Hunderte Dialekte verschwunden Australien will indigene Sprachen retten
16.12.2010, 09:38 UhrAls im 18. Jahrhundert europäische Siedler in Australien eintrafen, wurden dort noch hunderte Sprachen und Dialekte gesprochen - heute sind es nur noch etwa zwanzig. Verschiedene Uni-Programme und Initiativen sollen jetzt helfen, diese Entwicklung zu korrigieren, denn: "Eine Sprache kann wiederbelebt werden", so ein Indigenen-Experte.

Viele Aborigine-Kinder lernen die indigenen Sprachen nicht mehr, da ihre Eltern fürchten, es könnte ihnen schaden.
(Foto: REUTERS)
Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, kommen Lorraine Injie fast ein Dutzend Sprachen in den Sinn. "Es war in meinem Dorf völlig normal, zehn Sprachen zu sprechen", sagt die australische Ureinwohnerin aus einer abgelegenen Provinz im Westen des Landes. Heute fliegt die 48-Jährige sechs Mal im Jahr nach Sydney, um an der Universität die weitgehend vergessenen Sprachen der Aborigines zu lehren. Der Unterricht ist Teil eines Programms, mit dem die Sprachen der Ureinwohner vor dem Aussterben bewahrt werden sollen.
Injie unterrichtet Lehrer, die die indigenen Sprachen an Schüler weitergeben sollen. Als vor gut 200 Jahren die europäischen Siedler in Australien eintrafen, wurden dort noch hunderte Sprachen gesprochen. Heute sind es neben Englisch nur noch rund 20. "Nur noch weniger als 50 Ureinwohner sprechen Banyjima", sagt Injie. "Weniger als zehn beherrschen Yinhawangka. Als uns verboten wurde, unsere eigenen Sprachen zu benutzen, sind sie verschwunden. Das ist zum Verzweifeln."
250 verschiedene Sprachen
Injie spricht beide der vom Aussterben bedrohten Sprachen. Als Kind benutzte sie sie, um mit ihren Eltern zu sprechen. Englisch lernte sie erst später. Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die ersten Siedler aus Großbritannien eintrafen, wurden noch 250 unterschiedliche Sprachen und zwischen 500 und 600 Dialekte in Australien gezählt. Doch die Trennung indigener Kinder von ihren Eltern und die damit verbundene Politik der Assimilation mit den Weißen ließ die Sprachen und Kulturen der Ureinwohner im vergangenen Jahrhundert weitgehend verschwinden.

Etwa zwei Prozent der Australier zählen zu den Aborigines.
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"Manche Ureinwohner befürchteten auch, ihre indigenen Sprachen würden den Kindern in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung schaden", sagt der Sprachexperte Michael Walsh. "So entstand eine verlorene Generation, in der die Eltern ihre jeweiligen Sprachen noch mit ihren eigenen Eltern benutzen, aber nicht mit ihren Kindern." Verschiedene Initiativen sollen jetzt helfen, die Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte zu korrigieren. Die Fernsehsendung "Waabiny Time" etwa vermittelt indigene Sprachen mit einfachen Lektionen für Kinder. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat New South Wales lernen 5000 Schüler eine indigene Sprache im Unterricht.
Neue Worte für heute erfunden
Manche Sprachen tauchten sogar wieder auf, obwohl sie bereits de facto ausgestorben waren. Kaurna etwa im Süden Australiens sei zuletzt in den 1860er Jahren im Alltag gesprochen worden, sagt der Linguist Robert Amery von der Universität Adelaide. Doch bei der Übersetzung alter Dokumente erwachte bei Ureinwohnern und Sprachforschern wieder das Interesse an dieser Sprache. Jetzt wird sie wieder in politischen Reden und bei öffentlichen Zeremonien benutzt.
"In gemeinsamen Workshops haben wir neue Begriffe für die Gegenwart entwickelt", sagt Amery. So mussten für Telefon, Fernsehen oder Computer neue Wörter geschaffen werden. Viele Ureinwohner hätten allerdings auch andere Sorgen, räumt der Indigenen-Experte Walsh ein. Zwei Prozent der Australier zählen zu den Aborigines, sie sind die am stärksten benachteiligte Gruppe des Landes. Ihre Lebenserwartung ist unter anderem aufgrund von weit verbreitetem Alkoholismus und hoher Arbeitslosigkeit im Schnitt 11,5 Jahre geringer als die der übrigen Bevölkerung, die Kindersterblichkeit doppelt so hoch.
"Eine Sprache kann wiederbelebt werden", sagt Walsh. "Aber das hängt vom Willen der Gemeinde ab. Manche sind so zerstritten, dass es ihnen nur ums Überleben geht. Sie kümmern sich nicht um ihre alten Sprachen." Dennoch habe die verstärkte Anerkennung indigener Sprachen eine große Bedeutung für die Ureinwohner, sagt der Experte. "Die Forschung zeigt, dass das die physische und mentale Gesundheit verbessert. Wer seine Sprache zurück bekommt, kann auch seinen Platz in der Gesellschaft wieder finden. Das kann ein ganzes Leben ändern."
Quelle: ntv.de, Marie Le Moel, AFP