Reisners Blick auf die Front "Die russische Winteroffensive steht vor dem Höhepunkt"
18.03.2024, 16:58 Uhr Artikel anhören
Am Sonntag verkündete Putin nach seinem Sieg in der Wahlinszenierung, er sei offen für einen Waffenstillstand während der Olympischen Spiele. Verhandeln will er aber nicht, wie er in der Vorwoche sagte.
(Foto: AP)
Mit Drohnenangriffen und Grenzübertritten der russischen Legion hat die Ukraine während der russischen Präsidentschaftswahlen versucht, von der schwierigen Situation an der Front abzulenken, sagt Oberst Markus Reisner im wöchentlichen Blick auf die Situation in der Ukraine. Gerade die Drohnenangriffe hätten allerdings auch eine strategische Seite. Über die Präsidentschaftswahl in Russland sagt Reisner: "Man wird davon ausgehen können, dass Putin, ausgestattet mit knapp 90 Prozent Zustimmung, eine neue Frühjahrsoffensive vorbereiten lässt."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
ntv.de: Sie haben zuletzt vor einem russischen Durchbruch gewarnt. Wie hat sich die Front in den letzten Tagen entwickelt?
Markus Reisner: Beginnen wir auf der taktischen Ebene. Hier kann man erkennen, dass Russland nach wie vor an insgesamt 18 Stellen versucht, massiv Druck auszuüben, um weiter in die Tiefe hinter der Front vormarschieren zu können. Vor allem im Raum Awdijiwka versuchen die Russen, durch die zweite Verteidigungslinie der Ukraine durchzubrechen, die allerdings nach wie vor hält.
Warum?
Weil die Ukraine es geschafft hat, in den vergangenen Tagen immer wieder neue Reserven und Kräfte heranzuführen. Die haben damit verhindert, dass die Russen hier durchbrechen.
Auf der operativen Ebene kann man sehen, dass die Russen versuchen, vor der bald einsetzenden ersten Schlammperiode des Jahres, der sogenannten Rasputiza, noch einige Ergebnisse zu erzielen. Deshalb kann man sagen, dass die zweite russische Winteroffensive offensichtlich kurz vor ihrem Höhepunkt steht. Insgesamt lassen sich grob fünf Hauptstoßrichtungen erkennen: in der Region Donezk erstens nordöstlich von Slowjansk in der Gegend der Ortschaft Torske. Zweitens westlich von Bachmut, drittens westlich von Awdijiwka sowie viertens südlich von Nowomychajliwka. Und schließlich in der Region Saporischschja zwischen Robotyne und Werbowe. Hintergrund der massiven Angriffe war zweifellos, während der Präsidentschaftswahl in Russland den Druck auf die Ukraine aufrechtzuerhalten.
Die Ukraine hat während der Wahl so viele Drohnenangriffe auf Russland geflogen wie nie zuvor.
Das war eines von zwei Elementen, um im Informationsraum dagegenzuhalten. Aber die Angriffe haben auch eine strategische Seite. Russland hat ungefähr 30 große Raffinerien. In den vergangenen Wochen scheint es der Ukraine gelungen zu sein, zumindest zwölf davon anzugreifen, teils mehrfach, und einige auch schwer zu beschädigen.
Haben diese Angriffe eine praktische Wirkung?
Das wird man in den nächsten Wochen und Monaten sehen. Man geht davon aus, dass circa 10 bis 15 Prozent des Raffineriepotentials der Russischen Föderation getroffen wurde. Es gibt Beobachter, die die in Russland verhängten Rationierungen von Treibstoff mit den Drohnenangriffen auf die Raffinerien in Verbindung bringen. Damit gelingt nicht nur ein Propagandaerfolg, sondern aus meiner Sicht gelingt es auch, die Russen an einigen Stellen empfindlich zu treffen. Denn für die Russen bedeuten die Angriffe natürlich, dass sie Fliegerabwehrsysteme zum Schutz der Raffinerien einsetzen müssen. Und diese Systeme stehen dann an der Front nicht mehr zur Verfügung. Möglicherweise ist das Teil einer vorausschauenden Vorbereitung der Ukraine für den Einsatz der F-16-Kampfjets, die in nächster Zeit in der Ukraine eingesetzt werden sollen.
Sie sprachen von zwei Elementen, um den russischen Erfolgen an der Front im Informationsraum etwas entgegenzusetzen.
Das zweite Element ist der Versuch, an vier Stellen auf russisches Territorium überzutreten, und zwar nicht durch ukrainische Kräfte, so das ukrainische Narrativ, sondern durch sogenannte russische Freiwilligenverbände, die russische "Legion Freiheit Russlands". Die Ukraine versucht auch damit, den Blick von der schwierigen Situation an der Front abzulenken. Wir haben so etwas schon nach dem Fall von Bachmut gesehen, im Mai 2023.
Sind diese Grenzübertritte nicht ziemliche Himmelfahrtskommandos?
Diese Kommandos werden von der Ukraine mit westlichen Waffen ausgestattet, auch ukrainische Soldaten sind daran beteiligt. Und Russland braucht natürlich etwas Zeit, um darauf zu reagieren, das heißt, um Kräfte heranzuführen. Das dauert meistens zwei oder drei Tage. Aber dann kommt es zu massiven Gegenschlägen. Meist führt das tatsächlich zu massiven Verlusten bei den angreifenden Kommandos. Der Vorstoß nach dem Fall von Bachmut im vergangenen Jahr wurde wirklich zu einem Himmelfahrtskommando. Aber es erfüllte seinen Zweck, denn niemand sprach mehr von der Niederlage bei Bachmut.
Ist die ukrainische Schwäche, die wir derzeit beobachten, den ausbleibenden Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen geschuldet?
Das kann man tatsächlich so sagen. Zum einen ist die Munitionssituation auf der taktisch-operativen Ebene weiterhin prekär. Hier gibt es mittlerweile dutzende Berichte, denen man entnehmen kann, dass die Ukraine nicht in der gleichen Art und Weise mit Artillerie zurückfeuern kann, wie das die Russen tun. Mängel gibt es aber auch im wichtigen Bereich der Fliegerabwehrmunition. Man geht davon aus, dass es bis Ende März zu einem massiven Einschnitt bei der verfügbaren Fliegerabwehrmunition kommt. Das betrifft vor allem Boden-Luft-Raketen, die man braucht, um einfliegende Ziele abzuschießen. Schlimmstenfalls kann dann nur jedes fünfte einfliegende Ziel - ob Marschflugkörper oder iranische Drohne - beschossen werden. Das zeigt, wie sehr die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine von der Verfügbarkeit von externen Ressourcen abhängig ist.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat letzte Woche im Bundestag gesagt, die Frage sei jetzt, "wie kriegen wir das hin, dass auch Waffen und Munition geliefert werden kann, die weiter als fünfzig oder achtzig oder hundert Kilometer reicht, denn das ist ja der Bereich, um den es da im Wesentlichen geht". Sind hundert Kilometer tatsächlich ausreichend?
Dazu muss man die Struktur des Angreifers verstehen. Wir haben einen unmittelbaren Nahbereich von dreißig bis fünfzig Kilometern hinter der Front. Das ist jener Bereich, indem die unmittelbare Versorgung und Führung der Kräfte passiert. Spätestens, seit die Ukraine über die amerikanischen HIMARS-Systeme verfügt, mussten die Russen diesen Bereich nach hinten verschieben, weil die HIMARS auf eine Distanz von bis zu siebzig Kilometern wirken. Hinter dieser Distanz findet man jetzt die Logistik, aber auch die lokalen Kommandostrukturen der russischen Streitkräfte. Deshalb ist der Bereich bis zu hundert Kilometern von einer hohen Bedeutung. Denn mit Waffensystemen, die so weit wirken, kann man gezielt die großen Munitionslager treffen, vor allem aber die Führungsstruktur. Derartige Angriffe funktionieren allerdings nur mit einer hohen Wiederholungsrate. Nur so ist es möglich, einen nachhaltigen Abnützungs- oder Übersättigungseffekt zu erzielen. Erst dann kann man davon ausgehen, dass es beim Gegner zu messbaren Einschränkungen kommt, also zu einem faktischen Versiegen der Angriffe entlang der Front. Bislang ist das nicht erkennbar. Aber die Diskussion geht genau in diese Richtung.
Olexander Syrskyj, der Nachfolger des populären Armee-Befehlshabers Walerij Saluschnyj, ist bald sechs Wochen im Amt, und im Gefolge seiner Ernennung gab es ja auch eine noch weitergehende Neuaufstellung an der Spitze der ukrainischen Armee. Erkennen Sie schon Auswirkungen dieser Personalentscheidungen?
General Syrskyj hat Ende letzten Jahres darauf hingewiesen, dass es zum Wohle der Soldaten notwendig ist, gewisse Geländeabschnitte aufzugeben und auf leichter zu verteidigende Abschnitte zurückzugehen. Das sieht man nicht zuletzt bei Awdijiwka. Syrskyj hat es auch geschafft, die Abschnittskommandeure derart mit Reserven und Ressourcen zu versorgen, dass es den Russen nicht gelungen ist, in ihrer zweiten Winteroffensive signifikant durchzubrechen. Es gibt zwar Einbrüche entlang der beschriebenen Stellen, aber keinen operativen Durchbruch. Das ist ein gutes Zeichen. Syrskyj hat es immerhin geschafft, die Front bis zur Rasputiza stabil zu halten.
Kremlchef Putin ist wie erwartet wiedergewählt worden. Wie bewerten Sie Putins Rolle als Oberbefehlshaber, als der er sich für die kommenden sechs Jahre ja auch hat bestätigen lassen?
Man wird davon ausgehen können, dass Putin, ausgestattet mit knapp 90 Prozent Zustimmung, eine neue Frühjahrsoffensive vorbereiten lässt. Die Wahl war nach unserem westlichen Verständnis nicht frei, aber klar ist, dass die Beliebtheit des Präsidenten hoch ist. Putin und seine Entourage schaffen es mit ihrer Propaganda, die Mehrheit der Russen davon zu überzeugen, dass dies eine Art Großer Vaterländischer Krieg 2.0 ist: ein Überlebenskampf des russischen Volkes.
Nach seiner Wiederwahl hat Putin in einer Rede behauptet, er sei offen für die Idee einer Waffenruhe während der Olympischen Spiele. Gleichzeitig sagte er, dabei müssten die Interessen des russischen Militärs an der Front berücksichtigt werden. Schon in der vergangenen Woche hat Putin im russischen Fernsehen gesagt: "Jetzt mit Verhandlungen anzufangen, nur weil der Ukraine die Munition ausgeht, wäre lächerlich." Was für eine Botschaft steckt in diesen Aussagen?
Ich denke, dass der russische Präsident seiner Bevölkerung ganz klar vermitteln möchte, dass er diesen Weg bis zu Ende geht. Das Ziel ist für ihn weiterhin die Eroberung - aus seiner Sicht die Zurückholung - des ukrainischen Territoriums. Gerade jetzt, wo die materielle Unterstützung des Westens nachlässt, erkennt Russland, dass es auf Zeit spielen kann, um sein Ziel zu erreichen. Dass die Verluste dabei sehr hoch sind, bei Menschen und Ressourcen, spielt für die russische Seite offensichtlich keine Rolle.
In Odessa wurden bei russischen Raketenangriffen mindestens 20 Menschen getötet, darunter auch Sanitäter und andere Retter, die zum Einschlagsort geeilt waren, weil genau dort zuvor bereits eine Rakete eingeschlagen war. Ist das nicht ein Vorgehen von Terroristen: mit einem Anschlag Helfer anlocken, dann noch eine Bombe zünden?
Schon im Zweiten Weltkrieg wurden von den Alliierten immer wieder auch Bomben mit einem Zeitzünder abgeworfen, damit sie einen größtmöglichen Schaden anrichten. Ein ähnliches Vorgehen sehen wir hier auch. Das beginnt schon damit, dass Russland fast jeden Tag mit iranischen Drohnen das ukrainische Territorium angreift. Das heißt, dass es täglich mehrfach Luftalarm gibt. Die Menschen werden aus dem Schlaf gerissen, sie kommen praktisch nicht zur Ruhe. Wenn Sie das über Monate erleben müssen, dann macht das etwas mit Ihnen. Zum Zweiten hat der Einsatz der Schahed-Drohnen das Ziel, die Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Fliegerabwehr zu testen. Meist folgt vierzehn Tage bis drei Wochen später ein gezielter Angriff mit Marschflugkörpern auf Basis des erkannten Systems, in der Regel unterstützt mit einer weiteren Welle iranischer Drohnen.
Der russische Verteidigungsminister Schoigu hat am Sonntag die Schwarzmeerflotte besucht und dabei gesagt, es müsse täglich trainiert werden, "wie man Angriffe aus der Luft und von unbemannten Booten abwehrt". Ist das ein indirektes Eingeständnis, dass die Ukraine für die russische Marine eine Gefahr darstellt?
So würde ich das sehen. Tatsächlich hat es die Ukraine geschafft, die Schwarzmeerflotte aus dem westlichen Schwarzen Meer zurückzudrängen - vor allem durch den Einsatz von unbemannten Überwasser-, aber auch Unterwassersystemen. Die Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte, die nicht versenkt wurden, befinden sich jetzt vor der südrussischen Küste und sind dort mehr oder weniger zur Untätigkeit verdammt. Dies ist auch deshalb ein Erfolg für die Ukraine, weil einige dieser Schiffe an den Luftangriffen beteiligt waren. Die Masse der Luftangriffe kommt allerdings aus der Luft, von Bombern, die nicht in den ukrainischen Luftraum einfliegen müssen, sondern aus dem belarussischen oder russischen Luftraum heraus ihre Raketen oder Marschflugkörper abfeuern.
Aber es gibt hier zwei interessante Aspekte: Erstens wurde die Führung der Schwarzmeerflotte ausgetauscht, offenbar wegen der Verluste. Und zweitens sollte Schoigus Besuch zeigen, dass er erwartet, dass es in diesem Fähigkeitsbereich zu einer Verbesserung kommt. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob die Russen hier schon eine Antwort gefunden haben.
Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de