Bücher für die Weihnachtszeit Mut hat viele Gesichter, sehr viele
05.12.2021, 18:41 Uhr
Niemals aufgeben!
(Foto: Sina Schuldt/dpa/Aktuell)
Flanieren durch (Babylon) Berlin, ein Ausflug ins Gelsenkirchener Barock, in die Welt der Soldaten oder in die der Musik und immer wieder Mut. Mut, den eigenen Weg zu gehen. Wir haben für Sie ein Bücherpaket geschnürt, da ist bestimmt noch die eine oder andere Geschenkidee dabei.
"Tante Martl" von Ursula März
Tanten sind oft weibliche Wesen ohne "eigene" Familie, wie man so sagt, aber mit festem Platz im Familienkosmos. Über ihre eigene Tante hat nun die Literaturkritikerin Ursula März einen Roman geschrieben. Ihre Tante Martl war Lehrerin, unverheiratet, keine Kinder. Verbrachte ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in einer westpfälzischen Kleinstadt. Materiell unabhängig, gebildet, schon in den 1950er-Jahren mit eigenem Auto und Führerschein hat sich Martl nie von den dominanten Eltern, später den ebenso dominanten Schwestern lösen können. Ist immer in der Rolle des hilfreichen Hausgeistes geblieben. Diesem Rätsel spürt März in ihrem Roman nach. Sicher, "Tante Martl" ist auch ein Abbild der damaligen Zeit. 1925 geboren, war Martl nicht die einzige Frau, die unverheiratet geblieben ist. Dazu passt das burschikose Bild, das damals selbstständigen Frauen angedichtet wurde. Bei Martl kommt noch die für sie kränkende Familienanekdote dazu, dass ihr Vater sie, enttäuscht über die dritte Tochter, im Standesamt erstmal als Junge eintragen ließ. Martl wurde also, wie man heute sagen würde, ihr Leben lang nicht besonders weiblich gelesen.
Mit vielen liebevollen Details, vom pfälzischen Dialekt der Tante, über das bevorzugte TV-Programm (bloß kein Thomas Gottschalk) bis hin zur Wohnungseinrichtung (überraschend modern im Vergleich zum Gelsenkirchener Barock der Schwestern), zeichnet die Publizistin März ein deutsches Gesellschaftsporträt aus den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg. Die Familienkonstellationen sind jedoch zeitlos. Wer in einer großen Familie lebt, kann von verfestigten Rollenmustern ein Lied singen. Vom Neid zwischen Geschwistern. Und auch heute gibt es in jeder Generation das eine Kind, das sich den alt werdenden, vielleicht pflegebedürftigen Eltern stärker verpflichtet fühlt. Auch heute noch ist dieses Kind meist weiblich, gilt als belastbarer. Dieser noch fehlende Teil der Emanzipation ist nicht Kleinstadt, nicht Geschichte. (sla)
"Mitte" von Volker Kutscher, illustriert von Kat Menschik
Der Autor Volker Kutscher und die Illustratorin Kat Menschik haben sich erneut zusammengetan und dem "Babylon Berlin"-Kosmos um Kommissar Gereon Rath und Charlotte Ritter nach "Moabit" ein weiteres grafisches Kleinod hinzugefügt. Diesmal in einer etwas anderen literarischen Form: Die Erzählung besteht nur aus Briefen - bis auf drei zwischen Polizei und Gestapo alle geschrieben von Fritze Thormann, dem 15-jährigen Pflegesohn von Charlotte "Charly" und Gereon Rath.
Wir sind mittlerweile im Herbst und Winter 1936, die Handlung schließt unmittelbar an die Olympischen Spiele in Berlin und den achten Rath-Krimi namens "Olympia" an. Friedrich "Fritze" Thormann nennt sich jetzt Friedrich Hutzke und empfängt die Briefe nur postlagernd - er ist ebenso untergetaucht und lebt mit falscher Identität wie Hannah Singer, jetzt Hannelore Schneider, der er nach Breslau schreibt. Sie, weil sie Jüdin ist und "vor fast vier Jahren aus der Irrenanstalt ausgerissen" - er, weil auch er abgehauen ist, von seinen letzten Pflegeeltern. Zudem sucht die Gestapo nach ihm, weil er etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen dürfen ... Seine anderen Briefe gehen an Charly, ebenfalls postlagernd, in Berlin. Oder ist sie in Prag?
Dass man immer nur seinen Teil des Briefwechsels zu lesen bekommt, erhöht die Spannung. Zudem ist das kleine, feine Büchlein ausnehmend schön anzusehen und anzufassen - wie nicht anders zu erwarten, gehört es doch zur Reihe der "Lieblingsbücher" von Kat Menschik, die der Berliner Galiani-Verlag herausbringt und für die Kutscher die Erzählung zu "Mitte" auf Menschiks Wunsch hin extra geschrieben hat. Sie illustriert nicht nur die Handlung, sondern erschafft mit ihren Grafiken eine ganz eigene Welt, lässt einen in die Atmosphäre der Geschichte und ihrer Zeit eintauchen. Wie sie beide mehrfach in Interviews sagten, könnte man den Buchtitel auch genau so "mittig" verstehen: Es wird nach "Moabit" und nun "Mitte" also offenbar noch ein drittes Werk in dem Format geben, auf das sich die Kutscher-Menschik-Rath-Fangemeinde freuen kann. (abe)
"Siegerin" von Yishai Sarid
"Ich habe auch einige Zivilisten behandelt, aber ihre kleinen Probleme haben mich gelangweilt. Ich konnte nur mit Mühe das Gähnen unterdrücken." (Zitat aus: Siegerin)
Abigail ist Militär-Expertin für die Psychologie des Tötens und eigentlich schon im zivilen Ruhestand. Doch dem Ruf des Generalstabschefs kann sie nicht widerstehen. Er will, dass sie der Truppe hilft, Kriege zu gewinnen - zu Lande, bei Bodengefechten, von Mann zu Mann. Denn das Land habe zu feinsinnige Kinder, versäumt, sie zum Töten zu erziehen.
"Sie leben am Smartphone, die reale Welt existiert für sie fast nicht mehr. Manchmal denke ich, wir müssten ihnen erst mal beibringen, ein Huhn zu schlachten oder jemanden das Nasenbein einzuschlagen, ehe wir von ihnen erwarten, Menschen zu töten." (Zitat aus: Siegerin)
Die Jungen stärken und den Veteranen helfen, die Gespenster zu verjagen, die sie heimsuchen. Das ist Abigails Welt. Eine Frau, die studiert, wie sich die Truppen tödlicher machen lassen und die ihren verheirateten Brigadekommandeur, den späteren Generalstabschef, verführt, weil sie sich ein Kind von ihm wünscht. Eine Mutter, die ihrem Sohn vermittelt hat, dass sie nur die Mutigen und Harten schätzt. Nur einer stellt sie infrage: ihr alter, todkranker Vater, Psychologe der alten Schule. Für ihn ist Abigail keine Therapeutin, sondern eine Dienerin der Macht.
Die Bücher des israelischen Autors Yishai Sarid sind schmale Bände, seine Sprache konzentriert und die Themen schmerzhaft. In "Monster" geht er in das Holocaust-Trauma rein, in "Limassol" stellt er die Verhörmethoden des israelischen Geheimdienstes infrage, in "Siegerin" die Tragödie, dass das Land seine Kinder Generation um Generation der Armee opfert. Seine Kunst besteht darin, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Er beschreibt klar und nüchtern, was er sieht, und überlässt es dem Leser, sich zu fragen, ob die Welt so sein sollte. So wie man Sarids brillant geschriebenen Bücher nicht mehr aus der Hand legen kann, kann man sich diesen Fragen nicht mehr entziehen. (sla)
"Ciao" von Johanna Adorján
Dass die Welt sich auch immer weiterdrehen muss. Eigentlich war doch für Hans Benedek alles perfekt, so wie es war. Betonung auf war. Feuilletonist bei einer bedeutenden Berliner Zeitung, mittags Schnitzel und Espresso im "Einstein", ab und an auf Firmenkosten nach Baden-Baden ins Hotel, kleine Affären inklusive. Aber nun werden ihm die Spesenabrechnungen um die Ohren gehauen, ein jüngerer Kollege hat nicht nur lackierte Fingernägel und lebt polyamourös, sondern ist auch noch auf diesem Instagram so erfolgreich mit seinen Plattitüden, dass daraus ein Bestseller wird. Und dann sind da noch diese jungen, feministischen, lauten Frauen wie diese Xandi Lochner. Da wollen wir doch noch mal sehen, wer da aus wem Kapital schlägt.
Die Journalistin und Autorin Johanna Adorján hat mit "Ciao" einen herrlichen, luftig leichten Roman über eine aussterbende Gattung geschrieben: den alten, weißen Mann in der Medienbranche. Liebevoll begleitet sie ihren Protagonisten durch die Verwirrungen, die die neue Welt, ach was, die schon ein unvorteilhaftes Foto bei ihm auslöst. Er ist nicht allein, aber anders als bei dem alternden Moderator, dessen Charme auf einmal nichts anderes als sexuelle Belästigung ist, hat Hans Benedek möglicherweise noch eine kleine Chance auf Besserung. Auch, wenn sich seine Frau schon lange mehr für Yoga als für seine Affären interessiert und es bei der Arbeit gar nicht gut läuft. Nun ja. Vielleicht ist seine Zeit doch schon vorbei.
"Ciao" passt perfekt zu einem oder zwei Cappuccinos am guten alten Kurfürstendamm. Es sei denn, man muss so laut lachen, wenn der alternde Moderator seine Sicht der Dinge preisgibt. Oder man gerät gerade an Stellen wie die, wo Adorján das Berliner Grau beschreibt. So im Gegensatz zum Pariser oder Londoner Grau. Da muss man doch zweimal lesen. Dann weiter. Und dann nochmal zurückblättern, weil es so schön beschrieben ist. (soe)
"Ich will" von Rainer Zitelmann
Sie fühlen sich bestens: gesund, fit, vollständig. Unverwundbar. Das ist auch gut so, denn sonst liefen wir alle ja ständig mit Ängsten durch die Welt. Dass wir nicht unverwundbar sind, wissen wir natürlich, einige spüren es am eigenen Leib. Von Geburt an oder erst später, durch einen Unfall, eine Krankheit. Rainer Zitelmann nennt uns in "Ich will" Beispiele. Beispiele, die Erfolgsgeschichten sind, obwohl sie alles andere als erfolgreich klingen. Zunächst.
Denn sind Menschen wie Ray Charles, Stevie Wonder oder Andrea Bocelli weniger erfolgreich als andere, "bloß" weil sie blind sind? Konnte Frida Kahlo ihre Kunstwerke schaffen, obwohl oder weil sie stets unter Schmerzen litt, die die Hölle gewesen sein müssen? Oder weder noch? Müssen wir Mitleid haben mit Galerist Johann König, Schauspieler Michael J. Fox oder dem Genie Stephen Hawking? Alle haben oder hatten Behinderungen unterschiedlichster Art, dennoch sind sie unglaublich erfolgreich. Können wir, die manchmal nur mir dem falschen Fuß aufstehen und bereits morgens den Tag in die Tonne treten wollen, von diesen Menschen lernen? Zitelmann sagt: ja, das können wir.
Haben Sie den Film "Blind Date mit dem Leben" gesehen? Das ist nicht eine x-beliebige deutsche Romcom, das ist die wahre Geschichte von Saliya Kahawatte, der mit einem schweren Augenfehler zur Welt kam und Stück für Stück erblindete. Dargestellt von Kostja Ullmann erzählt der Film die Geschichte eines jungen Mannes, der sich von "Du wirst es nicht schaffen"-Aussagen niemals von seinen Zielen abbringen ließ, sondern diese im Gegenteil mit besonderer Energie verfolgte. Auch seine Geschichte ist in diesem Buch zu finden. Gerade im Moment, wo wir alle müde sind und der schlechten Nachrichten und Einschränkungen überdrüssig, ist "Ich will" von Rainer Zitelmann ein Ansporn. (soe)
"Der Rest ist Mut" von Manfred Maurenbrecher
Schon gleich zu Beginn seines Buches "Der Rest ist Mut" macht Manfred Maurenbrecher, einer der einflussreichsten und wahrscheinlich unterschätztesten deutschen Musiker Deutschlands, dem Leser Mut: "Wir stützten uns, ein wenig weltirre beide. Musik war für uns das verlockende Leben, aber Meg würde Erzieherin werden, ich Lehrer. Das glaubten wir zwar beide nicht und hofften auf andere Verläufe, aber wir duckten uns auch unter das Diktat. (…) Was soll bloß aus uns werden?" Das kennt man, wenn man zurückblickt, dass man das machen sollte, was die Eltern sagen, aber etwas machen wollte, was die Welt verändert. Und oft fand man dann einen Kompromiss, mit dem alle leben können. Viele Mädchen wechselten die Kleidung, nachdem sie ihr Zuhause verlassen hatten, ab der nächsten Straßenecke waren sie im Minirock unterwegs - Maurenbrecher tarnte sich mit Bürgerlichkeit, "ein bisschen vor den anderen und mehr noch vor mir selbst."
Ganz vieles kann man aus dem Buch Maurenbrechers für sich ziehen, Neues entdecken, sich erinnern und sagen, ach ja, stimmt ja, damals, Spliff und Jim Rakete und "Schernobel" (Tschernobyl), keine Handys, immer suchend unterwegs, nebenbei studierend, promovierend - das gab Karma-Punkte bei der Schwiegermutter. Damals nannte man das noch nicht so, Karma, man machte einfach etwas, um zu gefallen. Nicht immer hat er gefallen, der Manfred, und eben auch nicht so, dass er ein Superstar geworden wäre mit seiner Musik, die er auch viel für andere schrieb - Katja Ebstein, Klaus Lage oder Herman van Veen. Aber jetzt die 80er-Jahre-Memoiren - so darf man "Und der Rest ist Mut" durchaus verstehen -, die müssten ihn in den Literatenhimmel katapultieren. Bereits Ende der 80er schrieb das Stadtmagazin "Zitty" über ein anderes Buch von Maurenbrecher: "Dieses gewiss kleine Buch hat etwas, was der jungen deutschen Literatur im Allgemeinen fehlt. Es zeugt von tiefempfundener Selbstironie." Dem ist nichts hinzuzufügen: Maurenbrecher schreibt, auch mit über 70, äußerst jung und selbstironisch. (soe)
Quelle: ntv.de