Redelings Nachspielzeit

"Nur noch von Tabletten gelebt!" Als Netzer den "Dummkopf" Hrubesch im Westerwald versteckte

Günter Netzer wird heute 80 Jahre alt.

Günter Netzer wird heute 80 Jahre alt.

Heute feiert die Fußball-Legende Günter Netzer den 80. Geburtstag. Seinen sportlichen Höhepunkt erlebt Netzer im EM-Viertelfinale 1972 gegen England. Weniger spaßig ist hingegen für den genialen Fußballer einst die Verpflichtung des Spielers Horst Hrubesch.

"Wenn ich mal ausgesprochen nostalgisch bin und wirklich guten Fußball sehen will, dann lege ich die Kassette 'England 72' ein, setze mich aufs Sofa und schwelge in Erinnerungen." Bundestrainer Helmut Schön konnte sich an dieser fast schon mythisch verklärten Partie der deutschen Nationalmannschaft im Frühjahr 1972 im Londoner Wembleystadion gegen England einfach nicht sattsehen. Bis heute zählt die Viertelfinal-Hinspiel-Begegnung der Europameisterschaft 1972 zu den absoluten Sternstunden der DFB-Elf. Die unvergessene "Ramba-Zamba-Zaubermischung" ("Bild"), erdacht und umgesetzt von Franz Beckenbauer und Günter Netzer als eine Art Doppel-Libero, wirbelte nicht nur das Team Englands durcheinander, sondern begeisterte auch die komplette internationale Fußballwelt. "Traumfußball aus dem Jahr 2000", schrieb die französische Sportzeitung "L'Équipe" und der Star dieser Mannschaft, Günter Netzer, meinte später einmal: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe."

Heute feiert Netzer seinen 80. Geburtstag - und wird sicherlich das eine oder andere Mal an diesen ganz besonderen Moment seiner Karriere erinnert werden. "Es war Günter Netzers größtes Spiel", meinte Bundestrainer Schön stets, wenn er zu diesen unglaublichen 90 Minuten befragt wurde. Der Gladbacher machte an diesem Tag vermutlich tatsächlich die Partie seines Lebens. Im genialen Zusammenspiel mit Beckenbauer tanzte Netzer durch die englischen Reihen und setzte immer wieder auf unnachahmliche Art und Weise seine Mitspieler in Szene. Niemand hat die Genialität dieses einzigartigen Moments jemals besser in Worte gekleidet als der Autor Karl-Heinz Bohrer: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley." Und diese Nacht von London war die Sternstunde des Fußballers Günter Netzer.

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"Mein Leben ist sowas von langweilig", hat der Jubilar dieser Tage der "Saarbrücker Zeitung" erzählt, "so wie es einem 80-Jährigen gebührt." Doch "langweilig" war das Leben des Günter Netzer in seinen Hochzeiten eigentlich selten. Neben dem Fußball spielte sich schon früh stets eine Menge auch abseits des Platzes ab, wie Franz Beckenbauer es einmal auf seine bekannte, schelmisch-verschmitzte Art auf den Punkt gebracht hat: "Der Günter Netzer war nie ein Fußballer im eigentlichen Sinn. Der ist nach Las Vegas geflogen, hat seinen Nachtklub gehabt und lauter solche Sachen. Die paar Jahre, die er sich konzentriert hat, ist er schon gelaufen. Danach konnte er halt nicht mehr. In Las Vegas, da kriegst halt keine Kondition!"

"Hatte immer genug mit mir selbst zu tun"

Karl Oberholzer, der frühere Präsident von Grashopper Zürich, meinte damals nach der Verpflichtung des alternden Stars, der nach seinen Stationen in Gladbach und bei Real Madrid zum Abtrainieren in die Schweiz kam: "Was ich so gehört hatte, kam es mir vor, als würde ich die Marlene Dietrich des Fußballs einkaufen." Netzer war eben schon immer eine herausragende wie schillernde Persönlichkeit des deutschen Fußballs. Einer, der einfach das gemacht hat, was er für richtig hielt. Frei nach seiner ganz speziellen Devise: "Bei mir wusste man immer, woran ich war."

Wie das aussah, zeigte er in der Saison 1966/67. Da hatte Netzer nämlich einfach mal die Schnauze voll. Vier Wochen durch Südamerika, sieben Spiele unter sengender Sonne und das alles nach einer harten Saison. Nee, nicht mit einem Netzer, dachte sich Günter, und trat nach 14 Tagen die Rückreise an - ohne jemanden zu fragen: "Ich hatte damals einfach Heimweh. Ich war noch nicht reif für solch einen langen Trip mit einer Fußball-Mannschaft. Die Rückreise war übrigens ein Abenteuer für sich. Ich hatte ja kein Ticket, kaum Geld. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwie den Panama-Kanal überquert habe, um nach Hause zu kommen."

Die Gladbacher Mannschaftskameraden waren damals verständlicherweise stinksauer. Sie forderten noch vor Ort eine sofortige Erhöhung der Prämien, schließlich mussten sie für den heimgereisten Netzer Mehrarbeit verrichten, und drohten mit Abreise. Präsident Beyer und Manager Grashoff gaben klein bei und erfüllten ihnen fast jeden Wunsch. Dass die Mitspieler aufmuckten, hätte es ein paar Jahre später so nicht mehr gegeben. Da hätte man die kleinen Macken des langen Blonden akzeptiert. Berti Vogts: "Günter Netzer war der alleinige Chef, nicht nur auf dem Spielfeld. Wir zehn anderen haben uns ihm völlig untergeordnet. Wir wussten ja, was er für unser Spiel bedeutet." Der Terrier hatte damals noch eine Sonderaufgabe, wie sich Vogts selbst erinnert: "Wenn es schlecht lief, dann musste ich Günter immer anfeuern, sonst hätte er aufgesteckt." Und Netzer sagte einmal: "Ich hatte immer genug mit mir selbst zu tun, ich konnte mich nicht auch noch um andere kümmern."

Günter Netzer trägt keine Koffer

Das waren spezielle Jahre in Mönchengladbach. Nicht zu vergleichen mit den heutigen Wohlfühloasen, die die Klubs ihren Profis schaffen. Vogts kennt sie noch gut die alten Zeiten, in denen sein Mannschaftskamerad Netzer natürlich auch schon eine besondere Rolle spielte: "Wir sind früher mit der Bahn zu Auswärtsspielen gefahren, mussten immer in Köln oder Düsseldorf umsteigen, das Gepäck umladen. Wenn wir verloren hatten, durften wir auf der Rückfahrt zur Strafe nicht in den Speisewagen, und wir haben in der Anfangszeit häufig verloren. Ich erinnere mich mit Grausen an die Spiele in Kaiserslautern, wenn wir die Koffer mit unserer Ausrüstung vom Bahnhof bis auf den Betzenberg schleppen mussten." Rückfrage eines Reporters: "Günter Netzer hat seine Koffer getragen?" Berti Vogts lächelnd: "Natürlich nicht. Der hat einem Ersatzspieler fünf Mark in die Hand gedrückt und tragen lassen."

Unter Trainer Hennes Weisweiler lernten die jungen Fohlen das Traben. Das Verhältnis von Netzer zu seinem Trainer war allerdings von Anfang an schwierig und wurde immer komplizierter. Damals prägte Weisweiler einen schönen Leitsatz, bei dem Netzer eine Hauptrolle spielte: "Abseits ist, wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt." Und dann kam das legendäre Pokalfinale 1973 zwischen den rheinischen Rivalen Köln und Gladbach. Für Netzer, der nach dieser Saison nach Spanien zu Real Madrid ging, wäre es ohnehin die letzte Partie für die Borussia gewesen - wenn er denn gespielt hätte. Aber zuerst saß er draußen. Als er es beim Stand von 1:1 in der Verlängerung nicht mehr auf der Bank aushielt, wechselte er sich selbst ein. Der Kölner Heinz Simmet ist noch heute erstaunt über Netzers Willenskraft: "Und dann knallt der uns mit seinem falschen Fuß dat Ding in den Giebel. Wenn der drüber gegangen wäre, hätte er auf der Tribüne einen Menschen erschossen."

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So fit und talentiert Netzer auf dem Fußballplatz war, so raffiniert und geschickt zeigte er sich auch bei den Geschäften abseits des grünen Rasens. Wo früher wie heute die Profis landauf, landab gerne sagen, dass sie neben dem Fußballspielen immer so wenig Zeit für andere Dinge haben, lenkte der Geschäftsmann Netzer bereits als junger Mann eine komplette Elf. Er gab das Stadionheft der Borussia heraus, führte eine Diskothek und ein kleines Versicherungsunternehmen. Seine Angestellten: "Zwei Barkeeper, ein Versicherungsfachmann, zwei Servierfräuleins, ein Prokurist, drei Werbefachleute, ein Portier und der Chef - ein komplettes Team", wie Peter Bizer in seinem 1971 erschienenen Buch "Günter Netzer. Rebell am Ball" schrieb. Das Leben ihres Mitspielers interessierte Netzers Kollegen damals sehr. Eines Tages sah der lange Blonde seinen Kameraden Rainer Bonhof im Trainingslager mit einem Buch über die High-Society sitzen. Auf Netzers Frage, was er denn damit mache, antwortete Bonhof süffisant: "Ich wollte nur mal wissen, wie das so zugeht in deinen Kreisen."

Die Geschichte von Netzer und Hrubesch

Und Netzer war nicht für Kleingeld zu haben. Was kaum bekannt ist: 1972 wurde Günter Netzer für die Wolfenbütteler Spirituosen-Firma Mast gar als Public-Relations-Manager tätig - mit einem Jahresgehalt von 100.000 DM. So viel erhielt damals auch die Braunschweiger Eintracht für das Trikotsponsoring. Doch Mast hatte mit dem Gladbacher Fußballstar Großes vor: "Man muss sagen: Netzer? Aha! Jägermeister! Da braucht er gar nicht mit der Pulle in der Hand rumlaufen."

Geld musste Günter Netzer nach seiner aktiven Karriere also eigentlich nicht mehr verdienen. Vor allem, weil er fast nahtlos zum Job des Managers beim HSV überwechselte - und dort direkt eine unglaubliche Geschichte erlebte. Zwar wohnte er zu dieser Zeit noch nicht in der Hansestadt, sah sich aber bereits nach neuen Spielern für den HSV um. Einer von ihnen war: Horst Hrubesch.

Günter Netzer erinnert sich: "Ich habe ihn aus der Schweiz entdeckt - via Zeitung. 42 Tore hatte er geschossen in der Zweiten Liga. Und da habe ich gesagt: Okay, das ist ein Ausweis, den man ernst nehmen muss, denn auch in der Zweiten Liga schießt man nicht so einfach 42 Tore. Ich habe ihn dann auf Umwegen verpflichtet, weil dieser selten große Dummkopf hatte auch noch einen anderen Vertrag unterschrieben, in Frankfurt. Der Trainer der Eintracht war damals Dettmar Cramer und der hatte pastorale Züge. Wenn der mit jemandem gesprochen hat, den hat er überzeugt - und erst recht meinen gutmütigen Horst. Hrubesch hat zwar immer zu mir gesagt: 'Machen Sie sich keine Sorgen, ich gehe nicht nach Frankfurt.' Doch da musste ich ihm sagen: 'Mein lieber Horst, wir haben da ein kleines Problem: Sie haben einen Vertrag unterschrieben!'"

Unter Mithilfe des damals bekannten und gefürchteten Spielerberaters Holger Klemme versteckte man Hrubesch für 14 Tage unter anderem im schönen Westerwald. Schließlich gelang es, den Vertrag in Frankfurt zu lösen. Klemme rückblickend über diese Zeit: "Der Günter Netzer hat damals nur noch von Tabletten gelebt!" Und das lag auch daran, weil der neue HSV-Manager Hrubesch bisher ja nur aus der Zeitung kannte. Netzer: "Und dann hatte ich das Vergnügen, ihn das erste Mal live spielen zu sehen, bei einer Partie von Rot-Weiss Essen. Anfangs saß ich aufrecht auf meinem Platz. Zur Halbzeit saß ich schon nur noch zur Hälfte aufrecht, weil die Leistung von Hrubesch unterirdisch war. Zum Schluss wäre ich am liebsten aus Scham unter den Stuhl gekrochen. Ich habe zu mir selbst gesagt: Netzer, das war deine erste und letzte Verpflichtung als Manager des HSV. Es war grausam mitanzusehen." Am Ende sollte aber eben ausgerechnet dieser Horst Hrubsch eine goldene Zeit des Hamburger SV maßgeblich mitprägen.

"Ich spüre, dass es genug ist"

Viele Jahre später stürzte sich Günter Netzer in das mittlerweile legendäre TV-Abenteuer mit Gerhard Delling. Die beiden sollten als Moderatoren-Doppelgespann Geschichte schreiben. Ihre Dialoge erreichten Kultstatus. Ihre Neckereien entschädigten für manch mittelmäßiges Spiel. Wortwechsel wie diese gehörten zum Standard. Netzer zu Delling: "Ich sag ja, Sie hören mir nie zu!" Delling: "In Ihrem Alter merken Sie gar nicht mehr, ob jemand Ihnen zuhört."

Nach seinem Ausscheiden als TV-Moderator wurde es merklich ruhiger um Günter Netzer. Sein Schritt wurde von vielen Fernsehzuschauern bedauert, für den langen Blonden war er aber unausweichlich: "Ich hatte immer einen Horror vor Menschen, die man mit einem Lasso von der Bühne holen muss." Er hatte für sich den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören gefunden: "Ich spüre, dass es genug ist. Ich habe genug geredet. Ich kann mich selbst kaum noch sehen und hören."

"Ich bin hochzufrieden", hat Günter Netzer dieser Tage der "Saarbrücker Zeitung" über sein aktuelles Leben gesagt - und hinzugefügt: "Zufriedenheit ist das, was ich immer erreichen wollte." Man kann den Europameister von 1972, Weltmeister von 1974 und mehrfachen Deutschen Meister zu diesem Gemütszustand nur beglückwünschen. Heute feiert Günter Netzer seinen 80. Geburtstag. Alles Gute und Glück auf!

Quelle: ntv.de

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