
Testen, testen, testen - das ist Teil der Null-Covid-Strategie.
(Foto: picture alliance / Xinhua News Agency)
China kommt mit seiner Null-Covid-Strategie bisher glimpflich durch die Pandemie. Doch die Omikron-Variante erfordert immer neue drakonische Maßnahmen, und zwar an vielen Orten gleichzeitig. Scheitert die Volksrepublik an schlechteren Impfstoffen und am eigenen Stolz?
Am heutigen Dienstag verzeichnet China 108 neue Corona-Fälle. Ein winziges Fallaufkommen verglichen mit Hunderttausenden Infektionen, die die USA, Großbritannien oder andere Staaten aktuell täglich melden. Aber trotzdem sind es 108 zu viel, denn als einziges Land der Welt versucht China nach wie vor, das Virus auszurotten. Mit drakonischen Maßnahmen, wie derzeit 13 Millionen Menschen in Xi'an zu spüren bekommen.
Am Tag vor Weihnachten hatte der Lockdown in der Heimatstadt der weltberühmten Terrakotta-Armee nach 69 Infektionsfällen begonnen. Nur noch eine Person pro Haushalt durfte alle zwei Tage einkaufen gehen. Die anderen Familienmitglieder mussten zu Hause bleiben - es sei denn, sie arbeiten in der Pandemie-Abwehr. Massentests wurden angeordnet, Schulen und Geschäfte geschlossen, der Bus- und Bahnverkehr bis auf wenige Ausnahmen eingestellt.
Aber der Erfolg stellt sich nur langsam ein. Seit dem 9. Dezember wurden in Xi'an mehr als 1600 Infektionsfälle erfasst. Das sind für China die meisten seit dem allerersten Ausbruch in Wuhan Anfang 2020. Inzwischen sinken die Fallzahlen wieder, aber dafür mussten die Maßnahmen noch einmal nachgeschärft werden: Viele Anwohner dürfen ihre Wohnung nur noch verlassen, um sich auf das Coronavirus testen zu lassen. Supermärkte sind geschlossen, Einkäufe verboten. Wachposten in den Wohnblöcken kontrollieren, dass sich alle daran halten.
Wer es trotzdem aus der Wohnung schafft und damit gegen die Regeln verstößt, wird öffentlich vorgeführt und gedemütigt. Oder von seinem Posten abberufen, wie zwei wichtige Parteifunktionäre, die für den am schlimmsten betroffenen Bezirk in Xi'an verantwortlich waren und am Anfang des Ausbruchs anscheinend nicht schnell genug eingegriffen haben.
Immer neue Ausbrüche
Gesundheitsexperten wie Tulio de Oliveira allerdings haben Zweifel, das öffentliche Strafen sinnvoll sind. Der Direktor der südafrikanischen Seuchenschutzbehörde CERI gehört zum Team, das Ende November die neue Omikron-Variante des Coronavirus identifiziert hat. Er befürchtet, dass die Delta-Nachfolgerin so ansteckend ist, dass sie auch mit strengsten Maßnahmen nicht mehr ausgerottet werden kann, sondern sich immer weiter ausbreitet.
Für den Ausbruch in Xi'an war Anfang Dezember wahrscheinlich noch Delta verantwortlich, aber mittlerweile ist auch Omikron in China angekommen. In mehreren Städten und Metropolen, auch in Hongkong, untersuchen die Behörden weitere Ausbrüche. Ab sofort gilt auch in der Millionenstadt Yuzhou ein strenger Lockdown mit Ausgangssperren und Massentests. Zusätzlich treten wie in der ostchinesischen Stadt Ningbo immer wieder kleinere Delta-Cluster auf.
Logistische Mammutaufgabe
Um diese einzudämmen, müssen die Behörden Infektionsketten so schnell wie möglich identifizieren und alle Kontaktpersonen isolieren - so funktioniert Null Covid. Aber gerade bei Omikron gleicht das dem berühmten Kampf gegen die Windmühlen: Viele Fälle verlaufen asymptomatisch. Oft merken Betroffene gar nicht, dass sie infiziert sind und unwissentlich ihre Mitmenschen anstecken - mit einer Variante, die so schnell von einem Wirt zum anderen springt, dass man beim Nachverfolgen immer einen Schritt zu spät kommt.
Dann bleibt nur noch der Hammer, ein vollständiger Lockdown wie in Xi'an, der überwacht und bei dem die Versorgung der Bevölkerung ohne Einkaufsmöglichkeiten sichergestellt werden muss. Eine logistische Mammutaufgabe, die selbst ein mächtiger und reicher Überwachungsstaat wie China nicht beliebig oft wiederholen kann.
Experten wie de Oliveira erwarten deshalb, dass sich Peking mittelfristig von der Null-Covid-Strategie verabschieden muss. Genauso wie im vergangenen Jahr Australien, Neuseeland und Singapur: Auch diese drei Staaten hatten versucht, Sars-CoV-2 auszurotten. Am Anfang erfolgreich, aber dann mussten sie feststellen, dass das Virus immer wieder aus dem Ausland über die Grenzen schwappt und, dass sie ihre Bevölkerungen nicht ewig einsperren können. Bei blutigen Corona-Protesten hat sich die angestaute Wut der Menschen entladen.
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Auch in China wächst die Frustration. In sozialen Netzwerken berichten "verzweifelte Anwohner" aus Xi'an, dass ihnen das Essen ausgeht. Nach Angaben der Deutschen Welle müssen vor allem viele Arbeitsmigranten und Tagelöhner hungern, weil sie keine Kühlschränke besitzen, in denen sie Lebensmittel aufbewahren könnten, bis Einkaufen wieder erlaubt ist.
Scheitert China am eigenen Erfolg?
Aber China kann nicht anders. In wenigen Wochen, am 4. Februar, beginnen in der Hauptstadt Peking die Olympischen Winterspiele. Eine Prestigeveranstaltung, die sich die kommunistische Führung um Präsident Xi Jinping nicht von einer Corona-Welle zerstören lassen will - auch wenn deshalb viele Tausend Sportler und Funktionäre aus dem Omikron-geplagten Ausland in die Volksrepublik strömen.
Schon vor Monaten hatten Chinaexperten gewarnt, dass China am Erfolg der Null-Covid-Strategie scheitern könnte. "Das Problem ist: Was, wenn die Grenzen aufgehen? Was, wenn andere Varianten eingeschleppt werden?", sagte Nis Grünberg vom Mercator Institut für Chinastudien (Merics) im "Wieder was gelernt"-Podcast von ntv. Die Bevölkerung sei weniger durchseucht als in anderen Ländern, erklärte er. Aus dieser Situation habe man noch keinen Ausweg gefunden.
"Nicht zu stemmende Belastung für Gesundheitssystem"
- Stufe 0: Nicht infiziert
- Stufe 1 (ambulante Behandlung): keine Einschränkung der Tagesaktivitäten
- Stufe 2 (ambulante Behandlung): Einschränkung der Tagesaktivitäten
- Stufe 3 (milder Verlauf): Hospitalisierung ohne Sauerstoffzufuhr
- Stufe 4 (milder Verlauf): Hospitalisierung mit Sauerstoffzufuhr
- Stufe 5 (schwerer Verlauf): Hospitalisierung mit High-Flow-Sauerstofftherapie
- Stufe 6 (schwerer Verlauf): Hospitalisierung mit mechanischer Beatmung per Intubation
- Stufe 7 (schwerer Verlauf): Hospitalisierung mit mechanischer Beatmung und externe Organunterstützung wie Ecmo-Therapie
- Stufe 8: Tod
Forscher der Universität Peking haben untersucht, was passieren würde, wenn China die offenen Modelle anderer Länder übernehmen würde. Nimmt man das britische Regelwerk, drohen demnach jeden Tag gut 275.000 neue Infektionsfälle, von denen knapp 10.000 als schwere Verläufe enden würden. Überträgt man die US-Situation auf China, geraten die Schätzungen noch dramatischer: Die Wissenschaftler warnen vor knapp 640.000 Neuinfizierten und 22.000 schweren Verläufen täglich, die in Krankenhäusern mechanisch beatmet werden müssten.
Das wären fast viermal so viele Patienten, wie in Deutschland in der bisher schlimmsten Phase der Pandemie intensivmedizinisch betreut werden mussten. Ziemlich genau vor einem Jahr, am 3. Januar 2021, lagen 5762 Covid-Patienten auf deutschen Intensivstationen.
Bei einer Öffnung des Landes drohe eine "nicht zu stemmende Belastung für das chinesische Gesundheitssystem", warnen daher die Pekinger Forscher. Und ergänzen, dass es sich bei ihren Schätzungen um vorsichtige handelt, die unter anderem auf der Annahme beruhen, dass die chinesischen Impfstoffe genauso gut wirken wie diejenigen von Astrazeneca, Biontech oder Moderna - und das ist sehr wahrscheinlich nicht der Fall.
Impfstoffe? Wirken kaum
Die Impfquote in China ist hoch. Knapp 85 Prozent der 1,4 Milliarden Einwohner sind immunisiert, bisher aber nur mit den chinesischen Eigenprodukten Coronavac und Sinopharm. Erste Studien legen nahe, dass keiner der beiden Wirkstoffe bei einer Infektion mit der Omikron-Variante vor einem schweren Verlauf schützt - selbst dann nicht, wenn ein Booster verabreicht wurde. Erst nach einer Auffrischungsimpfung mit Biontech baute sich ein spürbarer Schutz auf, wie Forscher aus Hongkong herausgefunden haben.
Aber den deutsch-amerikanischen Booster wird es sehr wahrscheinlich nicht geben, denn trotz des weltweiten Erfolgs hat China das mRNA-Vakzin auch ein Jahr nach dem Start der globalen Impfkampagne immer noch nicht zugelassen. Aus politischen Gründen, wie die "South China Morning Post" mutmaßt. Peking wolle zuerst einen eigenen mRNA-Impfstoff zulassen, bevor ein ausländischer eingesetzt werde, schätzt die Zeitung aus Hongkong. Außerdem wäre der Einsatz von Biontech-Boostern das Eingeständnis, dass die chinesischen Impfstoffe gescheitert sind.
Ähnlich wäre es auch bei einer Abkehr von der Null-Covid-Strategie. Seit dem Anfang der Pandemie lässt die Führung in Peking keine Gelegenheit aus, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren - oft mithilfe der Todeszahlen: In anderen Ländern sterben viele Menschen, die dortigen Regierungen sind inkompetent. In China gibt es - offiziell zumindest - erst 4.600 Corona-Tote. Die Kommunistische Partei habe die Pandemie - anders als Europa oder die USA - im Griff, so ungefähr lautet die Botschaft.
Eine Botschaft, die beweisen soll, dass strenge Lockdowns für ganze Städte, Reiseverbote, staatliche Überwachung und Massentests angemessen sind. Auch, wenn Regeln wie 56 Tage Quarantäne nach der Einreise aus Übersee längst nicht mehr nur extrem, sondern vor allem übertrieben wirken. Werden solche Maßnahmen gegen die Omikron-Variante helfen? Fraglich, aber die Führung in Peking hat keine andere Wahl, als an Null Covid festzuhalten. Alles andere wäre ein Eingeständnis, dass auch China in zwei Jahren Pandemie Fehler gemacht hat.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de