
Kein Duell auf Augenhöhe
Bilder aus der Vergangenheit flackern schon lange vor Spielbeginn über die da noch recht spärlich gefüllten Ränge des Stadions. Der Stellwerkschaden sorgt für eine verzögerte Anreise der Zuschauer. "Die Bahn hat uns heute einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht", kommentiert Stadionsprecher Norbert Dickel. Später werden es dann die Bremer sein, die einen großen Strich durch die Dortmunder Rechnung machen. Die Stadionregie spielt die Erinnerungen an lange vergangene Tage ein. Der BVB gegen Werder 2002. Koller am langen Pfosten, Ewerthon drückt den Ball über die Linie. Dortmund ist Meister. Doch in den nächsten Jahren wird der SVW die Verfolgung der Bayern übernehmen. Unvergessen 2004. Thomas Schaaf, der nach dem Doublegewinn in Berlin mit Werder-Flagge aus dem Cockpit grüßt. Noch ein paar Jahre halten sich die Bremer in der Spitze, doch dann, nach zu vielen Transfer-Flops, müssen sie abreißen lassen.
Borussia Dortmund übernimmt wieder, erreicht ein Hochplateau nahe der nationalen Spitze. Von dort wagen sie immer wieder Vorstöße nach oben. Aber auch das wird in den letzten Jahren weniger. Bremen hingegen geht die Luft aus. Sie steigen Stück für Stück hinab, manchmal wagen sie sich noch vor, erreichen jedoch nie wieder die europäischen Ränge. Im Jahr 2021 ist es vorbei. Sie müssen aufgeben, runter in die zweite Liga.
Lange also schon ist das Spiel eigentlich kein Duell auf Augenhöhe mehr. Im August 2022 kann Borussia Dortmund bis jetzt das Betteln und Flehen von Superstar Cristiano Ronaldo ignorieren. Der will, so wird die Woche über berichtet, unbedingt zum BVB, unbedingt ins Westfalenstadion. Es soll seine letzte Chance auf ein weiteres Jahr in der Champions League sein. Aber der BVB ziert sich, will nicht und hat keine Verwendung für ihn. Obwohl CR7 am Westfalenstadion hochgelobt wird, und die Gerüchte sich wohl bis zum letzten Tag der Transferperiode halten werden.
"Ein gewöhnlicher Aufsteiger"
Die Dortmunder Realität aber heißt Anthony Modeste. Der ehemalige Kölner ersetzte vor einigen Wochen kurzfristig den erkrankten Sébastien Haller. Doch noch fehlt Modeste die Bindung. Im Spiel gegen Bremen kommt er auf zwölf Ballkontakte, einige davon sind Kopfbälle im eigenen Strafraum. Spät erst kommt Youssoufa Moukoko, der in der wilden Schlussphase sogar noch die Chance zum 3:1 hat. Die Sturmfrage bleibt ungeklärt. Wie so vieles ungeklärt bleibt. Es ist wieder einer dieser Dortmunder Tage, die den Verein seit beinahe einem Jahrzehnt blockieren.
Werder Bremen hat sich nicht erst seit dem Abstieg 2021 der finanziellen Gesundung verschrieben. Sie träumen von der Rückkehr von Max Kruse, sie träumen von einem Kreativspieler, der die Offensive zumindest ein wenig mit Ideen füttert. Geld haben sie keins. Dafür hat ihnen der Zufall im vergangenen Herbst Ole Werner auf die Trainerbank gespült. Vorgänger Markus Anfang hat Probleme, seinen Impfstatus legal nachzuweisen. Bremen droht im Chaos zu versinken, robbt sich aber Stück für Stück in Richtung Aufstieg. Großes Geld können sie nicht in die Hand nehmen. In Dortmund dominieren sie dann also mit Bittencourt, dem 30-jährigen Anthony Jung und dem Neuzugang Jens Stage. Das funktioniert auch. Weil sie eine Idee haben und die Aufstiegseuphorie sie trägt.
"Wir sind ein gewöhnlicher Aufsteiger", sagt Werner nach der Partie in den Katakomben des Westfalenstadion stehend. Marco Reus steigt in ein Auto und verschwindet. Der Bus der Bremer müht sich durch den Verkehr. Am Dortmunder Hauptbahnhof geht weiter nichts. Die ganze Stadt ist lahmgelegt. Der BVB laboriert weiter an alten Problemen. Die Borussen bleiben eines der großen Rätsel der Liga. In den Bars der Stadt wird über Cristiano Ronaldo diskutiert.
Quelle: ntv.de