
J.D. Vance ist wieder weg, der Schockzustand bleibt da. Schaffen es die Ukraine-Partner, eine kraftvolle, pragmatische Antwort zu geben? Kanzler Scholz müsste sie liefern, doch den Moment des Tages prägt ein anderer.
Manchmal spricht Stille am lautesten. Am Samstagmorgen, kurz vor 11 Uhr, schafft Wolodymyr Selenskyj in München einen solchen Moment. Wenn in diesen Sekunden einer der anwesenden Regierungschefs, hochrangigen Militärs und Entscheider eine Nadel fallen ließe, es wäre zu hören.
Der ukrainische Präsident hat zuvor schon viel gemahnt und gefordert, Applaus erhalten, es ist seine dritte Rede auf der Sicherheitskonferenz als Staatschef einer Nation im Krieg. Die stehenden Ovationen des Publikums gehören schon dazu, man kennt sich und die Situation. Was man bisher noch nicht kannte, war, als Partner der Ukraine ohne die USA dazustehen.
Für Selenskyj hatte Trump sieben Minuten
US-Vizepräsident JD Vance machte am Freitag auf dem Münchner Podium den Gegner und Demokratiefeind nicht in Moskau aus, sondern bei den europäischen Nato-Partnern. Verteidigungsminister Pete Hegseth räumte in Brüssel die wichtigsten ukrainischen Forderungen als nicht verhandelbar ab. Präsident Trump telefonierte knapp anderthalb Stunden mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und hatte anschließend für Selenskyj, so heißt es, sieben Minuten übrig.
Aus der zweiten Februarwoche 2025 folgt: Die sicherheitspolitische, auf gemeinsamen Werten basierende Partnerschaft zwischen den USA und Europa ist zum Ende gekommen. Doch Selenskyj nimmt diese Erkenntnis und spinnt sie in seiner Rede noch ein Stückchen weiter: "Präsident Trump mag keine schwachen Freunde, er respektiert Stärke", sagt der Ukrainer. Manche seien in Europa vielleicht frustriert mit Blick auf Brüssel. "Aber lassen Sie uns ganz deutlich sein", sagt Selenskyj: "Wenn es nicht Brüssel ist, dann ist es Moskau. Das ist Ihre Entscheidung." Stille.
Am Ende dieser Entwicklung, die mit den US-Wahlen am 5. November begonnen hat, könnte in Selenskyjs Szenario die US-Partnerschaft zu Europa einer Partnerschaft mit dem Kreml weichen. Für den Fall, dass es den Europäern nicht gelingt, das Weiße Haus vom weiteren Nutzen eines Sicherheitsbündnisses mit Europa zu überzeugen. Unter dem Eindruck der vergangenen Woche wissen Selenskyjs Zuhörer: Ein solches Szenario wäre durchaus drin. Es scheint alles drin, seit Vance.
Wie es Selenskyj gelingt, dessen Ukraine weder Mitglied der Nato noch Teil der EU ist, sich Gehör und Zugang zu den europäischen Regierenden zu verschaffen, ist in den Tagen des Umbruchs hoch zu bewerten. Besonders, da auf der MSC 2025 eine weitere Erkenntnis zu Tage tritt: Während die Europäische Union wohl vor ihrer größten Herausforderung seit Bestehen steht, ist keine Führung der stärksten EU-Staaten in Sicht. Wer soll den Treiber machen?
Was Vance macht, "gehört sich nicht"
Den zweiten Konferenztag hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Rede eröffnet. Er verwahrt sich gegen Vance' Wahlkampfhilfe für die in Teilen rechtsextreme AfD. Man werde es "nicht akzeptieren, wenn Außenstehende zugunsten dieser Partei in unsere Demokratie, in unsere Wahlen und in die demokratische Meinungsbildung eingreifen". Das gehöre sich nicht.
So pointiert die Replik von Scholz ist, in der Dramaturgie dieser zweiten Zeitenwende kommt sie einen Tag zu spät. Am Tag 1 der MSC hat Vance seinen Pfeil auf die europäischen Demokratien abgeschossen, und am Tag 1 haben andere in München, ihm geantwortet. Verteidigungsminister Boris Pistorius, der von seinem Manuskript abweichend Vance' Einmischung als "inakzeptabel" geißelte. Aber auch Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz.
Der CDU-Chef stand am Freitag noch gar nicht auf der Bühne, doch im Interview mit ntv hatte seine Entgegnung mehr Gewicht als das, was der Bundeskanzler vom Wahlkampf aus sagte. Denn die Kritik an dem "fast schon übergriffigen Umgang" ergänzte der CDU-Chef mit dem entscheidenden Satz, das habe er Vance am Mittag "auch ganz deutlich gesagt".
Es war Merz, mit dem sich Vance zum Gespräch in München zusammensetzte, neben weiteren Treffen, außerhalb der MSC auch mit AfD-Chefin Alice Weidel. Ein Treffen mit Scholz - aus Sicht des ranghöchsten Vertreters der US-Regierung schon nicht mehr notwendig.
Scholz' Punkt hat von der Leyen schon gestern gemacht
Scholz konnte gar nicht am Freitag schon nach München reisen, denn diese Geringschätzung des Bundeskanzlers wäre viel zu deutlich hervorgetreten. Ein Fakt bleibt sie dennoch und auch, dass es dem Kanzler in seiner Münchner Rede nicht gelang, den eigenen Anspruch auf das Amt glaubwürdig zu unterstreichen.
"Wer Grenzen gewaltsam verschieben will, der legt die Axt an unsere Friedensordnung", man müsse "sicherheitsrelevante Schlüsseltechnologien in Europa halten und ansiedeln". Scholz schlug darum vor, im Stabilitätspakt der Europäischen Union eine Ausnahme für alle Investitionen in Verteidigungsgüter einzuführen, oberhalb des Zwei-Prozent-Ziels der Nato. Eine solche Ausnahme hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon vor ihm angekündigt. Die stand auch bereits am Tag 1 auf der Münchner Bühne.
Was Scholz an Tag 2 analysierte, bilanzierte und vorschlug - durchaus stichhaltig und durchdacht, aber letztlich Maßnahmen, die auf die Weltlage vor der zweiten Februarwoche eine passende Antwort gegeben hätten. Nicht danach.
In Tagen, wo sich Partnerschaften, die man jahrzehntelang für Gewissheit hielt, in winterlich-kalte bayerische Luft auflösen, wird von einem deutschen Kanzler auch ohne Parlamentsmehrheit mehr erwartet als das, was Scholz lieferte. Anregungen eines zahnlosen Tigers.
Das finanzkräftigste, bevölkerungsstärkste Mitgliedsland der Europäischen Union - leider derzeit nicht in der Lage, Europa zu führen. Besonders tragisch, wenn der französische Staatschef Emmanuel Macron und Großbritanniens Premierminister Keir Starmer nicht einmal anreisen.
Ein Pflock aus Dänemark - wenigstens
Wer soll der Treiber sein? In München blieb es an Dänemarks Regierungschefin Mette Frederiksen, wenigstens einen Pflock auf der Bühne einzuhauen. Das beste, was die Partnerländer der Ukraine geben könnten, sei "die Mitgliedschaft in der Nato", sagte Frederiksen auf einem Panel mit Friedrich Merz. Mit einer schon früheren Nato-Mitgliedschaft "hätte es den Krieg in der Ukraine gar nicht gegeben". Es sei "die billigste und einfachste Vorgehensweise, um Länder wie die Ukraine zu schützen".
Tatsächlich gibt es innerhalb des Bündnisses und auch in der EU Stimmen dafür, aber auch sehr viele dagegen. US-Verteidigungsminister Hegseth wischte die Option am Mittwoch vom Verhandlungstisch. Aber vom Warten auf Washington, wenn es um gemeinsame Sicherheitspolitik geht, sollten sich die europäischen Partnerländer wohl schnellstens verabschieden. Und Maßnahmen nicht nur debattieren, sondern entscheiden und voranbringen. Solche, die die neue Sicherheitslage tatsächlich adressieren. Nach der Bundestagswahl hat Deutschland die Chance, wieder mit einer Stimme auf internationalem Parkett zu sprechen, die sich Gehör verschafft. Das scheint dringender denn je.
Quelle: ntv.de