Kein Regenbogen über Bundestag Erlebt die Vielfaltgesellschaft einen Backlash?


Wird zum diesjährigen CSD in Berlin nicht über dem Reichstagsgebäude wehen: die Pride-Flagge.
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2022 wird anlässlich des Christopher Street Days erstmals die Regenbogenflagge auf und vor dem Reichstagsgebäude gehisst. Damit ist jetzt Schluss. Parallel haben es Rechtsextreme auf Pride-Paraden abgesehen. Und die Politik sendet kaum Unterstützungssignale.
Juni ist Pride-Monat und traditionell Saison der Christopher-Street-Day-Paraden (CSD), die in Deutschland seit Jahrzehnten stattfinden. Mit Demonstrationen und bunten Umzügen wird an den ersten bekannt gewordenen Aufstand queerer Minderheiten gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street erinnert, gefeiert und protestiert.
Längst gehört der CSD zum gesellschaftlichen und auch zum politischen Kalender in Deutschland. In den vergangenen Jahren wurde mit dem Hissen der Regenbogenflagge auf dem Reichstagsgebäude ein klares Zeichen gesetzt: für Vielfalt, Selbstbestimmung und eine offene Gesellschaft. Doch in diesem Jahr soll Schluss damit sein.
Wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mitteilte, verzichtet der Bundestag am 26. Juli, dem Tag der Berliner CSD-Parade, auf die Beflaggung. Stattdessen wurde die Pride-Fahne am 17. Mai neben der Bundes- und der Europaflagge auf dem Reichstag gehisst. Die Begründung der CDU-Politikerin: Am 17. Mai 1990 strich die WHO Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel für Krankheiten. Damit habe man bereits "ein politisches Zeichen gesetzt", sagte ein Sprecher Klöckners auf Anfrage von ntv.de.
"Das ist das absolut falsche Zeichen", kritisiert Alexander Irmisch. Der SPD-Politiker ist Mitorganisator des CSD in Regensburg und wünscht sich dringend mehr Unterstützung. Aufgrund einer "abstrakten Gefährdungslage" kann die Parade in Regensburg am 5. Juli nicht wie in den vergangenen Jahren stattfinden, sondern muss verkürzt werden. Laut Polizei liegen zwar "keine konkreten Gefährdungserkenntnisse für die Veranstaltung" vor. Doch "trotz intensiver Planungen und zahlreicher Schutzmaßnahmen" könne nicht jederzeit und überall vollumfänglicher Schutz garantiert werden.
"Die zunehmende Queerfeindlichkeit zwingt uns aktuell dazu, besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen", sagt Irmisch ntv.de. Vor diesem "besorgniserregenden Hintergrund" sei die Umplanung letztlich nötig gewesen, um für "eine Erhöhung der Sicherheit von Teilnehmer*innen und Einsatzkräften" zu sorgen. Umso mehr brauche die LGBTQIA+-Community gerade jetzt die Solidarität der Politik. "Da geht es auch um Zeichen und Symbole."
"Einknicken vor rechten Tendenzen"
Ein solches Symbol war in den letzten Jahren - neben dem Hissen der Regenbogenflagge - unter anderem die CSD-Teilnahme des queeren Regenbogennetzwerkes der Bundestagsverwaltung. Doch auch die fällt in diesem Jahr aus. Der neu berufene Direktor des Bundestags Paul Göttke untersagte sie Anfang der Woche und bezog sich dabei auf die "gebotene Neutralitätspflicht".
"Außerhalb des Dienstes steht den Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung [...] eine Teilnahme an solchen Versammlungen selbstverständlich frei - egal ob individuell oder als Gruppe", fügte Klöckners Sprecher hinzu. Verdi-Chef Frank Werneke bezeichnete den Schritt als "Einknicken vor rechten Tendenzen" und drückte die Erwartung aus, dass die Behördenleitung das "de facto-Demonstrationsverbot" zurücknehme.
Auch die Queerbeauftragte des Bundes, Sophie Koch, äußerte sich kritisch. "Wenn die Teilnahme solcher Mitarbeitenden-Netzwerke untersagt oder erschwert wird, halte ich das für ein falsches und unnötiges Signal - gerade in der jetzigen Zeit", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.
Die Entscheidung der Bundestagsspitze sei "ein politisches und moralisches Versagen auf ganzer Linie", schrieben auch Linken-Abgeordnete an die Parlamentspräsidentin. Die Grünen forderten in einem eigenen Brief an Klöckner, Flagge zu zeigen "für Freiheit und Sicherheit von queeren Menschen".
In einem weiteren Brief forderten Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion Klöckner dazu auf, eine Teilnahme der queeren Gruppe der Bundestagsverwaltung am diesjährigen Berliner CSD zu ermöglichen. Besonders irritierend sei die Begründung der Neutralität, wie es in dem Brief heißt, der der dpa vorliegt. Schließlich gehe es bei der Veranstaltung auch darum, sich für die Werte des Grundgesetzes einzusetzen, zu denen die Achtung der Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot zählen.
CSD-Anschlag in Wernigerode vereitelt?
Die Entscheidungen des Bundestags fallen in eine Zeit, in der die Gefährdung queerer Menschen zunimmt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden im vergangenen Jahr 1765 Fälle (plus 18 Prozent gegenüber 2023) im Bereich sexuelle Orientierung gemeldet sowie 1152 Fälle, die sich gegen trans oder nicht-binäre Personen richteten (plus 35 Prozent)- Ein "trauriger Höhepunkt" queerfeindlicher Hasskriminalität, sagt André Lehmann, Vorstand im LSVD⁺ Verband Queere Vielfalt.
Im brandenburgischen Bad Freienwalde griffen am vergangenen Wochenende mit Sturmhauben vermummte Personen ein Fest für Vielfalt mit Schlagwerkzeugen und Holzlatten an. Mindestens zwei Menschen wurden dabei verletzt.
Im benachbarten Sachsen-Anhalt steht derweil ein 20-Jähriger unter Verdacht, einen Anschlag auf den Christopher Street Day in Wernigerode angekündigt zu haben. Laut einem Bericht der "taz" soll er demnach mit Blick auf die Veranstaltung erklärt haben, Waffen und "70 Schuss" zu Hause zu haben, woraufhin ihn die Organisatorinnen und Organisatoren der Parade angezeigt hätten.
Am kommenden Wochenende haben Rechtsextreme in Berlin eine Gegendemonstration zur Pride-Parade im Bezirk Marzahn-Hellersdorf angemeldet. Nach Tagesspiegel-Information steckt die Neonazi-Gruppe "Deutsche Jugend voran" (DJV) hinter der Gegenaktion.
CDU-Kolleginnen und -Kollegen zeigen Flagge
Einen anderen Weg als CDU-Politikerin Klöckner schlagen derweil ihre Parteikollegen Karin Prien und Kai Wegner ein. Wie in den Vorjahren will sich das Bundesfamilienministerium am CSD in Berlin beteiligen. "Unser Ministerium wird auch in diesem Jahr wieder mit einem eigenen Wagen […] vertreten sein", sagte Ressortchefin Prien der "taz". Dies sei "ein wichtiges Zeichen für die Anerkennung und den Respekt vor der Vielfalt in unserer Gesellschaft".
Prien verwies weiter auf die Bedeutung eines solchen Zeichens "gerade angesichts zunehmender Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität weltweit und leider auch in Deutschland".
Auch Berlins Regierender Bürgermeister hat seine Teilnahme am Hauptstadt-CSD angekündigt. "Berlin ist die Stadt der Vielfalt und der Toleranz", sagte Senatssprecherin Christine Richter. Demnach werde am 26. Juli in Berlin die Regenbogenflagge gehisst - "auch am Roten Rathaus, auch in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters."
Quelle: ntv.de