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Comic "Der große Reset" "Man kommt gegen die Masse an Verschwörungserzählungen nicht an"

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Verschwörungserzählungen drohen, die Familie von Protagonistin Ika zu zerstören - Cover von "Der große Reset" von Ika Sperling, erschienen bei Reprodukt.

Verschwörungserzählungen drohen, die Familie von Protagonistin Ika zu zerstören - Cover von "Der große Reset" von Ika Sperling, erschienen bei Reprodukt.

(Foto: Ika Sperling / Reprodukt 2024)

Verschwörungserzählungen bieten einfache Antworten für komplexe Probleme. Sie säen Misstrauen - und können Familien zerstören. Angelehnt an eigene Erfahrungen erzählt Ika Sperling in ihrem Comic "Der große Reset" (Leseprobe) von einem Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter. Im ntv.de.-Interview spricht sie über das schwierige Zusammenleben mit Verschwörungsgläubigen, über Versuche, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Und über Hilfsangebote für betroffene Familien.

ntv.de: Im Comic steht, dass die Geschichte fiktional ist und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig seien. Das Thema ist aber auch autobiografisch. Wie ist das Verhältnis zwischen beiden Ebenen?

Ika Sperling: Die Geschichte ist zwar an meine Familie, meine Erfahrungen und Gefühle angelehnt. Aber die Figuren habe ich verfremdet. Einerseits habe ich so ein bisschen Distanz zu ihnen bekommen. Andererseits ist die Realität weit vielschichtiger als die zugespitzte Darstellung im Comic. Abgesehen davon kann ich mir natürlich aussuchen, wie ich mich im Buch darstelle. Meine Familie kann das nicht, die Verfremdung ist also auch ein Zeichen des Respekts ihr gegenüber.

Ika kommt nach Hause - doch der Umgang mit dem Vater ist äußerst schwierig.

Ika kommt nach Hause - doch der Umgang mit dem Vater ist äußerst schwierig.

(Foto: Ika Sperling / Reprodukt 2024)

Im Zentrum des Buchs steht die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrem Vater, der immer weiter in Verschwörungserzählungen abrutscht. Auch das beruht auf autobiografischen Erlebnissen. Wann haben Sie gemerkt, dass sich das Verhalten Ihres Vaters verändert hat?

2014 hat mein Vater angefangen, die Narrative der AfD zu glauben. Ich war damals 16 und habe mich erstmals für Politik interessiert. Ich dachte zunächst, ich könnte ihn von meinen Argumenten überzeugen und habe sehr viel mit ihm diskutiert. Ich habe mir dabei aber die Zähne ausgebissen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich einen Kompromiss im Umgang mit meinem Vater finden muss, damit wir weiter zusammen unter einem Dach leben können. Also habe ich zu ihm gesagt: Wenn du etwas Rassistisches sagst, bekommst du eine Verwarnung, und wenn du nicht damit aufhörst, dann stehe ich auf und gehe. Das hat gut funktioniert, weil wir die strittigsten Themen ausgeklammert haben.

Hat das auf Dauer funktioniert?

Es ist belastend für eine Beziehung, wenn es so viele Themen gibt, über die man nicht mehr sprechen kann. Zudem hat sich bei meinem Vater mit der Zeit der Glaube an Verschwörungserzählungen verschärft. Irgendwann war es nicht mehr möglich, die strittigen Themen auszuklammern. Alles, über das ich gesprochen habe, wurde zum Beispiel auf die Corona-Maßnahmen, den Lockdown oder Politikerinnen und Politiker zurückgeführt. Selbst als ich neue Schuhe brauchte, ging es am Ende nur noch darum, dass wegen des Lockdowns die Geschäfte geschlossen sind.

Haben Sie sich denn selbst Videos mit Verschwörungserzählungen angeschaut?

Ich habe mich sehr viel damit beschäftigt, Videos angeschaut oder Podcasts gehört. Ich wollte sehen, ob es Möglichkeiten gibt, Verschwörungsgläubige mit Argumenten zu überzeugen. Aber letztlich kann ich mich hinstellen und einen acht Stunden langen, top recherchierten Powerpoint-Vortrag mit Expertinnen und Experten halten - man kommt gegen die Masse an Verschwörungserzählungen nicht an.

Konnten Sie irgendwie nachvollziehen, wie Menschen in diesen Sumpf geraten?

Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob da etwas dran ist. Obwohl mir völlig klar war, dass das zum Beispiel eine antisemitische Verschwörungserzählung ist. Für mich konnte ich diese Zweifel immer wieder ausräumen. Aber das macht natürlich etwas mit einem. Ich habe zum Beispiel ein Verantwortungsgefühl meinem Vater gegenüber entwickelt. Ich habe mich dafür verantwortlich gefühlt, dass er sich nicht weiter radikalisiert.

Das hat aber nicht geklappt?

Zu erleben, dass mir das nicht gelingt, war und ist schwer auszuhalten. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich nichts mehr tun kann. Alles, was ich sagte, wurde infrage gestellt, weil ich ja sowieso nur Systemmedien schauen würde. Sobald dieses Argument kommt, kann man eigentlich gar nicht mehr miteinander reden.

Wie haben Sie dann reagiert?

Für mich war es wichtig, dann auf einer emotionalen Ebene mit meinem Vater zu sprechen. Wir konnten nicht über Verschwörungserzählungen reden, aber über Gefühle. Denn nichts, was ich sage, wird ihn überzeugen. Und nichts, was er sagt, wird mich überzeugen. Aber wir können darüber reden, wie es ihm geht, so können wir irgendwie zueinanderfinden. Das versucht auch die Protagonistin im Comic und nähert sich so noch einmal ihrem Vater an.

Die Vaterfigur im Buch ist als Fremdkörper dargestellt, eine durchsichtige Figur, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist. Wie kam es dazu?

Für mich ist das eine Blase, die Figur sieht ein bisschen aus wie eine Seifenblase. Deren Ursprung hat einen praktischen Grund: Ich wollte nicht, dass die Vaterfigur irgendeine Ähnlichkeit mit meinem echten Vater hat. Ich hatte aber anfangs keine Idee, wie ich ihn darstellen soll. Also habe ich ihn zunächst als eine Art Blobb gezeichnet. Diese Verfremdung gefiel mir und ich habe das Beibehalten.

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Diese Blase verliert während der Handlung permanent Flüssigkeit. Warum?

Als ich die Form der Blase entwickelt habe, kam ich auf das grafische Motiv des Auslaufens. Das ist etwas, das sich nicht aufhalten lässt. Egal, wie sehr es die Figur versucht, sie kann das nicht kontrollieren. Das entspricht dem Gefühl, das ich hatte, als sich mein Vater und ich immer weiter voneinander entfernt haben. Egal, wie sehr ich das verhindern wollte - letztlich kam ich nicht dagegen an. Dieser langsame, diffuse Verlust von jemandem sorgt dafür, dass diese Person auch nicht mehr vollständig greifbar ist. Manchmal verhält sich die Figur wie früher, dann gibt es plötzlich Momente, in der sie Politikerinnen Gewalt androht. Man erkennt sie nicht mehr wieder. Diese Dissonanz ist schwer auszuhalten.

Die Protagonistin kommt aus der Stadt und besucht ihre Eltern auf dem Land. Glauben Sie, dass es eine zunehmende Entfremdung zwischen beiden Lebenssphären gibt?

Dieses Thema der Entfremdung war mir wichtig. Wenn man in eine Stadt zieht und dann zurückkehrt, ist alles ein bisschen anders. Nicht nur man selbst verändert sich, sondern natürlich auch der Ort, aus dem man kommt: Es gibt neue Geschäfte, neue Gebäude, anderes verschwindet. Ich wollte die Dynamik dieser Dorfgemeinschaft zeigen, aber auch die Entfremdung der Protagonistin, die als "Frau Professorin" begrüßt wird, weil sie studiert hat. Gleichzeitig habe ich nach wie vor eine große Wertschätzung für dieses Dorf.

Der Umgang mit dem Vater wird für Ika zur extremen emotionalen Belastung.

Der Umgang mit dem Vater wird für Ika zur extremen emotionalen Belastung.

(Foto: Ika Sperling / Reprodukt 2024)

Im Dorf wird mit dem Vater auch ganz anders umgegangen.

Es gibt verschiedene Verhaltensweisen: Es gibt die, die davon wissen, aber nicht darüber sprechen wollen. Dann gibt es einen Charakter, der Mitgefühl heuchelt, aber eigentlich nur an Informationen kommen will, um Gerüchte verbreiten zu können. Und es gibt jene, die den Vater in seinen Erzählungen bestärken, aber im Grunde gar nicht wissen, was sie damit anrichten. Dabei wären es gerade sie, die Schlimmeres verhindern könnten. Meine eigenen Argumente stehen unter dem Vorzeichen, dass ich das Kind bin. Vielleicht hätten sie mehr Gewicht, wenn Freunde meines Vaters interveniert hätten. Mich hat es geärgert, dass sie das alles so hingenommen haben.

Welche Reaktionen haben Sie denn auf den Comic bekommen?

Tatsächlich überwiegt das positive Feedback. Sehr viele Leute haben mir geschrieben, dass sie das Buch berührt hat, weil eigentlich jeder irgendjemanden kennt, der eine ähnliche Erfahrung mit Verschwörungsgläubigen gemacht hat. Da geht es um die Tante oder einen Elternteil, einen Bruder, einen Freund, eine Freundin oder teilweise auch die eigenen Kinder, die verschwörungsgläubig sind. Viele der Leserinnen und Leser konnten sich in dem Buch wiederfinden.

Beratung zu Verschwörungsmythen

In vielen Bundesländern gibt es Hilfsangebote für Menschen, deren Bekannte oder Verwandte an Verschwörungsmythen glauben. Dazu zählen unter anderem Sekteninfo Nordrhein-Westfalen, "Entschwört" und Veritas in Berlin, Navi in Hamburg, die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg und Veritas in Sachsen-Anhalt. Bundesweit aktiv ist die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus.

Welchen Rat würden Sie Familien geben, deren Zusammenleben durch Verschwörungsmythen gefährdet ist?

Ich gebe immer den Rat, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Davon gibt es einige. Im Endeffekt bin ich selbst nur eine Betroffene, die aus der Angehörigenperspektive sprechen kann. Ich würde mir nie anmaßen, konkrete Empfehlungen zu geben, etwa den Kontakt abzubrechen oder weiter zu diskutieren. Der Grund, weswegen Leute an Verschwörungserzählungen glauben, ist immer sehr vielschichtig und komplex. Und die betroffenen Familien sind einzigartige Systeme, die eine individuelle Beratung brauchen.

Haben Sie sich auch bei Hilfsangeboten engagiert?

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Ich war Teil einer Selbsthilfegruppe, in der wir über unsere Erfahrungen gesprochen haben. Das war in erster Linie ein Austausch, der auch dazu diente, zu zeigen, dass man nicht allein ist. Für mich war es sehr gut, zu sehen, dass es noch viele andere Menschen gibt, die dieses Gefühl von Verantwortung haben. Und es war auch gut, die eigene Energie mal in etwas anderes zu investieren. Das gilt auch für den Comic. Damit wurde aus etwas Schlimmem, das mit mir und meiner Familie passiert ist, etwas, das ich selbst gestalten konnte, über das ich die Erzählhoheit habe. Und auch die ganzen Buchvorstellungen haben mir die Möglichkeit gegeben, mich mit anderen auszutauschen oder andere auf Hilfsangebote hinzuweisen.

Mit Ika Sperling sprach Markus Lippold.

Quelle: ntv.de

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