Europas Sicherheit in Gefahr Das steht für Deutschland auf dem Spiel
16.02.2025, 12:49 Uhr Artikel anhören
Die 41. Mechanisierte Infanterie-Brigade der Bundeswehr im Herbst 2022 bei einer Übung in Litauen
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die jüngsten US-Ankündigungen stellen Europas Verteidigungsstrategie auf die Probe. Ein Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland hätte sicherheitspolitische und wirtschaftliche Folgen – im Falle eines Diktatfriedens umso gravierender. Was bedeutet das für Deutschland?
Die verbalen Angriffe von Donald Trump auf westliche Partner waren erste Warnsignale. Mit dem Anruf des US-Präsidenten bei Russlands Machthaber Wladimir Putin wird deutlich: Trump könnte versuchen, den Ukraine-Krieg ohne europäische Partner und über die Köpfe der Ukrainer hinweg schnell zu beenden.
Während die USA auf der Münchner Sicherheitskonferenz ihre transatlantischen Verbündeten unter Druck setzen, steht Europa vor einer entscheidenden sicherheitspolitischen Frage: Wie kann es seine eigene Verteidigung und die der Ukraine künftig selbst gewährleisten? Und was bedeutet das konkret für Deutschland?
Gressel warnt vor Großkrieg in Europa
Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel sieht gravierende Folgen, sollte Kiew zu einem Diktatfrieden gezwungen werden. "Wenn die Ukraine fällt, werden wir in den nächsten Jahren, wenn nicht Monaten, einen Großkrieg in Europa haben." Die Glaubwürdigkeit der westlichen Abschreckung stehe auf dem Spiel, Europas langfristige Stabilität sei gefährdet.
Laut einer Analyse des Kiel Instituts für Weltwirtschaft hätte eine Niederlage der Ukraine für Deutschland auch ohne einen Großkrieg in Europa erhebliche wirtschaftliche Folgen. Die Kosten für eine erfolgreiche Abschreckung könnten zehn- bis zwanzigmal höher sein als die derzeitige militärische Unterstützung der Ukraine. Statt 0,1 Prozent des BIP müssten dann ein bis zwei Prozent für eine erfolgreiche Abschreckung Russlands in die Hand genommen werden.
Gressel betont die prekäre sicherheitspolitische Lage Europas und Deutschlands angesichts der russischen Bedrohung: "Die Ukraine verhindert zurzeit, dass Europa unter die russischen Panzerketten kommt." Europa sei nicht ausreichend gerüstet, um einer zahlenmäßig überlegenen russischen Armee zu begegnen. "Die russische Armee ist quantitativ ein ziemlich schwerer Brocken. Und wir haben dahingehend nicht die Kräfte, den Russen effektiv zu begegnen."
Zudem verfolge Russland die Strategie eines langfristigen Abnutzungskriegs, auf den Europa weder personell noch materiell vorbereitet sei. Die Bundeswehr ist laut Gressel derzeit mit 180.000 Soldaten unterbesetzt, eigentlich sollten es 203.000 sein. Auch das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen habe lediglich materielle Versäumnisse aus den NATO-Gipfeln von 2014 und 2016 nachgeholt, doch die personelle Ausstattung der Bundeswehr bleibe ein gravierendes Problem. "Es gibt nicht genügend Freiwillige, die in der Bundeswehr dienen, um diese drei Divisionen zu betreiben."
Russland könnte Waffenstillstand für Aufrüstung nutzen
Ein Waffenstillstand könnte China dazu veranlassen, seine Rüstungsexport-Beschränkungen zu lockern. Gressel sieht darin eine Chance für Russland, dringend benötigte Schützenpanzer und gepanzerte Fahrzeuge zu beschaffen. "Das könnte man über einen Waffenstillstand noch gut erreichen", sagt er. Nach einer Phase der Aufrüstung und Aufmunitionierung könnte Russland den Krieg "in einigen Monaten bis maximal 2026" erneut beginnen.
Auch die veränderte Sicherheitsstrategie der USA verschärft die Lage. Gressel warnt: "Die europäische Sicherheit ist für die Amerikaner keine Priorität mehr. Das ist neu und natürlich sehr unkomfortabel." Deutschland stehe noch stärker in der Pflicht, doch strukturelle Trägheit verhindere schnelle Reaktionen. "Es ist schon fünf nach zwölf." Notwendige Maßnahmen wie Kasernenbau und rechtliche Anpassungen bräuchten Zeit - Zeit, die Europa womöglich nicht hat.
Russland könnte diese Schwäche ausnutzen. Sollte es einen schnellen Frieden erzwingen, wäre das eine Einladung, den Krieg weiter auf Europa auszudehnen. "Aus russischer Sicht ist die Kalkulation, dass man den Krieg so früh wie möglich beginnt, um ein Nachrüsten der Europäer zu unterlaufen, natürlich sehr naheliegend."
Aber auch ohne eine direkte russische Bedrohung wären die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland massiv. Eine Studie des Wirtschaftsexperten Johannes Binder vom Kiel Institut (IW) zeigt, dass eine Niederlage der Ukraine nicht nur Investitionen und Handelsbeziehungen gefährden würde, sondern auch einen starken Anstieg von Flüchtlingskosten mit sich bringen könnte - zwischen 0,5 und 1,1 Prozent des BIP pro Jahr.
Ohne den Partner USA wird es deutlich teurer für die EU
Eine russische Militärmacht, die im Ukraine-Konflikt siegt, würde zudem die Sicherheitsarchitektur Europas fundamental verändern. "Wenn Russland erfolgreich ist auf dem Schlachtfeld und eine kampferprobte russische Armee im Siegesrausch näher an die Nato heranrückt, dann würde das die Sicherheitsarchitektur in Deutschland und Europa fundamental beeinflussen." Die Nato und Deutschland müssten dann jährlich 0,5 bis ein Prozent des BIP zusätzlich für Verteidigung ausgeben.
Binder erklärt aber im Interview auch: Da Washington seine Prioritäten nun nicht mehr in Europa sieht, dürfte es für Europa und Deutschland noch um einiges teurer werden: "Es ist klar, dass Deutschland und Europa einfach viel mehr in die eigene Sicherheit und die Sicherheit der Ukraine investieren müssen, als es der Fall wäre, wenn die Amerikaner die Politik von Joe Biden fortgesetzt hätten."
Ein russischer Sieg könnte zudem weltweite Auswirkungen haben. Binder warnt, dass ein solcher Ausgang die Wahrscheinlichkeit eines China-Taiwan-Konflikts erhöhen würde. Autokratische Regime könnten ermutigt werden, eher auf militärische Lösungen zu setzen. Die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland wären gravierend: Ein eskalierender China-Taiwan-Konflikt könnte "Wohlfahrtsverluste im Bereich von fünf Prozent des BIP" verursachen - vergleichbar mit der Finanzkrise 2008/09.
Deutschland muss Schlüsselakteur werden
Angesichts dieser Bedrohungen fordern die Experten konkrete Maßnahmen zur Sicherung der europäischen Sicherheit. "Natürlich ist es möglich, wieder vor die Kurve zu kommen, aber man müsste jetzt wirklich handeln", so Gressel. Deutschland spiele dabei eine zentrale Rolle. "Kein anderer Staat in Europa hat solch eine industrielle und maschinenbautechnische Basis wie Deutschland. Ohne Deutschland geht es nicht." Daher sei es essenziell, dass militärische Produktion und Ausrüstung massiv ausgebaut würden. Eine nukleare Abschreckung ohne die USA hält Gressel für unausweichlich: "Man muss konventionell in der Lage sein, den Russen etwas entgegenzustellen, aber man muss auch über eine zumindest minimale Fähigkeit der nuklearen Abschreckung verfügen. Unabhängig von Amerika."
Deutschland und die EU müssten schon jetzt ihre militärischen Ausgaben deutlich erhöhen. Binder erklärt dazu: "Wenn wir uns die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Russland und der EU anschauen, sind wir neun Mal stärker als Russland." So sei die EU etwa auch hinsichtlich der Stahlproduktion mindestens zwei Mal so stark wie Russland. "Das heißt, die wirtschaftlichen Grundlagen wären gegeben, deutlich mehr in die eigene Sicherheit zu investieren, als wir es aktuell tun." Doch ohne politischen Willen sind aus Binders Sicht höhere Militärausgaben kaum umsetzbar.
"Die Militärausgaben, die wir haben, sind viel zu klein im Vergleich zu den anderen Bereichen, in die wir investieren", so Binders Einschätzung. "So kostet uns die verringerte Erbschaftssteuer jährlich genauso viel wie die Hilfe für die Ukraine aktuell." Der Analyst fordert daher mehr Investitionen, um Russland glaubhaft abzuschrecken.
Deutschlands Rolle sei aber auch entscheidend innerhalb der EU. "Deutschland hat als größte Volkswirtschaft in der EU eine wichtige Rolle", so Binders Einschätzung. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien könnte zudem ein klares Signal an Russland senden. "Wenn jetzt vier große Länder in der EU vorausgehen würden, dann würde das ein starkes Zeichen gegenüber Russland senden."
Fazit: Europa muss handeln
Deutschland könnte dabei als Vorreiter auftreten und damit nicht nur das militärische Gleichgewicht in Europa stärken, sondern auch wirtschaftliche Wachstumsimpulse setzen. "Wenn wir gemeinsam mit anderen großen europäischen Nationen ein Investitionsprogramm in Sicherheit auflegen würden, würde das auch positive wirtschaftliche Impulse geben", so die Prognose. Der Wissenschaftler beruft sich dabei auf eine neue Studie des Kiel Instituts, die auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt wurde.
Demnach würde einer vorsichtigen Schätzung zufolge das europaweite BIP um 0,9 bis 1,5 Prozent wachsen, wenn die Verteidigungsausgaben von 2 auf 3,5 Prozent des BIP steigen. Und: Auch gegenüber den USA käme Europa so in eine bessere Verhandlungsposition, wenn es sich auch auf eigene Investitionen berufen könnte, so der Analyst. Mit höheren Verteidigungsausgaben und einer engeren europäischen Kooperation könnte sich Europa eine stärkere Position gegenüber Russland und den USA erarbeiten - und verhindern, dass es nur noch als Zuschauer auf seine eigene Sicherheitslage blickt.
Quelle: ntv.de