Russland-Experte zu Paraden "Der Kreml fürchtet, die Kontrolle über die Bilder zu verlieren"
09.05.2023, 17:58 Uhr
Nur in Moskau wurden an diesem 9. Mai Militärparaden abgehalten. In fast 20 anderen russischen Städten wurden sie abgesagt.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Eine abgespeckte Parade in Moskau, und in anderen russischen Städten nicht mal das: Der Kreml hält das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg auffällig klein heute - aus Angst vor Kontrollverlust, sagt Russland-Experte und Konfliktforscher Andreas Heinemann-Grüder ntv.de.
ntv.de: Auf konkrete Worte zur Lage an der Front haben die Russen heute vergeblich gewartet.
Andreas Heinemann-Grüder: Putin bemüht sich seit einiger Zeit, die Agenda zu verschieben - weg von der Ukraine, hin zum fundamentalen Konflikt mit dem Westen. Darin sind die Ukrainer dann nur noch Marionetten der USA. Letztlich ist das eine Rückkehr zum alten sowjetischen Narrativ: Wir führen hier einen Systemkonflikt, einen Kampf der Kulturen. Und der hat globale Ausmaße. Damit versucht er auch, öffentliche Zustimmung für einen viel längeren Zeitraum zu mobilisieren. Nicht zu sagen, der Sieg steht kurz bevor, sondern "Wir müssen uns auf etwas Langes einrichten".
Spielte der Drohnenanschlag auf den Kreml heute eine Rolle?
Der könnte eine Art Matthias Rust-Effekt haben.
Der Hobbypilot flog Ende der 80er Jahre mit einer Cessna quer über Russland bis nach Moskau, drehte einige Runden über dem Kreml und landete nahe dem Roten Platz.
Er führte damit die Verletzbarkeit der sowjetischen Luftabwehr vor. Dass Rust dort landen konnte, ohne dass ihn das Militär zuvor abgefangen hatte, trug damals dazu bei, dass Michail Gorbatschow erheblich an Glaubwürdigkeit verlor. Ein ähnlicher Effekt könnte dem Kreml durch die Drohnenangriffe jetzt auch drohen.

Andreas Heinemann-Grüder ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies.
(Foto: BICC)
Und falls die Attacke tatsächlich selbst inszeniert war? Experten wie das Institute for the Study of War halten das derzeit für die wahrscheinlichste Erklärung.
Wenn der Kreml einen Angriff auf Moskau selbst inszeniert, wäre das Ausdruck dessen, wie verzweifelt man dort mittlerweile ist. Interessanter als das, was in Moskau heute stattfand, ist aber, dass die Paraden in fast 20 anderen Großstädten aus Sicherheitsgründen abgesagt wurden. Die Führung hat also die Bilder fürs Fernsehen, aber es fehlt diese Art von Siegesfeiern in den Regionen. Die Menschen dort nehmen das wahr und auch, dass man den Krieg offensichtlich nicht mehr verschweigen kann. Die Sicherheitssituation wird als so kritisch eingeschätzt, dass man sich nicht einmal mehr traut, eine Militärparade in der Tiefe Russlands abzuhalten.
Dann hatte Ihrer Einschätzung nach der Kreml echte Sicherheitsbedenken und hat deshalb die Paraden in anderen Städten abgesagt?
Aus diesem Grund, aber auch, weil der Kreml keine Kontrolle über die dort entstehenden Bilder gehabt hätte. Möglicherweise wären Kriegsveteranen sichtbar geworden oder Mütter, die Fotos ihrer gefallenen Söhne hochgehalten hätten. In der Vergangenheit gab es das Ritual, dass das Bild vom Großvater hochgehalten wurde, um an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Wenn heute Ehefrauen die Bilder ihrer gefallenen Ehemänner hochhalten würden oder plötzlich Kriegsveteranen und Versehrte am Straßenrand erscheinen, wären das nicht die Bilder, die man haben will.
In Moskau lässt sich diese Gefahr ausschalten, nehme ich an?
Alle, die dort applaudieren oder am Rand stehen, sind überprüft worden. Aber bei Millionen Menschen in anderen Städten hätte man vielleicht die Kontrolle über die Bilder verloren.
Haben die Russen auf diesen Tag und auf Putins Rede anders geblickt als in anderen Jahren? Oder ist das Ritual dafür zu routiniert?
Im vergangenen Jahr gab es bestimmt noch jene, die der Gleichsetzung des Zweiten Weltkriegs mit dem Krieg gegen die Ukraine geglaubt haben. Inzwischen ist die öffentliche Stimmung, die Kriegsbegeisterung und auch die Mobilisierbarkeit für diesen Krieg erheblich zurückgegangen. Der Krieg ist nicht mehr populär, und viele haben den Glauben an den Sieg verloren, selbst harte Unterstützer des Putin-Kurses. Die Wiederbelebung von Siegesgewissheit und der Überzeugung, "Wir können Kiew so einnehmen, wie wir mal Berlin eingenommen haben", die ist nicht mehr möglich.
Wo zeigt sich, dass Russland diese Siegesgewissheit verloren hat?
Das lässt sich festmachen an Reaktionen in russischen Telegram-Kanälen und anderen sozialen Netzwerken, das spürt man, wenn man persönlich Putin-Anhänger kennt, und man merkt es auch hierzulande bei den deutsch-russischen Menschen, die seinen Kriegskurs unterstützen. Die waren vor einem Jahr noch in einer ganz anderen Stimmungslage als heute. Damals gab es große Autokorsos in vielen deutschen Städten, pro-russische Biker-Umzüge, die rechtsradikalen Nachtwölfe kamen - all das ist rückläufig.
Wenn die Bevölkerung den Kriegsverlauf immer kritischer einschätzt, muss das Staatsfernsehen darauf reagieren?
Es gibt hin und wieder dort Stimmen, die sagen "Wir gewinnen nicht". Ein zweiter Faktor sind natürlich die Militärblogger, die erheblich Druck machen, die der Armee Verrat vorwerfen und fordern, man müsse eine ganz andere Kriegsführung praktizieren. Die Misserfolge, auch in Bachmut, werden den Offizieren und Generälen zugeschrieben. Der Unmut über die ausbleibenden Erfolge der Kriegsführung ist besonders bei diesen Nationalisten sehr verbreitet.
Lebt es sich als nörgelnder Militärblogger in Russland nicht enorm gefährlich?
Wenn der Moskauer Machtapparat diese Stimmen unterdrücken wollte, dann könnte er das problemlos tun. Dass er sie nicht zum Schweigen bringt, ist erstaunlich. Ich denke, die Militärblogger oder auch Kritiker wie der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, die Oberbefehlshaber Gerassimow öffentlich angreifen, können das nur, weil Putin weiß, dass er diese Art der Unzufriedenheit nicht einfach unterdrücken kann. Denn sie ist auch in der Bevölkerung da.
Das würde bedeuten, auch die scharfen Kritiker erfüllen letztlich eine Funktion für den Kreml? Das klingt nach einer riskanten Strategie.
Es wird durch diese Stimmen natürlich starker Druck aufgebaut, eine Art der Kriegsführung nach Muster des Zweiten Weltkriegs einzusetzen: ohne Rücksicht auf Verluste, alles für die Front. Davor hat Putin Angst. Denn dann würde sein ganzes Lügengebäude dieser sogenannten "Spezialoperation", also einer begrenzten militärischen Angelegenheit, zusammenbrechen. Er kann also nicht darauf eingehen, aber dieser Stimmung, die es auch in der Bevölkerung gibt, muss er zumindest etwas nachgeben. Die Blogger sind ein Ventil dafür, und das muss er offen halten.
Mit Andreas Heinemann-Grüder sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de