Historiker Philipp Ther "Das ist die russische Frage, mit der wir konfrontiert sind"
13.05.2023, 11:25 Uhr Artikel anhören
Putin am 9. Mai bei den Feierlichkeiten zum "Tag des Sieges" in Moskau.
(Foto: IMAGO/SNA)
Der Historiker Philipp Ther sieht in der Rolle Russlands in Europa Parallelen zur "deutschen Frage" des 19. und 20. Jahrhunderts. "Deutschland war zu groß und zu mächtig, um in das europäische Staatensystem integriert zu werden", sagt er im Interview mit ntv.de. "Aber Deutschland war auch nicht stark genug, um Europa zu dominieren. Bei Russland ist man mit einem ähnlichen Problem konfrontiert."
ntv.de: Putin hat dem Westen bei der Militärparade in Moskau am Dienstag vorgeworfen, einen "echten Krieg" gegen Russland angefangen zu haben. Wie sind solche Reden einzuschätzen, wie viel Realitätsbezug hat ein Präsident, der so spricht?
Philipp Ther: Um den Realitätsbezug geht es bei solchen Auftritten nur bedingt. Es geht um die Fernsehbilder, die große Parade, die Demonstration militärischer Macht, verbunden mit Drohungen und Siegesankündigungen - um die Bevölkerung bei der Stange zu halten und weitere Soldaten zu mobilisieren. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Putin den "Tag des Sieges" der Sowjetunion über Nazi-Deutschland nutzt, um den jetzigen Krieg in die Tradition des Großen Vaterländischen Krieges zu stellen. Das ist natürlich ein Stück weit widersprüchlich, weil der Krieg gegen die Ukraine nicht einmal Krieg genannt werden darf, sondern nur "militärische Spezialoperation". Aber über die Fernsehbilder ist diese Siegespropaganda vermutlich recht erfolgreich.

Philipp Ther lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er ist zudem Leiter des dortigen Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen.
(Foto: RECET.at)
Zugleich ist offensichtlich, dass der Krieg für Russland nicht gut läuft. Ist das ein Problem für Putin?
Putin führt Krieg, seit er an die Macht gekommen ist. Erst in Tschetschenien, dann 2008 in Georgien, wo er bis heute Gebiete besetzt hält, seit 2014 in der Ukraine, später kam noch Syrien dazu. Insofern hat es eigentlich auch keine "Zeitenwende" gegeben. Aber der Krieg läuft für Russland tatsächlich schlecht: Die Winteroffensive brachte keine messbaren Erfolge. Andererseits liegt die Strategie vielleicht eher darin, sich einzugraben und auf einen Stellungskrieg einzurichten, um zu behalten, was bislang erobert wurde. So hat Russland es schon 2014 im östlichen Donbass gemacht.
Wie ist es mit den Konflikten innerhalb Russlands, der ständigen Kritik von Wagner-Chef Prigoschin an der Armee?
Mit solchen Konflikten kann Putin sich als der inszenieren, der Untergebene maßregelt, die nicht erfolgreich sind. Er selbst wirkt dann wie eine höhere Instanz, die über den Dingen steht. Insgesamt sieht es für mich trotz der Auseinandersetzungen zwischen Prigoschins Privatarmee und der offiziellen Armee so aus, dass die russische Heimatfront stabil ist. In der russischen Bevölkerung gibt es weiterhin eine Mehrheit für diesen Krieg - leider. Es ist eben nicht nur Putins Krieg, sondern der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
In Ihrem Buch "Das andere Ende der Geschichte" von 2019, das gerade unter dem Titel "How the West Lost the Peace" auf Englisch erschienen ist, argumentieren Sie, der Neoliberalismus nach dem Ende des Kalten Kriegs habe die rechtspopulistische Wende ausgelöst, die wir seit einiger Zeit weltweit erleben. Wie passt der Ukrainekrieg in diese Analyse?
Ich habe das Buch für die englischsprachige Ausgabe erweitert, unter anderem gibt es darin jetzt ein Kapitel über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, in dem ich übrigens dafür plädiere, diesen Krieg nicht "Ukrainekrieg" oder gar "Ukrainekonflikt" zu nennen. Das klingt, als sei dieser Krieg ein inneres Problem der Ukraine. Das ist es nicht, im Gegenteil. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Dieser Krieg ist auf unterschiedliche Weise mit dem Ende der neoliberalen Transformation verbunden.
Das müssen Sie erklären.
Putin hat sich nicht erst 2014 oder 2022, sondern schon 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz und dann 2008 durch den Einmarsch in Georgien klar vom Westen abgewandt. Das eine war eine rhetorische, das andere eine bewaffnete Kriegserklärung an den Westen, die 2014 auf der Krim und im Donbass noch einmal wiederholt wurde. Diese Abkehr Russlands vom Westen ist ein längerer Prozess, der letztlich mit dem Scheitern der Wirtschaftsreformen in den 1990er-Jahren zusammenhängt.
Warum sind diese Reformen gescheitert?
Das hatte überwiegend innenpolitische Gründe und die Ursachen liegen vor allem in Russland selbst. Aber man muss aus westlicher Sicht auch kritisch zurückblicken: Welche Art von Rat hat der Westen Russland gegeben, welche Art von Unterstützung? Sie empfahlen eine schnelle Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaft - Reformen, die ein paar Dutzend Oligarchen sehr reich machten, das Land insgesamt aber ins Elend stürzten. Russland ist damals in einer Depression versunken, die man mit der Weltwirtschaftskrise in Deutschland nach 1929 vergleichen kann.
Welche Rolle spielten die NATO-Erweiterungen, die von Putin immer wieder als Kriegsgrund genannt wurden?
Ich sehe nicht, dass mit den NATO-Erweiterungen Versprechen gegenüber Russland gebrochen wurden oder Russland unnötig provoziert wurde. Die These der Provokation kann man nur aufrechterhalten, wenn man souveränen Staaten das Recht der freien Bündniswahl abspricht. Aus meiner Sicht gab es da eher ein unglückliches Zusammenfallen von Prozessen und Ereignissen. Beispielsweise fiel die NATO-Erweiterung von 1999 mit dem völkerrechtlich nicht gedeckten Angriff der NATO auf Restjugoslawien zusammen. Die nächste NATO-Erweiterung fand dann ein Jahr nach Beginn der US-Invasion in den Irak statt.
Sie schreiben: "Das Problem war die westliche Doppelmoral, die in der russischen Propaganda häufig anzutreffen ist, deren Existenz aber nicht geleugnet werden kann."
Diese Doppelmoral relativiert allerdings in keiner Weise die Ursache und die Verurteilung des russischen Angriffskrieges. Ich rege nur an, zu fragen: Was ist auf westlicher Seite nicht gut gelaufen?
In diesem Zusammenhang wird häufig darauf verwiesen, dass die NATO die Ukraine nicht aufnehmen wollte.
Ja, 2008, auf dem Gipfel in Bukarest. Die Absage an eine Aufnahme von Georgien und der Ukraine damals ging maßgeblich auf Angela Merkel zurück. Sie selbst verteidigt das damit, dass die Lage sonst eskaliert wäre. Aber das sind Debatten im Konjunktiv: 'Wenn die NATO die Ukraine aufgenommen hätte, dann hätte Putin gleich einen Krieg angefangen.' Vielleicht, vielleicht auch nicht. Klar ist: Was in Bukarest beschlossen wurde, hat ein Machtvakuum erzeugt. Die NATO hat die Ukraine auf Distanz und gleichzeitig die Tür offen gehalten. Noch schlimmer wurde es nach 2014: Der Westen verhängte zwar Sanktionen, fand sich aber erkennbar damit ab, dass Russland die Krim annektiert hatte. Es gab natürlich Proteste gegen die russische Intervention im Donbass und gegen den Abschuss eines Passagierflugzeugs. Aber viel passiert ist nicht. Meine These ist, dass dies Putin dazu verleitet hat, die Ukraine 2022 noch massiver anzugreifen. Er dachte, er kommt wieder davon.
Was bedeutet das alles für die Zeit nach Putin und nach dem russischen Krieg gegen die Ukraine? Soll der Westen den Abbau der Sanktionen an Bedingungen knüpfen, etwa an die, dass Russland geradesteht für Kriegsverbrechen und materielle Schäden? Oder sollte die Zusammenarbeit Vorrang haben, damit Russland nicht noch weiter in den Nationalismus abgleitet?
Zunächst einmal darf Russland keinesfalls diesen Krieg gewinnen, auch nicht durch eine Zermürbungsstrategie. Das weitere Szenario hängt stark vom Ausgang dieses Krieges ab. In den 1990er-Jahren hat der Westen Russland durchaus die Hand gereicht, etwa mit der NATO-Russland-Grundakte, die Russland einen Sonderstatus gab. Aber es hat offensichtlich nicht funktioniert, Russland in die europäische Ordnung zu integrieren, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist. Insofern müsste man nach dem Ende dieses Krieges einiges anders machen. Allerdings müsste die Ukraine in Friedensverhandlungen ein entscheidendes Wort haben. Dann wird es, wie nach früheren Kriegen auch, sicherlich auch um Reparationsleistungen gehen. Aber im Moment steht der Krieg mit all seiner Brutalität so sehr im Vordergrund, dass es schwierig ist, schon so weit zu denken.
Wie sehen Sie eine mögliche europäische Friedensordnung mit einer weiteren historischen Perspektive?
Ich sehe in der Rolle Russlands in Europa Parallelen zu dem, was man im 19. und 20. Jahrhundert die "deutsche Frage" nannte: Deutschland war zu groß und zu mächtig, um in das europäische Staatensystem integriert zu werden. Aber Deutschland war auch nicht stark genug, um Europa zu dominieren. Bei Russland ist man mit einem ähnlichen Problem konfrontiert: Russland war zu groß, um in die bestehenden europäischen Strukturen oder in ein militärisches Bündnis wie die NATO integriert zu werden. Aber es ist zu klein und auch zu destruktiv, um für sich zu existieren und kann nicht einmal für den Wohlstand seiner Bürger sorgen. Das ist die russische Frage, mit der wir heute konfrontiert sind. Dass Russland eine Atommacht ist, macht es noch schwerer, dieses Problem zu lösen.
Sie haben in den Nullerjahren eine Zeitlang in der Ukraine gelebt. Was ist der Unterschied zwischen der Ukraine und Russland?
Ich hatte in dieser Zeit auch Kooperationen mit Russland, sowohl forschungsbezogen als auch in der Lehre. Dabei hatten wir Seminare mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Ukraine, aus Russland, Belarus, Polen und Deutschland. Da konnte man große Unterschiede erkennen, was überraschend war, denn beide, die russischen und die ukrainischen Studierenden, kamen ja aus postsowjetischen Gesellschaften. Die russischen Studierenden lebten noch im Modus einer autoritären Gesellschaft und wollten immer, dass man ihnen sagt, was sie machen sollen. Die Ukrainer aber, vor allem die aus der Westukraine und aus Kiew, waren dagegen schon selbstständig. Die wollten selber forschen und auch publizieren.
Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
Die Ukraine war ein Land, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion die Freiheit gewonnen hat. Russland hat damals zwar auch Freiheit gewonnen, aber das wurde durch den Verlust des Imperiums überdeckt. Dieses Großmachtdenken hat nie aufgehört und im Inneren blieb ein ebenso militarisierter Polizeistaat intakt, der mit dem Knüppel und permanenter Erniedrigung regiert. Mit dem ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Wladimirowitsch Putin kamen die "Silovniki", also die Angehörigen des Sicherheitsapparats offiziell wieder an die Macht.
Was, glauben Sie, macht die Ukraine, wenn der Westen seine Unterstützung einstellen oder drastisch zurückfahren würde?
Ich bin Historiker und kein Prognostiker. Sicher ist, dass schon der erste Krieg ab 2014 die Ukraine als Nation zusammengeschweißt hat, in der es nicht so sehr auf die Sprache oder Herkunft ankommt, sondern auf das Bekenntnis zur Ukraine und damit zur Demokratie. Die 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge, die damals aus den faktisch russisch besetzten Gebieten im östlichen Donbass ankamen, waren überwiegend russischsprachig. Das sind die, die Putin als "russische Welt" für sich in Anspruch nimmt. Die wollten mit diesem Russland nichts mehr zu tun haben. Das sind auch die, die am allermeisten unter dem jetzigen Krieg leiden: Letztlich sind es vor allem russischsprachige Gebiete, also die von ihm postulierte "russische Welt", die Putin in Grund und Boden bombardieren lässt.
Wie lange kann Russland diesen Krieg durchhalten?
Das ist schwer zu sagen. Aber der vergleichende Blick auf das ehemalige Jugoslawien in den 1990er-Jahren stimmt mich pessimistisch. Der serbische Präsident Slobodan Milošević war der Hauptverantwortliche für die dortigen Kriege, die ab 1995 militärisch verloren gingen. Wirtschaftlich ging es in Serbien steil bergab. Trotzdem konnte sich Milošević noch bis zum Jahr 2000 an der Macht halten. So gesehen könnte Putin noch lange durchhalten. Der Lebensstandard in Russland sinkt zwar. Aber das war auch in Jugoslawien so - das allein hat nicht gereicht, um Milošević von der Macht zu verdrängen.
Und der Westen? Wie lange hält der die Unterstützung der Ukraine durch?
Putin setzt darauf, dass er länger durchhalten kann, als die Unterstützung des Westens für die Ukraine reicht. Autoritäre Systeme und Diktaturen wie Russland sind hier ein Stück weit im Vorteil: Im Westen wird immer wieder gewählt, da können Regierungen wechseln. Wir stehen aktuell vor der Frage, wie es in den USA nach den Präsidentschaftswahlen weitergeht. Aber auch innerhalb der Europäischen Union gibt es viele Heimatfronten, und deshalb kann Putin immer darauf hoffen, dass entweder größere Länder rausbrechen oder mehrere kleinere, etwa Ungarn. Ich sehe leider die Gefahr, dass nach der Wahl im September die Slowakei die Sanktionsfront verlassen könnte oder ein Jahr später Österreich, wenn hier die FPÖ gewinnt. Genau damit kalkuliert Putin, dass diese Unterstützung immer weiter nachlässt, die Ukraine irgendwann ausblutet. Und dass es dann eben doch einen Waffenstillstand und einen schlechten Kompromiss gibt, wie nach 2014 mit dem Minsker Abkommen.
Wie relevant wäre es, wenn ein kleines Land wie Österreich ausscheiden würde?
Das ist schon relevant. Ungarn lässt nicht zu, dass über sein Territorium Waffen in die Ukraine transportiert werden. Wenn die Slowakei auch noch ausfallen würde, fiele eine weitere Transportroute weg. Insofern spielen auch kleine Länder eine wichtige Rolle. Österreich liefert unter Berufung auf die Neutralität zwar keine Waffen, was ich kritisch sehe, weil man meines Erachtens in diesem Krieg nicht neutral sein kann. Aber es gibt noch die Sanktionen der EU, denen immer alle Mitgliedsländer zustimmen müssen. Ungarn hat das bisher immer noch getan, weil es allein stand. Wenn ein weiteres kleines Land ausschert, könnte sich das ändern.
Müssen wir uns über die europäische Solidarität überhaupt Gedanken machen, wenn Trump oder ein anderer Republikaner die Präsidentschaftswahl in den USA gewinnt? Denn alleine kann Europa die Ukraine nicht ausreichend unterstützen.
Auf die Dauer ist diese starke Abhängigkeit der Europäer von den USA natürlich ein Problem. Und in der Tat, wenn jetzt beispielsweise Trump gewinnen würde - was ich nicht für wahrscheinlich halte -, dann würde dies zu einem Kurswechsel in der Außenpolitik der USA, auch gegenüber der Ukraine führen.
Mit Philipp Ther sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de