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Delta, Zero-Covid, kaum Geimpfte Australien mutiert zur Gefängnisinsel

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In Sydney sind die Geschäfte schon seit Wochen wieder geschlossen - dabei wird es noch eine Weile bleiben.

(Foto: picture alliance/dpa/AAP)

Australien war ein Musterbeispiel der Zero-Covid-Strategie. Ein virusfreies Paradies, in dem die Menschen ihren Alltag ohne Maske und Todesmeldungen genießen konnten. Doch dann traf die Delta-Variante auf eine langsame Impfkampagne. Jetzt ist das Land eine Geisel seiner eigenen Ziele.

Seit dem 16. Juni ist der Traum vom australischen Corona-Paradies ausgeträumt. An jenem Tag wurde ein Shuttlefahrer, der am Flughafen von Sydney arbeitete, positiv auf die Delta-Variante getestet. Anschließend breitete sich die Mutante im Land aus - und die australische Regierung bekommt sie kaum unter Kontrolle.

Nur zwei Tage nach dem positiven Test des Shuttlefahrers gab es vier weitere Infektionsfälle in Sydney. Deshalb wurde die Maskenpflicht in Bus und Bahn wieder eingeführt, die betroffenen Hotspots wurden abgeriegelt. Mit jedem neuen Fall wurden die Maßnahmen verschärft. Anderthalb Monate später verzeichnet Sydney trotzdem etwa 200 Fälle täglich. Schon jetzt ist klar, dass der Lockdown bis mindestens Ende August dauern wird. Führende Epidemiologen erwarten, dass es noch monatelang so weitergehen könnte. Tausende Menschen verlieren deshalb ihre Jobs. Australien fühlt sich plötzlich wie ein Gefängnis an.

"Die australischen Lockdowns sind knallhart. Die werden um 15 Uhr beschlossen und treten dann um Mitternacht in Kraft. Es wird nicht lange diskutiert, ob richtig oder falsch", sagt Halina Löffler. Sie ist in Polen geboren, als junge Frau nach Hamburg gezogen und vor viereinhalb Jahren der Liebe wegen nach Australien - in die Nähe von Melbourne. Dort hat sie fast das gesamte vergangene Jahr im Lockdown verbracht: Insgesamt acht Monate lang prägten im Bundesstaat Victoria geschlossene Läden, Polizeisperren, Checkpoints und strenge Beschränkungen der Bewegungsfreiheit das Bild.

Ein Toter von Dezember bis Juli

"Es gibt einen Fünf-Kilometer-Radius, in dem man einkaufen, zur Apotheke oder zum Supermarkt fahren kann. Aber nur einzeln, nicht zu zweit", erzählt die Auswanderin im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Natürlich nur mit Maske, die ist obligatorisch. Alle Geschäfte, Restaurants, Cafés, Kinos und so weiter werden einfach dichtgemacht."

Aber die scharfen Maßnahmen haben sich gelohnt. Von Dezember bis April gab es in Australien nicht einen einzigen Corona-Toten. Am 13. April verzeichnete der Bundesstaat Queensland einen, dann wurde landesweit kein einziger bis zum Juli erfasst. Australien schrieb mit seiner Zero-Covid-Strategie eine Erfolgsgeschichte. Das Virus war praktisch ausradiert. Knapp 35.000 Infektionen und 925 Tote stehen anderthalb Jahre nach dem Ausbruch von Sars-CoV-2 zu Buche - so viele waren es in Deutschland teilweise täglich.

Australien war ein virusfreies Paradies, in dem die Menschen Silvester und Weihnachten im australischen Sommer gemeinsam am Strand feiern konnten. Ohne Maske, ohne Abstand, ohne Begrenzung. Mit Musik, Party und Alkohol. Eine schöne Zeit, erinnert sich auch Halina Löffler. "Ich habe auch ein paar Videos für Facebook und Instagram gemacht, in denen ich immer wieder betont habe: Liebe Grüße aus beautiful Australia - of course Coronavirus free."

Zehntausende sitzen im Ausland fest

Wie wunderschön Australien sein kann, hat auch Hollywood schnell entdeckt. Reihenweise hat die Filmindustrie ihre Stars in den vergangenen Monaten nach "Down Under" geschickt, um dort ungestört vom Corona-Stress drehen zu können. Aber die Freiheit in "Aussiewood", wie die Filmstars ihren neuen Dreh- und Angelpunkt angeblich nennen, hat ihren Preis: Etwa 38.000 Australier sitzen im Ausland fest. Teilweise seit dem Ausbruch der Pandemie im März 2020. Für sie gelten anders als für die Hollywoodstars die strengen Einreiseregeln der australischen Regierung.

Die hatte wie viele andere Länder auch die Grenzen abgeriegelt, als die Corona-Krise begann. Dann wurde vorsichtig geöffnet, ganz vorsichtig: Seit September durften zunächst jede Woche maximal 6000 Menschen aus dem Ausland einreisen - wenn sie die absurd hohen Ticketpreise von teilweise mehreren Zehntausend Dollar bezahlen konnten.

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Wer in eine Quarantäne-Einrichtung muss, darf nur am Fenster mit seinen Mitmenschen reden - ...

(Foto: via REUTERS)

"Deshalb gibt es ganz wenige internationale Flüge", erklärt die frühere Hamburgerin die Folgen. "Ich habe eine Freundin, die in einem Duty-Free-Shop am Flughafen von Melbourne gearbeitet hat. Sie und alle ihre Kolleginnen, mit denen sie zusammengearbeitet hat, haben schon letztes Jahr ihren Job verloren. Es gibt keinen Duty-Free-Shop mehr, weil es kein internationales Terminal mehr gibt."

"Sollen bleiben, wo sie sind"

Die strengen Regeln haben eine Vorgeschichte. Die Regierung möchte verhindern, dass Menschen das Virus aus dem Ausland wieder einschleppen. Deshalb muss sich jeder Einreisende nach seiner Ankunft für zwei Wochen isolieren. Anfangs zu Hause, das war die erste Quarantäne-Regelung der Corona-Krise.

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... es sei denn, man flüchtet.

(Foto: via REUTERS)

Aber diese Regel hätten viele Menschen nach ihrer Rückkehr ins Land gebrochen, erzählt die Auswanderin. Sie hätten das Ende der ersten Welle im April und Mai 2020 genutzt, um wie alle anderen Australier shoppen, essen oder etwas trinken zu gehen - und damit im Juni die zweite Welle verursacht. Die konnte erst vier Monate später im Oktober unterdrückt werden. Und jetzt, ein Jahr später, sind es anscheinend schon wieder Rückkehrer gewesen, die das Virus und neue Lockdowns aus dem Ausland mitgebracht haben.

"Das führt natürlich zu einer Wahnsinnsfrustration", sagt Halina Löffler. "Ich habe schon von Bekannten gehört: 'Die sollen bloß alle bleiben, wo sind sie sind und nicht mehr zurückkommen, weil die uns diese Delta-Variante bringen.' Die wollen keinen neuen Lockdown haben."

Impfen? Platz 36 von 38

Deshalb sind die Einreiseregeln noch einmal verschärft worden. Seit dem Ausbruch der Delta-Variante lässt Australien nur noch 3000 statt 6000 Menschen pro Woche ins Land. Die wenigen Glücklichen, die rein dürfen, werden von der Polizei direkt in spezielle Quarantäne-Einrichtungen eskortiert, die nach dem ersten Quarantäne-Desaster eingeführt wurden. Die ersten beiden Wochen verbringt nun niemand mehr alleine zu Hause, sondern unter strenger Aufsicht zum Beispiel in einer Kaserne - in einer Art Gefängnis, wie manche sagen.

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Lange Impfschlangen sind in Australien noch die Regel.

(Foto: picture alliance/dpa/AAP)

An diesen Regeln wird sich vermutlich bis zum Jahresende nichts mehr ändern. Das hat der australische Premierminister Scott Morrison vergangene Woche mitgeteilt. Da hat er seinen Fahrplan für den Weg aus der Pandemie vorgestellt. Aktuell befindet sich Australien in der ersten Phase A. Es geht darum, den Ausbruch der Delta-Variante unter Kontrolle zu bekommen und möglichst viele Menschen zu impfen. Die ersten Lockerungen sind in der zweiten Phase B geplant. Die beginnt allerdings erst, wenn 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Das wird noch eine Weile dauern: In Australien haben erst 16 Prozent der Bevölkerung zwei Dosen erhalten. Das ist Platz 36 von 38 OECD-Staaten.

"Warum soll ich mich impfen lassen?"

"Wieder was gelernt"-Podcast

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Der frühe Erfolg hat Australien nachlässig gemacht. Die Impfkampagne ist erst im Februar gestartet - beim heimischen Hersteller von Astrazeneca mit Produktionsschwierigkeiten. Dann haben fehlerhafte Datenbanken dazu geführt, dass das Impfangebot viele Australier nicht erreicht hat. Andere haben es nach Berichten aus Europa über gefährliche Nebenwirkungen ausgeschlagen - so wie Halina Löffler. Ihre Sorgen waren zu groß.

"Zumal ich auch gedacht habe: Warum soll ich mich impfen lassen?", erzählt sie heute. "Wir haben hier keine Corona-Fälle. Ich habe auch nicht vor, in der nächsten Zeit ins Ausland zu reisen. Deshalb war das für mich kein Thema."

Jetzt soll der Impfstoff von Biontech und Pfizer das Jahresende retten. 40 Millionen Dosen erhält Australien dieses Jahr, aber noch ist der Vorrat stark begrenzt. Man steht in der Warteschlange wegen des relativ späten Interesses weit hinten. Das wäre am Jahresanfang kein Problem gewesen, aber nun kämpft man weitgehend ungeimpft gegen die Delta-Variante.

Einreise? Für Australier unter Strafe gestellt

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Die Polizei kontrolliert streng, ob der Lockdown in Sydney eingehalten wird.

(Foto: picture alliance/dpa/AAP)

In Großstädten wie Melbourne und Adelaide hat man das trotzdem geschafft, dort sind die Fallzahlen gesunken und die Lockdowns erst einmal vorbei. Aber in Brisbane müssen die Menschen nachsitzen - wie in Sydney: In der größten australischen Stadt geht der Lockdown nun schon in seine sechste Woche. Dort kontrolliert neuerdings die Armee, ob die positiv getesteten Anwohner sich auch wirklich zu Hause isolieren.

Dabei hatte die Regierung knallhart eingegriffen, um zu verhindern, dass die Delta-Variante ins Land gelangt. Schon im April wurden alle Flüge aus der indischen Heimat der Mutation gestrichen. Schon zum zweiten Mal ließ die Regierung ihre Bürger, die sich im Ausland aufhielten, im Stich. Erstmals in der Geschichte des Landes wurde die Einreise für australische Staatsbürger sogar unter Strafe gestellt: Die Regierung drohte ihnen fünf Jahre Gefängnis oder umgerechnet 40.000 Euro Strafe an, wenn sie versuchen, über ein Drittland in ihre Heimat zurückzukehren. Erst seit Mitte Mai werden wieder einige wenige Flüge durchgeführt.

Lockdown-Angst übersteigt Virus-Angst

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Aber die Australier unterstützen die strengen Regeln mehrheitlich noch. Jedenfalls die, die zu Hause sind. Sie wollen ihr Corona-freies Paradies zurück. Ein Plan, der zunehmend an den Nerven zerrt.

"Für mich persönlich ist die Angst vor der unsicheren Zukunft durch die ganzen Lockdowns größer als die Angst, an Covid zu erkranken", sagt Halina Löffler. "Ich habe letztes Jahr meinen Job verloren und es ist wahnsinnig schwer, einen neuen zu finden, weil niemand neue Mitarbeiter einstellt."

Die Zero-Covid-Strategie war der Goldstandard. Im ersten Teil der Pandemie. Jetzt hat der Wunsch nach null Corona-Fällen Australien als Geisel genommen und in eine Art Gefängnisinsel verwandelt: Niemand kommt rein, niemand raus. Und wer drin ist, sitzt eingesperrt zu Hause in der Hoffnung, dass das Virus bald wieder weg ist.

Quelle: ntv.de

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