"Kritik braucht Pfeffer!" Ute Cohen, wie schmeckt Freiheit?
21.07.2024, 12:00 Uhr Artikel anhören
Die Buchautorin (links im Bild) erinnert sich noch genau daran, wie dieser Apfel geschmeckt hat.
(Foto: privat)
Ein Buch über den Geschmack der Freiheit - da fragt man sich natürlich sofort, was dieser Geschmack für einen selbst sein könnte. Sind es Äpfel, ist es etwas Süßes oder ist es gar das Meer, das so salzig und so weit ist. Ute Cohen erzählt ntv.de bei einem - wie sollte es anders sein - hervorragenden Mittagessen, was dieser Geschmack für sie bedeutet.
ntv.de: Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen - soll Marie Antoinette gesagt haben. Irgendwie arrogant, auch wenn wir uns mit der Frau, obwohl sie aus einer völlig anderen Zeit und Schicht kam, identifizieren können. Vielleicht, weil ihr so viel versagt wurde oder weil man bestimmte Themen benutzt hat, um sie zu diskreditieren?
Ute Cohen: Also diese Gerüchte, oder besser gesagt diese üble Nachrede - zum Beispiel, sie hätte ihren eigenen Sohn missbraucht -, die sind das, was wir heute Mobbing nennen. Dieser Spruch stammt übrigens gar nicht von ihr. Das haben sich sogenannte "Libellisten" ausgedacht, die Gossip-Girls und Trolle von damals.
Dann hat sich ja nicht viel verändert.
Nein, es ist schon erstaunlich, dass es immer wieder die gleichen Mechanismen gibt. Wenn ein Gerücht erstmal in Umlauf ist, dann kannst du kaum mehr etwas machen. Damals, weil alles so langsam ging, und heute, weil alles so schnell geht (lacht).
Weil du einfach innerhalb von Minuten erledigt bist, wenn eine andere Person schlecht über dich spricht.
Ja, also das sind schon wirklich üble Methoden und ich bin manchmal regelrecht erschüttert, gerade jetzt in diesen Zeiten, dass es immer noch genauso läuft wie vor Hunderten Jahren. Dass wir Menschen offensichtlich nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen oder diese sogar noch verschlimmbessern.
Oder wir lernen aus Fehlern, machen sie aber dennoch immer wieder.
Es gibt diesen Gedanken von Robert Musil, dass der Mensch, was auch immer er geschaffen hat, wieder zurückentwickelt. "Die Menschheit widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat" heißt es im "Mann ohne Eigenschaften". Es ist ein ewiges Hin und Her zwischen Individualismus und Kollektivismus, zwischen Utopie und Nostalgie. Mir fällt da eines meiner kulinarischen Sammlerstücke ein: Eine Speisekarte aus der Concorde mit einem Menü von Michel Roux, Hummer auf Taboulé gab es da. Und was ist passiert? Die Concorde fliegt nicht mehr. Das war eine Revolution, und jetzt? Passé! Genauso verhält es sich in anderen Bereichen, auch in der Küche.
Schade, dass es keine Concorde mehr gibt, wir waren immerhin schon auf dem Mond. Und jetzt geht es darum, auf den Mars zu fliegen. Das finde ich relativ mutig. Aber bleiben wir in der Küche.
(lacht) Die Küche ist das Spiegelbild der Gesellschaft. Das finde ich interessant. Ich bin mit vielem nicht d'accord, aber in der Küche siehst du, was gesellschaftlich relevant ist. Das war schon immer ganz besonders. Also, wenn du jetzt essen gehst, bekommst du eine Bowl (lacht). Das ist eine solche Vereinheitlichung. Es ist eben dieser Mischmasch ...
... der aber auch toll sein und befruchten kann, weil so vieles einfließt.
Naja, vor allem ist es aber bequem, weil du nur eine Schale benötigst und einen Löffel. Da gerät aber die ganze Tischkultur - weiße Servietten, das passende Besteck, mehrere Gänge - vollkommen in Vergessenheit. Dabei ist das doch wichtig, schön auch. Und wenn dann noch die Kellner charmant sind! Hier wurde ich gleich gefragt, warum ich so strahle. "Hab' im Urlaub ein Buch geschrieben", hab' ich gesagt, "bin fertig und es geht über Küche und Italien und Frankreich, Deutschland." Und dann fragt der Kellner, ob ich mit einem Italiener verheiratet bin, und ich sage, "non, ich war aber mit einem Franzosen verheiratet". Und - ah, l'amore! - ich hatte mal einen italienischen Freund (schmunzelt). Ich finde, das ist auch Teil unserer kulinarischen Kultur: sich zu unterhalten, zu lachen, sich etwas zu fragen und nicht einfach nur schnell eine Bowl in sich hineinzuschaufeln.
Manche würden sagen: Diese Fragerei ist etwas übergriffig.
Ich halte es für amüsant! Seit MeToo hat sich vieles verändert, manches zum Guten, manches - dazu zählt die Flirtkultur - zum Schlechten. Wir haben das Alte über Bord geworfen, ohne etwas Neues zu erfinden. Dass kein Mensch sich mehr traut, zu flirten oder etwas Nettes zu sagen, weil du, wenn du einer Frau die Tür aufhältst, ja eine Abfuhr bekommen könntest, da sie durchaus allein die Tür öffnen kann. Vielleicht unterstellt die Frau dir, dass du denkst, sie sei abhängig von dir, als Mann. Er könnte ja glauben, dass er die Frau haben könnte. Und so weiter.
Und eigentlich hat der Typ das nur freundlich gemeint ...
Ich habe schon so oft gedacht: Oh, mein Gott, die armen jungen Männer, wie sollen die denn bei Frauen ankommen.
Und umgekehrt? Wer macht denn den ersten Schritt?
Also, wenn du als Frau mit Männern nicht mehr flirtest, dann ist der Alltag doch recht uncharmant. Ich kann mich über eine aufgehaltene Tür wirklich freuen. Ich kann dann ja immer noch sagen: Jetzt reicht's aber langsam.
Das muss man ohnehin öfter mal sagen, jetzt reicht's aber langsam ...
Allerdings. Das gleiche Phänomen gibt es auch in der Gastrokritik. Zum Beispiel, dass die Leute sich nichts mehr trauen, weil sie Angst haben vor Phänomenen wie digitaler Gewalt. Wenn du eine schlechte Gastrokritik schreibst, dann kann das subsumiert werden unter digitale Gewalt. Andererseits gibt es auch Gäste, die Wirte mit schlechten Bewertungen sogar erpressen. Es herrscht ein enormer Druck in der Branche. Ein berühmter französischer Koch beging Suizid, weil er fürchtete, den dritten Stern zu verlieren, und da hieß es ganz schnell, der Guide Michelin sei schuld gewesen ...
... eine schwierige Situation.
Ja. Es ist problematisch - von der persönlichen Tragödie ganz abgesehen, ein Mensch nimmt sich das Leben - wenn sich so etwas Dramatisches ereignet. Monokausal lässt sich das nicht erklären. Da spielen immer viele Faktoren mit hinein. In diesem Sinne hat sich auch die Frau des verstorbenen Sternekochs geäußert. Es sind viele Dinge, allein der wahnsinnige Stress, dem Sterneköche ausgesetzt sind. Es hätte aber auch ein anderer Auslöser sein können.
Vielleicht ...
Seither haben sie dann plötzlich eine viel sanftere Bewertungskultur eingeführt. Das aber tut der Gastrokritik nicht gut. Restaurantkritik hat eine lange Tradition, da gibt es fantastische Texte. Erinnern wir uns an Wolfram Siebeck oder an den Begründer der Restaurantkritik, den Franzosen Grimod de la Reynière. Köstlich! Nicht so fad wie viele heutige Texte! Gute Kritik braucht Pfeffer!
Deswegen kommen wir zu deinem Buch zurück, zum Geschmack, zum Geschmackssinn ...
... oh ja, und zur Zunge. Grimod, der französische Kritiker, war übrigens für seine Zungenfertigkeit berühmt, im doppelten Sinne (lacht).
"Sich etwas auf der Zunge zergehen lassen" - Kinder, denen es nicht schmeckt, strecken die Zunge heraus, es ist eine Ablehnung.
Erwachsene machen das ja gar nicht mehr, wir strecken eher selten unsere Zunge raus. Das wäre vielleicht doch ein wenig verstörend. Kinder aber erkunden die Welt mit der Zunge am Anfang ihres Lebens. Das ist sinnlich und hilft ihnen auch dabei, ein eigenes Urteil zu bilden. Diese Zweiseitigkeit hat mich an dem Thema gereizt, dem Geschmack der Freiheit.
Was war denn der Auslöser für das Buch, du schreibst sonst eher in einem anderen Genre?
In den vergangenen Jahren gab es viele Filme über Kulinarik, die mich inspiriert haben. Und ich habe auch Interviews gemacht, in denen es ums Essen ging oder um den Genuss. Mit Gérard Depardieu hab ich über die Gerichte seiner Kindheit geplaudert und ... na ja, übers Pupsen auch. Sehr lustig! Ich hab aber auch Geschichte studiert und da habe ich nachgeforscht und bin auf mehr und mehr Kuriositäten gestoßen. Das Thema ist super spannend! Als Erstes hatte ich übrigens den Titel im Kopf, "Geschmack der Freiheit".
Du denkst als Erstes an die Überschrift. Und dann?
Eigentlich denke ich meist filmisch. An bestimmte Passagen, dann an die ganzen verschiedenen Aspekte, die das Grundthema betreffen, und dekliniere sie dann durch. Synästhesie hat mich schon immer interessiert. Gedichte von Georg Trakl, dass manche Menschen Töne als Farben sehen ... So geht's mir mit der Freiheit: Freiheit braucht Schmackes, sonst ist sie spröde, verkopft und die Menschen wissen nichts mehr mit ihr anzufangen.
Und wie schmeckt Freiheit für dich?
Freiheit ist etwas Natürliches, mit einer Prise Rebellion. Etwas, was sich wandelt, was sich nicht am Gegebenen orientiert. Sich frei fühlen, die Welt mit allen Sinnen zu erfassen, zu kosten und zu begreifen. Man sollte frei von Vorgaben und frei von Vereinnahmungen sein. Was nicht bedeutet, dass ich Freiheit oder deren Geschmack als losgelöst von der Geschichte sehe. Ich bin ein historisch interessierter Mensch und ich liebe es, Parallelen zu entdecken. Ich sehe eben, dass ich da auch die Bezüge selbst herstellen kann, diese Freiheit nehme ich mir. Deswegen habe ich ja auch das Buch so aufgebaut, nach meinen individuellen Vorgehensweisen und Vorlieben.
Inwiefern?
Ich sehe schon die Freiheit bedroht. Auch den Geschmack sehe ich in Gefahr. Wenn du geschichtliche Bezüge erkennst, eine Art Déjà-vu-Erlebnis hast, dann siehst du auch vieles in unserer Gegenwart anders. Man muss keine Vorgaben machen. Ob ich einen Veggie Day brauche oder nicht, bestimme allein ich, und nicht etwa mein Arbeitgeber. Aber wenn sich jemand auskennt und Lust an dem Thema findet, dann entsteht ein Wandel von innen heraus. Und auch dieses Bedürfnis, ein Gespür dafür, wann die Freiheit bedroht ist, das entwickelst du, wenn du weißt, was sie bedeuten konnte.
Du warst nicht immer frei ...
Das ist schon ein durchgängiges Motiv in meinem Leben. Ich glaube, dass, wenn du selbst oftmals eine Unfreiheit gespürt hast, die Begierde nach Freiheit umso größer wird. Und dann, wenn du sie verwirklicht hast, dann willst du dir das nicht nehmen lassen.
Für mich würde Freiheit immer nach Salz schmecken, weil es das Meer bedeutet. Aber ich liebe auch die Berge. Und deswegen wären es zum Beispiel auch Äpfel. So ein richtiger Apfel, der an einem Baum gereift ist.
Du hast ganz recht, Freiheit kann nach Salz schmecken, überall ist das Salz, an deinem Körper, du schluckst es. Im Meer kann man sich sehr frei fühlen.
Und obwohl ich Süßigkeiten liebe, wäre das für mich nicht der Geschmack der Freiheit.
Aber wenn du Kinder siehst, wie sie essen, mit Fingern, wie sie Essen geradezu benutzen, um sich Vergnügen zu bereiten, dann kann man auch spüren, was Freiheit ist.
Neulich habe ich am Strand ein Mädchen gesehen, das sich genüsslich mit ihrem Eis eingeschmiert hat. Sie fühlte sich völlig unbeobachtet, das Eis schmolz und sie hat sich einfach nur gefeiert.
Gut so! Das Kind probiert sich aus. Vielen geht die Lust am Essen später verloren. Wir schränken uns viel zu sehr ein. Dabei ist es doch ein großer Genuss für einen selbst, aber auch ein Ausdruck von Sinnlichkeit. Es heißt ja, dass Männer Frauen meist sehr unattraktiv finden, wenn sie nicht essen, wenn sie nur im Salat rumstochern.
Ich esse meistens nach dem Lustprinzip. Und denke, der Körper sagt mir, was er haben will.
Also, das seh' ich ganz genauso. Das hat mir ein sehr guter Koch mal geraten, als ich schwanger war: "Ihr Körper weiß ganz genau, was er will, was er braucht, und wir müssen nur auf ihn hören." Das klingt esoterisch, aber es scheint was dran zu sein, dass wir, wenn wir einen Bezug zu uns haben - und offenbar haben wir den in bestimmten Situationen wie in einer Schwangerschaft - mehr auf unser Bauchgefühl hören sollten.
Du schreibst auch über den Geschmack der Kindheit: Der bedeutet für mich alles mit Hackfleisch und gedeckter Apfelkuchen.
Und dann entstehen die Landschaften der Kindheit wie ein ganzes Universum vor deinem inneren Auge. Ich habe ein bereits leicht verblichenes Bild vor mir: Da war ich vielleicht vier oder so und bin abgebildet mit meinem Cousin und meiner Cousine. Ich mit roten Gummistiefeln, geschlossenen Augen, einen dicken roten Apfel mit beiden Händen umfassend. Mein Cousin irgendwie so verschmitzt. Der sah aus wie der Junge auf der Kinderschokolade und meine Cousine ganz verträumt mit ihren Locken. Alle in der Abendsonne. Eine Zinkwanne voller Äpfel, die wir tagsüber gepflückt haben.
Du hast mit vier Jahren Äpfel geerntet, auf einer Leiter?
Oh, das waren nicht so überzüchtete Apfelbäume. Ist ja Dekaden her (lacht). Ich halte also einen Apfel in der Hand und beiße in diesen Apfel mit geschlossenen Augen. Ich kann mich heute noch an den Geschmack erinnern. Ich habe die Situation vor Augen und den Geschmack. Und da geht in mir eine Sonne auf, so eine Sinnenfreude und so eine kindliche Melancholie. Du sitzt da in der Abendsonne, bist angenehm erschöpft, beißt in den Apfel - das ist so ein Symbolbild für mich, weil ich genauso bin, auch, wenn ich etwas anderes mache.
Was heißt das ins Heute übersetzt?
Dass ich das Leben in vollen Zügen genieße. Auch in meiner Arbeit. Ich muss das wirklich mit allen Sinnen erfassen.
Appetit aufs Leben ...
... ja, Appetit zu haben, ist ja nicht unbedingt Hunger zu haben. Du hast Appetit auf etwas und das geht oft einher mit Hunger, aber Appetit ist mehr. Da geht auch noch was im Kopf ab, ein Bedürfnis keimt auf.
Bei mir gerade nach roten Zwiebeln ... ich esse normalerweise keine roten Zwiebeln.
Na, dann wird's aber Zeit! (winkt dem Kellner) Cameriere!
Mit Ute Cohen sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de