
Der Roman "Wir sind das Licht" liest sich wie ein beklemmendes Kammerspiel.
(Foto: imago images/Shotshop)
Immer wieder kostet das esoterische Konzept der "Lichtnahrung" Menschen das Leben, auch Elisabeth in Gerda Blees' Roman "Wir sind das Licht". Doch wer nun eine moralische oder juristische Abrechnung erwartet, irrt. Stattdessen liefert die Niederländerin eine formal spannende und tiefgehende Reise in eine verschlossene Welt.
In einer Wohngemeinschaft stirbt eine Frau, offenbar ist sie verhungert. Keiner der Mitbewohner holt Hilfe. Lediglich um den Tod festzustellen, rufen die beiden Frauen und der Mann, die mit ihr lebten, einen Arzt. Doch der Mediziner sieht Verhungern nicht als natürliche Todesursache und schaltet die Polizei ein.
Gerda Blees' Roman "Wir sind das Licht", übersetzt von Lisa Mensing, startet wie ein Krimi. Die tote Elisabeth kommt zur Obduktion in die Gerichtsmedizin, ihre Schwester Melodie, die junge Frau Muriel und der Mitbewohner Petrus werden festgenommen. Die Polizei beginnt mit ihren Ermittlungen. Dabei ist eigentlich von Anfang an klar, was geschehen ist. Geht es also darum, ob jemand dafür verantwortlich gemacht werden kann?
Blees lässt ihre Leserinnen und Leser darüber im Unklaren, während sich die Handlung auf seltsame Weise entfaltet. Statt Chronologien zu folgen, wählt die niederländische Schriftstellerin für jedes der 25 Kapitel eine neue Perspektive, aber nicht die einer Person. Stattdessen bekommt die Nacht eine Stimme, das Brot, der Tatort, Elisabeths toter Körper, die Demenz oder die Ermittlungsergebnisse, am Ende sogar die Geschichte und das Licht.
In jeder dieser personifizierten Schilderungen werden der Handlung immer neue Aspekte hinzugefügt, die zu Elisabeths Sterben gehören. Gleichzeitig erfährt man immer mehr über die verschiedenen Personen und ihre Geschichten. Schon auf den ersten Seiten wird klar, "Klang und Liebe“"- das ist keine Wohngemeinschaft im herkömmlichen Sinn. Hier haben sich Menschen zusammengetan, die künftig nur noch von Licht leben wollen. Das esoterische Konzept der "Lichtnahrung" geht von der irrigen Annahme aus, dass Menschen ohne Nahrung und Wasser leben können. Blees schreibt im Nachwort, sie sei zu der Geschichte durch die Nachricht vom Tod einer Frau im Sommer 2017 in Utrecht inspiriert worden. Auch diese Frau lebte in einer Wohngruppe.
So viel Verlorenheit
Im Roman ziehen die beiden Teilnehmer Muriel und Petrus nach einem Workshop bei Melodie ein, die nach der Trennung von ihrer Partnerin in dem Haus allein zurückgeblieben ist. Genauso wie ihre Gastgeberin, deren bestimmender Ton und die scheinbare innere Klarheit die eigene Unsicherheit nur notdürftig verdecken, kommen sie in ihren Leben nicht zurecht. Petrus wird wegen seiner Wutanfälle immer wieder arbeitslos. Als einer der Ermittler die Vernehmung beginnt, nachdem er gerade eine Orange geschält und gegessen hat, berichtet der Orangenduft von verschimmelten Orangen in einer Schultasche. In wenigen Zeilen wird eine Mobbinggeschichte sichtbar. "Seitdem kann er uns nicht mehr riechen, ohne wütend zu werden."
Muriel hungert schon ihr ganzes Leben nach Liebe und Leichtigkeit. Das Brot erzählt von einem Elternhaus, in dem Essen kein Genuss sein durfte und in dem es nie süßen Brotbelag gab. "Denn so waren ihre Eltern nun mal. Jeden Tag auf die Waage, kein Zucker, keine Butter, immer ausschließlich Vollkornbrot." Melodies Cello berichtet von einer gescheiterten Musikerinnenkarriere und einer zerbrochenen Liebesbeziehung und auch Elisabeths Körper kommt zu Wort. Die Tote, die offenbar im Leben von niemandem körperliche Wärme bekam, wird nun vom Gerichtsmediziner geradezu liebevoll seziert und berührt.
"Ich interessiere mich für Dinge, die extrem schiefgehen", sagte Blees der niederländischen Zeitung "De Volkskrant" über ihre Motivation, den Roman zu schreiben. "Ich fragte mich: Wie konnte das so entgleisen?" Das fragen sich auch die beiden Ermittler Ton und Liesbeth, deren Tochter an Magersucht erkrankt ist und die das Nicht-Essen ihrer Verdächtigen kaum aushält.
Höhepunkt oder Enttäuschung?
Elisabeths Tod führt dazu, dass die Mitglieder der Gruppe nach Jahren des Immer-Beieinanderseins vereinzelt in ihren Zellen sitzen. Muriel isst von dem angebotenen Brot, Petrus raucht und Melodie fürchtet um den Zusammenhalt ihrer Welt. An dieser Stelle kommt die Geschichte zu Wort: "Wir sind die Geschichte. Langsam und vorhersehbar steuern wir auf unser Ende zu - den Höhepunkt oder die Enttäuschung, das bleibt abzuwarten. Wir vermuten, dass es eine Enttäuschung sein wird, wenn der Autor so weitermacht." Das wird es nicht, so viel darf an dieser Stelle verraten werden.
Blees gelingt es in einer beinahe kammerspielartigen Atmosphäre in unglaublicher Intensität über Schmerz, Einsamkeit und Verblendung zu schreiben, dass einem gar nichts anderes übrigbleibt, als immer weiterzulesen. Jede ihrer Figuren wird einerseits entschlüsselt, bleibt aber dennoch rätselhaft. Sympathisch sind einem diese zugleich Verbohrten und Verzweifelten nicht unbedingt, trotzdem ist es schwer, nicht von Mitgefühl ergriffen zu werden. Gleichzeitig ahnt man, dass Menschen in diesen Konstellationen kaum zu erreichen sind. Für ihr Debüt erhielt Blees unter anderem den Nederlandse Boekhandelprijs und den Europäischen Literaturpreis.
"Wir sind das Licht" ist keine Abrechnung, Urteile werden hier weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht gefällt. Allerdings kann es passieren, dass man noch lange nachdenken muss. Auf den letzten Seiten hat das Licht das Wort, es fällt auf Melodie, die nach der Rückkehr in das Haus ihre Sachen gepackt hat, um die WG zu verlassen. Sie schafft es bis zur Haustür, die abgeschlossen ist. "Wir werden keine Meinung zu ihrer Entscheidung haben. Die Entscheidung liegt bei ihr, das Betrachten bei Ihnen. Alles, was wir tun können, ist bei ihr zu bleiben, ihr Gesicht in Licht zu hüllen, ihre Hände zu streicheln; dafür zu sorgen, dass es gesehen wird."
Quelle: ntv.de