Fußball

Eine teuer verschenkte Karriere Wie Neymar verspielte, was er hätte sein können

Neymar ist egal, was andere sagen.

Neymar ist egal, was andere sagen.

(Foto: REUTERS)

Neymar nervt. Was zu Beginn seiner Karriere noch unvorstellbar war, ist heute Konsens unter Fußball-Fans. Sein Wechsel nach Saudi-Arabien passt für die allermeisten perfekt ins Bild des fallsüchtigen, disziplinlosen Söldners, den Neymar für sie darstellt. Schuld daran? YouTube, Brasilien und Lionel Messi.

"Du warst der Auserwählte", schreit Obi-Wan Kenobi, den Tränen nah, in der dritten Star-Wars-Episode Anakin Skywalker entgegen. Jahrelang hatte er den Werdegang seines Schützlings verfolgt, riesige Hoffnungen in ihn gesetzt, nur um dann doch enttäuscht zu werden. Skywalker wendet sich von seinem Meister ab und verfällt der dunklen Seite der Macht. 2003 kommt der Film in die Kinos, da ist Neymar elf Jahre alt. 2013 schließt er sich dem FC Barcelona an und ist selbst der Auserwählte. 2023 verlässt er Europa und hat alle enttäuscht. Oder?

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, so sagt man. In der Geschichte der Anfänge wohnte wenigen derart viel davon inne, wie dem von Neymars Karriere. Er versprüht Magie auf dem Platz. Eine Magie, die den Fußball scheinbar mit Ronaldinho verließ. Wie ein Kind, das seine Grenzen auslotet, testet Neymar seine Gegenspieler. Er tunnelt sie mit der Hacke, setzt sie mit einem Übersteiger auf den Hosenboden oder lupft über sie hinweg. Die Zaubertricks sieht die ganze Welt.

Neymar spielt zwar Anfang der Zehnerjahre noch in Brasilien, doch auf der aufstrebenden Plattform YouTube, die damals noch wie eine anarchische Talente-Show wirkt, gehen die Highlights vom furiosen Fliegengewicht viral - auch wenn es den Ausdruck damals noch nicht gibt. Mit einer Batterie an Finten, Übersteigern und Pirouetten fliegt der spindeldürre Außenspieler durch die Abwehrreihen. 2011 gewinnt er sogar den Puskas-Award für das schönste Tor des Jahres. Schon bevor Neymar eine Minute in einer europäischen Top-Liga auf dem Platz stand, ist er ein Star.

Der beste "neue Pelé" seit Pelé

Der brasilianische Fußball braucht zu dieser Zeit vor allem eines: Hoffnung. Die Nationalmannschaft steckt in einer schwierigen Phase, die Legenden Ronaldinho und Ronaldo haben sich verabschiedet, bei der WM 2010 scheidet die uninspiriert spielende Mannschaft im Viertelfinale aus. Der ewig tanzende, ewig lachende Junge aus Santos mit den wilden Frisuren kommt wie gerufen. Längst wird er zum "neuen Pelé" ausgerufen, das brasilianische Fußball-Monument selbst tönt 2012 sogar, Neymar ist besser als Messi.

Neymar spielt länger auf dem Niveau der absoluten Fußball-Elite als alle anderen Zauberer des modernen brasilianischen Fußballs vor ihm. Ein bei Barcelona alles überragender Ronaldinho scheitert an seiner mangelnden Disziplin. Kaka, beim AC Mailand noch unwiderstehlich, an einem Wechsel zu Real Madrid. Ronaldo Nazario, der schon in jungen Jahren auf dem besten Weg ist, der größte Stürmer aller Zeiten zu werden, stoppt eine tragische Serie von Verletzungen. Vergleiche mit Pelé selbst, der Zeit seines Lebens nur in Brasilien gespielt hat, sind kompliziert. In der Nationalelf stehen beide bei 77 Treffern. Mindestens ist Neymar aber der wohl effektivste und konstanteste Offensivspieler, den Brasilien in den letzten dreißig Jahren gesehen hat.

Der lange Schatten in Barcelona

Als er 2013 zum FC Barcelona kommt, trifft der Brasilianer zum allerersten Mal auf ein Niveau, mit dem er nicht mithalten kann. Die Umstellung auf die spanische Liga selbst scheint verblüffenderweise kein Problem für ihn zu sein. Er narrt seine Gegenspieler genauso spektakulär, wie in heimischen Stadien. Und auch die Effizienz hat er mit über den großen Teich gerettet. In seiner ersten Saison ist er in 41 Spielen an 30 Toren beteiligt. Doch Lionel Messi kommt in derselben Spielzeit auf 55 Scorer-Punkte. Bis heute sammelt "La Pulga" in jeder Saison mehr Torbeteiligungen als Neymar. Auch bei der Ballon-d'Or-Wahl liegt der Argentinier immer vor ihm (meistens auf Rang 1).

Es muss einem für Neymar, aber auch für Robert Lewandowski, Kevin De Bruyne oder Andrés Iniesta fast leidtun, dass Lionel Messi, dessen Niveau in der Geschichte dieses Sports wahrscheinlich noch nie irgendjemand erreicht hat, ausgerechnet zu ihrer Zeit spielt. Am dichtesten dran ist Neymar am 8. März 2017. Bei der legendären "Remontada" wirft der FC Barcelona PSG trotz einer 0:4-Klatsche im Hinspiel noch mit 6:1 aus der Champions League. Neymar trifft in der 88. sowie 90. Minute und legt den Siegtreffer in der Nachspielzeit auf.

Gekränkt von dieser Blamage bezahlt Paris daraufhin Neymars Ausstiegsklausel von 222 Millionen Euro und getrieben von vermeintlich besseren Chancen auf den Ballon d'Or nimmt Neymar das Angebot an. Neymars Image jedoch bekommt mit dem Wechsel einen Schlag ab, von dem es sich nie wieder erholt. Er gilt fortan als Bilderbuch-Söldner, seine Schwalben sind nicht mehr clever, sondern unsportlich, die Kabinettstückchen nicht mehr beeindruckend, sondern arrogant. In der Königsklasse fehlt er den Parisern häufig verletzt, der Klub gewinnt den Pokal bis heute nicht.

Besser als 99 Prozent - und doch nicht gut genug

Neymar trifft zeit seines Lebens auf astronomische Erwartungen. Er wird ihnen bis zu einem gewissen Punkt gerecht. Ein Punkt, den 99 Prozent aller Fußballer nie erreichen werden. Franck Ribéry, der beste Linksaußen, den die Bundesliga je hatte, ist Welten entfernt von Neymars Werten. Auch Liverpools Weltklasse-Flügelspieler Mo Salah oder Real Madrids unermüdlicher Sturmtank Karim Benzema waren ineffizienter. Der Vergleich, den Neymar jedoch immer verliert, ist der, mit seinem eigenen Potenzial. Wo würde Neymar heute stehen, wenn er Barcelona erhalten geblieben wäre? Niemand weiß das. Doch auch aufgrund dieser quälenden Ungewissheit feiern viele Fans Neymar nicht mehr für das, was er ist, sondern trauern dem hinterher, der er hätte werden können.

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Auf den letzten Metern seiner Karriere hätte sich Neymar viel Reputation zurückholen können. Eine triumphale Rückkehr zum FC Barcelona hätten vermutlich die schwierigen spanischen Finanzregularien verhindert, selbst bei Abstrichen des enormen Gehalts. Doch er hätte sich für moderate Bezüge einem anderen europäischen Top-Klub anschließen können, fest entschlossen, noch einmal Titel zu gewinnen. Eine Rückkehr zu Santos ist die noch romantischere Vorstellung. Von Verletzungen und Buhrufen in Europa geplagt, kommt der verlorene Sohn für ein kleines Salär zurück nach Hause. Stattdessen herrscht auch dort bittere Enttäuschung.

Denn es wurde Saudi-Arabien, es wurde Al-Hilal. Künftig zaubert er also in einem Land, das Menschenrechte missachtet, (noch) ohne jede sportliche Relevanz. Und das nicht als erste Wahl. Messi ging lieber nach Miami, Mbappé blieb in Paris. Doch Neymar sagte zu, für 100 Millionen Euro jährlich. 90 Millionen Euro bekommt Paris für ihr einstiges Aushängeschild. Damit ist er der Spieler, für den weltweit die meisten Ablösesummen gezahlt wurden. Das ist Neymars Vermächtnis. Er hat vor allem in den letzten Jahren für ein üppiges Gehalt die sportliche Relevanz und sein Bild in der Öffentlichkeit hintenan gestellt. Oder um es mit Prinzessin Leia zu sagen: "Wenn es Ihnen nur um Geld geht, dann sollen Sie auch nichts weiter kriegen als Geld."

Quelle: ntv.de

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