It's only Rock'n'Roll Die Rolling Stones haben es immer noch drauf
20.10.2023, 12:08 Uhr Artikel anhören
Das Warten auf sie hat ein Ende: die Rolling Stones.
(Foto: Mark Seliger / Universal Music)
Vor einem Monat war das neue Album der Rolling Stones mit ordentlich Bohei live bei Jimmy Fallon angekündigt worden. Jetzt liegt es in Gänze vor und sorgt - man kann es nicht anders sagen - für mächtig dicke Backen: "Hackney Diamonds" gehört zum besten Stones-Stoff der letzten fünf Dekaden.
Wir schreiben das Jahr 2005, Anfang September. In den USA hat Hurrikan "Katrina" verheerende Schäden verursacht. Edmund Stoiber wird mit 93 Prozent der Stimmen als CSU-Chef wiedergewählt. In der Fußball-Bundesliga liegt der FC Bayern auf Platz eins, direkt dahinter, das muss man sich mal vorstellen, Werder Bremen, HSV, Schalke und Hertha. Und die Rolling Stones bringen ein neues Album heraus, "A Bigger Bang" heißt es, solide ist es geraten, nicht mehr, nicht weniger.
18 lange Jahre sollte es dauern - sieht man mal von der Blues-Collection "Blue & Lonesome" (2016) ab - bis eine neue Platte von Jagger, Richards & Co. erscheinen würde. Und wollte man gleich mal das Phrasenschwein der Rock-Rezension mit ein paar Geldstücken anfüttern, dann geschieht das mit Wonne. Und mit Recht: Das Warten hat sich gelohnt.
Es ist noch nicht allzu lange her, da wurde bei einem großangelegten PR-Live-Event in London, im titelgebenden Stadtteil Hackney, die Single "Angry" vorgestellt. US-Talker Jimmy Fallon kaperte das Bühnen-Event im Hackney Theatre, erging sich in Persiflagen und in zu langen Redebeiträgen. Ronnie Wood, Keith Richards und Mick Jagger - Profis, wie sie sind - spielten das Spielchen mit, lachten scheppernd, spielten sich ein paar Smalltalk-Bälle zu. Das Video zu "Angry" wurde gezeigt, die Live-Schalte hakte etwas - zack, war die Chose auch schon wieder vorbei.
Erfrischende Wucht
Nun also, einen guten Monat später, rauscht das komplette Album in die Mailbox, alles noch geheim, watermarked, nur hier, nur jetzt, wer es verbreitet, kommt vor den Kadi - als wäre das alles nicht schon aufregend genug. Klar, das letzte überragende Album hat ein paar Dekaden auf dem Buckel, aber jetzt mal ehrlich: Das hier sind immer noch die motherf***** Rolling Stones.
Den Auftakt besorgt besagte Single "Angry" - und die macht ohne das prähistorische Model-auf-dem-Motorway-Video gleich viel mehr her. Exzellentes Riff, so groß wie Jaggers Klappe da oben auf den Billboards. Die Beats vom neuen Drummer Steve Jordan haben - sorry, Charlie - eine erfrischende Wucht, einen kompakten Punch, der dem aktuellen Material nicht nur hier, sondern im Verlauf der ganzen Platte verdammt gut zu Gesicht steht.
Klassisch stonesk geht es weiter. "Get Close" ist ein Midtempo-Groover mit luftiger Richards-Prägung, Jordan lässt die Glocke klingen, Elton John das Piano, Jagger rückt der Besungenen auf die Pelle. Und dann dieses Saxofon-Solo von James King, als hätte sich Clarence Clemons "Sticky Fingers" einverleibt, umwerfend gespielt. "Depending On You" im Anschluss hebt Jagger in ungeahnte Tonhöhen. Überhaupt scheint der 80-Jährige das Singen als solches neu entdeckt zu haben, selten hat man ihn dermaßen variabel und nuancenreich gehört. Die Streichersätze sind exquisit, die Steelguitar ein absoluter Tearjerker. "I'm too young to die, too young to lose", singt Jagger und hat doch ohnehin bereits gewonnen.
Mit Paul McCartney am Bass

(Foto: Soeren Stache/dpa)
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Und gerade als man überlegt, ob es wohl bei dieser Schlagzahl bleibt, da hauen die Stones mit "Bite My Head Off" den wohl härtesten Song ihrer gesamten Karriere raus. Sattes Uptempo, ein pragmatisches Riff, übersichtlich arrangiert und am Bass kein Geringerer als Paul McCartney. Punk's not dead? You better you bet. "Whole Wide World" umschmeichelt im Anschluss das Publikum als eingängiger Neo-Blues mit Pep-Talk-Anteil, der Chorus so juvenil-uplifting, dass man es Jagger direkt abnimmt: "You think the party's over, but it's only just begun", programmatisch dazu gibt es ein famos verzerrtes Solo und einen zu Herzen gehenden Breakdown-Part vor dem Wiedereinstieg.
Das Album hat hier noch nicht mal seine innere Mitte erreicht und doch ist es fast schon egal, was auf der zweiten Hälfte passiert. So überzeugend, ja, euphorisierend ist das bisher Gehörte, dass man bereits ein paar Mal zurückgeklickt hat, um den in Echzeit liebgewonnenen Favoriten einen weiteren Durchlauf zu gönnen. "Die Rolling Stones haben eine Platte gemacht, die man mehr als einmal abspielen möchte", schreibt David Browne vom "Rolling Stone". Man bilde einen Satz mit Nagel und Kopf, Kollege Browne trifft mitten ins Schwarze.
In der zweiten Hälfte wird es erst einmal etwas gemächlicher. "Dreamy Skies" schunkelt so vor sich hin, Bottleneck-Zierrat inklusive. "Mess It Up" und "Live By The Sword", beide noch einmal mit Charlie Watts am Kit, Letzterer gar mit Bill Wyman am Bass und erneut Sir Elton, sind so oldschool, dass es staubt. "Driving Me Too Hard" reiht sich da ebenfalls ein. Keith Richards erhebt in "Tell Me Straight" das Wort, sein Gesang passt zum Gesamteindruck von "Hackney Diamonds", fokussiert phrasiert, keine Spur vom brüchigen Gestus, den man in der Vergangenheit zuweilen erlebte.
Das Beste aus allen Stones-Welten
Das fast siebeneinhalbminütige "Sweet Sounds Of Heaven" wird schließlich zum vorletzten Vorhang. Stevie Wonder ist dabei, eine betörende Lady Gaga, der Built-up ist die pure Grandezza, wie hier Schicht um Schicht gestapelt wird, ist Instant-Classic-Material, das ebenso gut aus den Tiefen der 70er stammen könnte. Am Ende machen Jagger und Richards den Sack zu, spielen Muddy Waters' einst zum Bandnamen inspirierenden "Rolling Stones Blues". Produzent Andrew Watt (unter anderem Iggy Pop, Ellie Goulding und Ozzy Osbourne), dem das Album seinen wuchtigen Sound zu verdanken hat, weiß, wann es Zeit ist, die Finger vom Pult zu lassen - die Glimmer Twins gibt es hier als zu Herzen gehende Reduktion, authentisch, fast fragil.
Fazit: Ein Album, mit dem man in dieser Güteklasse nicht mehr unbedingt rechnen konnte. Das Beste aus allen Stones-Welten, reich an Riffs und Raubeinigkeit, mit mächtig Verve über die Rampe gebracht. Als potenzielles Abschiedswerk ein Geniestreich deluxe, dabei aber so energetisch, dass man sich kaum vorstellen kann, dass dies das Ende ist. It's Only Rock'n'Roll ... and they like it. Immer noch.
Quelle: ntv.de