
Möller, der Held.
(Foto: imago images/Pressefoto Baumann)
Am Abend kommt es in Wembley wieder einmal zum großen Showdown zwischen England und Deutschland. Das Fußball-Duell steht in einer langen Reihe von rassigen Partien - die nicht selten erst in dramatischen Elfmeterschießen mit traurigen Verlierern und neuen Helden entschieden wurden.
Die Schüler in England waren sich 1996 bei einer Umfrage einig: Das "entsetzlichste Land der Welt" war für sie - ohne Zweifel - Deutschland. Ob dieses negative Bild vielleicht auch etwas mit den schlechten Erfahrungen zu tun hatte, die man in den Jahren zuvor bei gemeinsamen Fußball-Duellen gesammelt hatte? Man weiß es nicht. Aber auszuschließen ist es in keinem Fall, denn wie sagte Englands Wembley-Torschütze und Weltmeister von 1966, Geoff Hurst, einst: "Eigentlich spielen sie genau wie wir. Mit dem Unterschied, dass sie Elfmeter schießen können."
Wie tief die Antipathie der Engländer zu dieser Zeit wirklich saß, zeigte sich rund fünf Jahre später, als die Männer von der Insel in einem unvergesslichen Spiel Deutschland im heimischen Münchener Olympiastadion mit 5:1 besiegten. "The Mirror" veröffentlichte am nächsten Tag eine Todesanzeige, auf der neben dem Text auch die brennenden Torwarthandschuhe von Oliver Kahn zu sehen waren: "Im herzlichen Gedenken an den arroganten, klinischen, Elfmeter verwandelnden, schlichtweg krank machenden deutschen Fußball, der am 1.9.2001 in München verstarb, zutiefst unbetrauert von einer großen Zahl englischer Fans."
Doch zurück ins Jahr 1996. Damals wollten die Engländer im Halbfinale vor ihrem eigenen Publikum zu Hause im Wembleystadion Revanche nehmen für das unglücklich verlorene Duell sechs Jahre zuvor bei der WM 1990 in Italien. Alles war angerichtet. Und auch die Fußballanhänger in Deutschland waren wie elektrisiert von dieser Partie. 28 Millionen Menschen versammelten sich daheim vor ihren TV-Geräten. Solch eine Quote hatte es bei einem Fußballspiel nur einmal zuvor gegeben, beim siegreichen Finale von Rom 1990 gegen Argentinien. Und es sollte tatsächlich der erhoffte Hit werden.
"Keine Probleme, solange ich nicht schießen muss"
Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb am nächsten Tag eine Hymne auf diese Partie: "Die Nacht von Wembley hat sämtliche erregenden Facetten dieses Sports hervorgebracht, ein glückliches Zusammentreffen aller äußeren und inneren Bedingungen, die ein Meisterwerk entstehen ließen. Es gibt in der Geschichte des Balles nur wenige solche Partien, selten wie die Blaue Mauritius." Und auch auf englischer Seite war man begeistert. Der "Guardian": "Am Ende war es ein Spiel von nahezu unerträglicher Intensität." Und der Höhepunkt dieses denkwürdigen Abends im Londoner Wembleystadion wurde wie schon 1990 von einem dramatischen Elfmeterschießen, der Königsdisziplin aller High Noons, gekrönt.
Wer noch nie in seinem Leben einen Elfmeter geschossen hat, dem sei gesagt, dass in diesem Moment sowohl dem Schützen wie dem Torhüter Tausende Gedanken durch den Kopf gehen. Oder wie es der ehemalige Bayern-Torjäger Roy Makaay einmal sehr anschaulich auf den Punkt gebracht hat: "Wenn ich denke, dass der Torwart denkt, und der Torwart denkt, dass ich denke - dann kann ich auch einfach schießen. Es macht keinen Unterschied." Und noch eine andere Wahrheit sollte man sich vergegenwärtigen: Elfmeter können tiefe Narben hinterlassen. So hat einmal die nordirische Fußballlegende George Best gesagt: "Ob es irgendetwas gibt, das ich in meinem Leben gerne ändern möchte? Ich habe 1971 einen Elfmeter gegen Chelsea geschossen und Peter Bonetti, der Wi***er, hat ihn gehalten! Ich wünschte, ich hätte in die andere Ecke gezielt."
Und deshalb ist das Elfmeterschießen wohl auch nicht jedermanns Sache. Der absolute Leader bei dieser EM 1996 in England war damals Matthias Sammer. Doch der Rotschopf lehnte es ab, im Halbfinale gegen die Männer von der Insel zum Elfer anzutreten. Seine Begründung: "Ich habe mit dem Elfmeterschießen keine Probleme, solange ich nicht schießen muss. Ich kann das einfach nicht, denn mir gefallen immer beide Ecken." Für diese komplizierte und spezielle Disziplin braucht es eben echte Kerle - wie beispielsweise den heutigen englischen Nationaltrainer Gareth Southgate.
Möller, der Herzensbrecher
Damals in Wembley trat er zum elften Elfmeter an diesem Abend an. Eher halbherzig schob er die Kugel in die linke untere Ecke. Der Ball stellte für den deutschen Nationalkeeper Andy Köpke kein größeres Problem dar. Barbara Southgate, die Mutter des Fehlschützen, fragte ihren Sohn hinterher immer noch geschockt: "Warum hast du den Ball nicht einfach draufgehauen?" Eine gute Frage, die sich Southgate sicherlich in den Jahren danach noch häufiger gestellt hat. Einer konnte den Unglücksraben aber sehr gut verstehen. Es war Stuart Pearce - der genau sechs Jahre zuvor in Turin die Rolle von Southgate eingenommen hatte: "Ich weiß, wie sich Gary nach dem Fehlschuss fühlt. Es tut mir sehr leid für ihn, aber er ist ein junger Spieler, und ich denke, dass dieses Missgeschick seine Persönlichkeit wie damals bei mir stärkt und er noch ein besserer Spieler wird. Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen."
Das Pech des einen wurde nun unversehens zum Glück des anderen. ARD-Kommentator Gerd Rubenbauer frohlockte bereits vor dem entscheidenden Schuss: "Andy Möller kann der Größte bei dieser Europameisterschaft sein, wenn er den versenkt." Der damalige Dortmunder hatte bis zu diesem Zeitpunkt kein großes Turnier gespielt. Eher im Gegenteil sogar. Gemessen an seinen Fähigkeiten hatte er wieder einmal nicht überzeugen können. Doch nun bot sich für den Mann, der die Beinamen "Heulsuse" und "Weichei" trug, die Chance, es allen zu zeigen. Und Möller ergriff diesen einmaligen Moment beherzt beim Schopfe. Mutig knallte er den Elfmeter halbhoch in die Maschen des englischen Tores. Der "Daily Mail" schrieb am nächsten Morgen: "Elfmeter brachen unsere Herzen".
Mal schauen, ob es heute Abend wieder einmal zu diesem dramatischen Duell vom Elfmeterpunkt kommen wird. Angeblich trainieren die Engländer seit Wochen genau diese Disziplin. Aber neben dem Können gehört auch noch etwas anderes dazu. Und genau davon sprach einmal der Weltmeister von 2014, Bastian Schweinsteiger: "Ich habe zum Spaß gesagt: Ich hab' kurz vor meinem Elfmeter meine Eier vergessen oder verloren, aber sie dann rechtzeitig wiedergefunden. Im Elfmeterschießen gehört Glück dazu, meistens haben es wir Deutsche." Und Glück zu haben, macht einen eben auch nicht unbedingt beliebter - was wenigstens zum Teil das Ergebnis der Umfrage unter den englischen Kindern im Jahr 1996 erklären könnte.
Quelle: ntv.de