
Kirschblüten und Schönheitschirurgie. Wie das zusammenpassen soll, fragt sich nicht nur Mieko Kawakami.
(Foto: Dumont)
In der Pandemie fühlen sich besonders Mütter weltweit in die traditionelle Rolle zurückgedrängt. Kein Wunder also, dass mit "Milchmann" und "Brüste und Eier" gleich zwei Romane über die gesellschaftlichen Zwänge der Frau zu Bestsellern werden.
Wir haben über #MeToo, das Ausnutzen von Machtpositionen für sexuelle Übergriffe, geredet. Über Gender Pay Gap, die Einkommenslücke, die zwischen Männer und Frauen klafft. Über gläserne Decken und Mental Load, die Last, die besonders Mütter tragen, die neben ihrem Beruf auch noch die Hauptverantwortung für Kind, Kegel und den Wocheneinkauf tragen.
Es wurden Artikel verfasst, Bücher geschrieben, Podcasts besprochen. Ist ja dann auch langsam ein bisschen gut damit, möchte man da meinen. Warum zeigt sich dann jedoch gerade in diesem Jahr, wie fragil die emanzipatorischen Errungenschaften sind, wie schnell sich die traditionellen Muster wieder etablieren? Und warum treffen genau jetzt zwei Autorinnen mit sehr verschiedenen Büchern über Zwänge, denen Frauen ausgesetzt sind, nahezu weltweit einen Nerv? Vielleicht, weil diese Debatten bislang vor allem theoretisch geführt wurden. Wie es dagegen in dem Alltag vieler Frauen immer noch aussieht, zeigen die Bücher "Milchmann" und "Brüste und Eier".
"Warum tat er so, als würden wir einander kennen, wo wir einander doch kein bisschen kannten? Warum ging er davon aus, dass es mir nichts ausmachte, wenn er neben mir herlief, wo es mir sehr wohl etwas ausmachte?" Auszug aus "Milchmann"
In "Milchmann" von Anna Burns geht es um ein 18-jähriges Mädchen. Eines, das gerne seine Ruhe hat. Eines, das nicht weiß, ob sie mit diesem einen Jungen eine Beziehung hat oder er nur ein "Vielleicht-Freund" ist. Eines, das gerne liest. Vorzugsweise im Gehen. Also bis auf ganze Gehen und Lesen ein unauffälliges Mädchen. Bis ein 41-jähriger Milchmann anfängt, ihr nachzustellen. Und das Gerede der Leute aus ihr die Geliebte eines wesentlich älteren Mannes macht. Ohne zu hinterfragen, was wirklich hier passiert und ob sie Hilfe braucht.
Für "Milchmann" erhält Anna Burns unter anderem den Man Booker Prize. Das Buch erscheint in 30 Ländern und wird als großartige Beschreibung der Gesellschaft in der nordirischen Stadt Belfast der 1970er Jahre gefeiert. Eine Interpretation, gegen die die in Belfast geborene Autorin nichts hat, die sie aber gerne erweitern möchte, wie sie in Interviews verrät. Denn ihr Roman soll vor allem eine Gesellschaft aufzeigen, in der der Wunsch nach Individualität Probleme macht. In der Frauen Männer keinesfalls überlegen sein dürfen. Eine Gesellschaftsbeschreibung, die auch, aber nicht nur auf das 1970er Jahre Belfast zutrifft.
"Hier war 'Ich Mann, du Frau'-Gebiet. Hier war festgelegt, was man als Mädchen zu einem Jungen, als Frau zu einem Mann oder als Mädchen zu einem Mann sagen durfte und was nicht – zumindest nicht offiziell, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, zumindest nicht oft." Auszug aus "Milchmann"
In "Milchmann" gibt es keine Namen, sondern Zugehörigkeiten. Unterschieden wird in "Die" und "Wir". Man ist Schwester oder Schwager. Wenn es zu viele Schwestern und Schwäger gibt, dann halt mit Nummern. Keine Ortsnamen, keine Straßennamen, nur ein hier und ein drüben. So erreicht Burns ihr Ziel, dass das Buch ebenso als historische Erzählung wie als Dystopie gelesen werden kann. Dass der Leser jede Perspektive einnehmen kann, auch wenn er nur der Stimme der jungen Erzählerin lauscht. Und sie ermüdet den Leser zwischendrin auch. Erdrückt ihn mit der Enge dieser Gesellschaft. Lässt ihn aufbegehren gegen diese Gleichförmigkeit. Und hinfiebern auf eine Auflösung der Situation.
"Warum konnte ich nicht einfach stehen bleiben und dem Mann sagen, er solle mich in Ruhe lassen? Aber das kam mir alles erst später in den Sinn, und damit meine ich nicht eine Stunde später. Ich meine zwanzig Jahre später." Auszug aus "Milchmann"

Es schmeichelt Anna Burns, wenn sie in der Tradition großer irischer Schriftsteller gesehen wird - aber überzeugt sie nicht wirklich. Trotz Booker Prize.
(Foto: Eleni Stefanou)
Mit "Milchmann" erreicht die 1962 geborene Autorin in jedem Fall viel mehr, als den nordirischen Konflikt, der auch ihre Kindheit prägte, noch einmal aufzuarbeiten. Sie verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Eine Gegenwart, in der die Rolle der Frau noch lange nicht fertig ausdiskutiert ist.
Auch Mieko Kawakami führt den weltweiten Erfolg ihres Buches "Brüste und Eier" unter anderem auf die aktuelle Situation zurück: "Es wird wieder selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Mütter die Last tragen. Wir arbeiten von zu Hause, versorgen die Kinder und machen die ganze Extra-Arbeit", sagt die 1976 geborene Kawakami in Interviews.
"Makiko hatte nichts gelernt. Ich, ihre Schwester, hielt mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Midoriko war noch ein Kind und musste versorgt werden. Keine Versicherung. Null Verwandte. Die Wahrscheinlichkeit, reich zu heiraten und auf einen Schlag aller Sorgen ledig zu sein, ebenfalls null. Nein, weniger als null. Blieben noch Lotto und Sozialhilfe." Auszug aus "Brüste und Eier"
Makiko, die in einer Bar arbeitet, ist davon besessen, sich einer Brustvergrößerung zu unterziehen. Ihre Tochter Midoriko versteht ihre Mutter nicht mehr und ekelt sich gleichzeitig vor ihrem eigenen, pubertierenden Körper, während schließlich Makikos Schwester Natsuko, die Ich-Erzählerin des Romans, als unverheiratete Frau ohne Interesse an Sex, nicht darauf verzichten will, Mutter zu werden. Ihr ungeborenes Kind kennenzulernen. Mit Hilfe einer Samenspende. Doch wird sie ihre eigenen Zweifel überwinden? Wird sie sich gegen eine Gesellschaft stemmen können, die ihr das Recht abspricht, ganz alleine eine Familie zu gründen?
"Brüste und Eier" wird oft als erfrischende, schräge, groteske, herrlich durchgeknallte Lektüre beschrieben. Ob Kawakami da zustimmen würde, ist fraglich. Denn die japanische Autorin kann es nicht leiden, wenn das literarische Universum ihrer Heimat immer noch als niedlich, schräg und ein wenig mysteriös beschrieben wird. Sie schreibe über reale Menschen, sagt Kawakami, die in Japan als eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart gilt, in Interviews.
"Warum diese Operation", stieß Midoriko hervor und schlug sich das zweite Ei an den Kopf. Gelb durchsetztes Eiweiß lief ihr von der Stirn. "Wegen mir? Weil du mich geboren hast und jetzt anders aussiehst als vorher? Deshalb tust du dir das an?" Auszug aus "Brüste und Eier"

Auf die Lobhudelei des japanischen Literaturstars Haruki Murakami reagierte Mieko Kawakami mit der Gegenfrage, warum es in seinen Bücher soviele weibliche Charaktere gäbe, die nur eine sexuelle Funktion hätten?
(Foto: Wakaba Noda)
Tatsächlich kam man sich dem Realismus in "Brüste und Eier" kaum entziehen – vor allem den exakten Beschreibungen weiblicher Realitäten, denn die Männer kommen in diesem Buch nur am Rande vor. Aber die Eier? Die kommen schlicht vom Huhn und werden sich in großer Verzweiflung auch schon mal an die Stirn geschlagen. Denn alle Hauptfiguren in Kawakamis preisgekrönten Roman haben mit ihrem weiblichen Körper und dessen Zweck zu kämpfen.
"Allein zu bleiben, macht mir nichts aus. Es macht mir nichts aus, aber würde ich es nicht bereuen? Würde ich es nicht bereuen, ihm nicht begegnet zu sein? Dem Kind. Meinem Kind. Dir." Auszug aus "Brüste und Eier"
Etwas an der Einsamkeit ihrer Figuren scheint dabei besonders viele Leserinnen anzusprechen, berichtet Kawakami auf ihrer Instagram-Seite. Sie hoffe aber, dass ihre Leserinnen eines Tages diese Bücher nicht mehr brauchen werden. Dieser Zeitpunkt hat sich jedoch für viele Frauen durch die Pandemie nach hinten verschoben.
Ja, "Brüste und Eier" hat viele humorvolle und groteske Stellen. Aber durchgeknallt sind Kawakamis Beschreibungen leider nicht. Und wenn man "Milchmann" liest, lernt man einiges über den nordirischen Konflikt. Aber auch über ein Rollenverständnis zwischen Mann und Frau, das wir bis heute nicht überwunden haben. Beide Bücher zeigen, was für Zwängen Frauen sich nicht mehr ausgesetzt sehen wollen.
Quelle: ntv.de