Politik

Migrationsforscher im Interview "Flüchtlingskrise diesen Winter wird größer als 2015"

282591142.jpg

Viele Ukrainer sind bereits wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt. Doch im Winter könnten viele aus Not zurück nach Deutschland kommen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Putins Angriffe auf die Ukraine stürzen die EU in eine historische Flüchtlingskrise. Zusammen mit den Menschen, die über die Balkanroute einreisen, stehe Deutschland diesen Winter vor einer einzigartigen humanitären Herausforderung, sagt Migrationsforscher Knaus ntv.de. Vermehrte Grenzkontrollen, wie die FDP und Union sie fordern, sei Scheinpolitik und würden nicht zu weniger Flüchtlingen, dafür aber zu mehr Gewalt und Pushbacks führen. Die einzige Lösung sei deshalb die Erneuerung des EU-Türkei-Deals, erklärt Knaus im Interview.

ntv.de: Von den Flüchtlingen aus der Ukraine, die kurz nach Ausbruch des Krieges zu uns gekommen waren, sind viele schon wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Werden nach Putins jüngsten Angriffen auf Kiew und andere Städte wieder mehr Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland kommen?

290396921.jpg

Gerald Knaus ist ein österreichischer Migrationsforscher und Mitgründer und Vorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative.

(Foto: picture alliance/dpa)

Gerald Knaus: Das ist das klare Ziel des Kremls. Es wurde wochenlang im russischen Fernsehen als Strategie diskutiert und es wird nun durch die Armee jeden Tag umgesetzt: Terror gegen Zivilisten und Zerstörung der Infrastruktur und Energieversorgung sollen eine neue Flüchtlingsbewegung in Gang setzen. Im Tschetschenien-Krieg, in Syrien, in der Ostukraine war es immer ein Effekt von Putins russischer Kriegsführung sehr viele Menschen zu vertreiben. Bislang ist der Großteil der Vertriebenen in der Ukraine geblieben. Es sind seit Mitte April auch viele wieder aus der EU zurückgekehrt. Wenn das Leben in Städten aber unmöglich wird, weil nicht mehr geheizt werden kann, wenn Stadtzentren durch ständigen Beschuss terrorisiert werden oder gar Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, dann müssen wir uns darauf einstellen, dass die Zahl derer, die fliehen werden, diesen Winter noch einmal sehr groß sein kann.

Könnte Deutschland nach heutigem Stand das denn stemmen? Auch hier müssen die Menschen sparsam mit Strom und Gas umgehen. Wie wird dann Reaktion der Deutschen sein, wenn wieder mehr Ukrainer zu uns kommen?

Die humanitäre Krise erinnert mich seit Februar an die Blockade von West-Berlin unter Stalin, die zur Berliner Luftbrücke geführt hat. Eine Ausnahmesituation, in der das humanitäre von überragender geopolitischer Bedeutung ist. Wir sprechen von einer Flüchtlingskrise historischen Ausmaßes. Ein humanitärer Ausnahmezustand, den es in Europa seit den 1940er Jahren nicht mehr gegeben hat. Allerdings wurden schon im Februar und März viel mehr Flüchtlinge in der EU erwartet, weil viele nicht mit dem Erfolg des ukrainischen Militärs rechneten. Nun hat sich in den letzten Monaten das Gefühl eingeschlichen, der Höhepunkt der Krise liege hinter uns. Auch, weil viele Millionen Ukrainer in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Aber tatsächlich haben bislang schon mehr Menschen in Deutschland Schutz gefunden als im Rekordjahr 2015. Die Krise liegt nicht hinter uns, sie könnte sich nochmal drastisch verschärfen.

Inwiefern?

Die Fluchtursache ist Putins Krieg. Die beste Fluchtursachenbekämpfung ist daher die Unterstützung der Ukraine, finanziell und militärisch. Wir sehen, dass die Ukrainerinnen, die zu uns kommen, so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen. Aber über den Winter kann es sein, dass mehr Frauen und Kinder in der EU untergebracht werden müssen. Da müssen auf allen Ebenen auch die finanziellen Mittel dafür bereitgestellt werden. Es ist ebenso wichtig der Ukraine dabei zu helfen, im Land Binnenvertriebene so zu unterstützen, dass sie dortbleiben können.

Wie könnte man das tun?

Polen und Tschechien haben bislang pro Kopf dreimal mehr Ukrainer aufgenommen als Deutschland. Es wäre sinnvoll Städten und Gemeinden auch dort zu helfen, damit die Menschen bleiben können. Gleichzeitig muss man Aufnahmefamilien, auch in Deutschland helfen, wie dies in Großbritannien passiert. Der Grünenpolitiker Erik Marquart hat 500 Euro im Monat vorgeschlagen. Für den Wiederaufbau der Infrastruktur in der Ukraine sollte man schon jetzt die eingefrorenen russischen Zentralbankdevisen konfiszieren. Es darf dort auch nicht zu einer Hyperinflation kommen.

Müsste der Bund finanziell mehr den Ländern und Kommunen helfen?

Ja. Und ein Weg das zu tun ist es privaten Haushalten zu helfen, die Menschen aufnehmen. Sehr viele Ukrainer sind privat bei Familien untergebracht. Wenn die Energiekosten steigen, könnten selbst die, die es gut meinen, an ihre Grenzen geraten. Wenn aber alle Ukrainer, die privat untergebracht sind, von Landkreisen oder von den Städten untergebracht werden müssen, dann würde sich die Krise enorm verschärfen. Es geht darum, diesen Winter zu überstehen. Wenn die Ukraine weiter Territorium zurückerobert, dann kann man davon ausgehen, dass im Frühjahr sehr viele Ukrainer zurückkehren können. Aber dieser Winter wird eine einzigartige humanitäre Herausforderung. Es wird ein Test. Putin setzt darauf, dass die Europäer ihn nicht bestehen. Er hat sich aber zuvor schon in der EU getäuscht, auch in Deutschland. Wir müssen zeigen, dass er sich wieder täuscht.

Innenministerin Nancy Faeser zeigt sich in der vergangenen Woche auch besorgt über die steigende Zahl von Flüchtlingen auf der Balkanroute. Wie stark ist der Anstieg, den wir da sehen?

Wir haben in diesem Jahr eine hohe Zahl von Asylanträgen in Österreich. Wir haben auch eine etwas höhere Zahl von Asylanträgen in Deutschland als im letzten Jahr, ungefähr so wie 2018. Das sind Zahlen, die deswegen ins Gewicht fallen, weil wir die Ukrainekrise haben. Für sich genommen ist das kein Vergleich mit 2015. Das liegt vor allem daran, dass in diesem und im letzten Jahr nur wenige Menschen neu aus der Türkei über Griechenland in die EU kommen. Im Jahr 2015 kamen in zwölf Monaten eine Million Menschen aus der Türkei nach Griechenland, die sofort in Richtung Mitteleuropa weitergezogen sind. In diesem Jahr waren es bisher 12.000. Auf der Route nach Deutschland gibt es zwei Gruppen. In der einen sind viele, die heute nach Deutschland kommen und oft schon Jahre lang in anderen Ländern in Südosteuropa, etwa in Griechenland waren. Da entleert sich die Balkanroute. Auf den griechischen Inseln waren Anfang 2020 noch 40.000 Menschen, heute sind es 3.000. Auf dem Festland waren es über 70.000, heute sind es 30.000. Sehr viele sind weitergezogen. Das bedeutet aber auch, dass diese Migration durch Südosteuropa bald zurückgehen wird. Weil einfach nicht mehr so viele da sind.

Und die zweite Gruppe?

Die zweite Gruppe sind Menschen, die visafrei über Serbien einreisen. Da kann man Druck auf Serbien machen, sein Visaregime zu ändern. Auch durch bessere Kontrollen kann man dafür sorgen, dass nicht wie in den letzten Monaten Inder und Tunesier über Serbien einreisen und dann über Ungarn Deutschland erreichen. Das alles ist vor allem deswegen herausfordernd, weil diese Menschen zu der sehr viel größeren Zahl von Ukrainern dazu kommen. Aber ich glaube nicht, dass sich Deutschland in den nächsten sechs Monaten stark mit der Balkanroute beschäftigen wird. Im Winter wird die Zahl der Menschen, die aus Südosteuropa kommen, stark sinken und im Vergleich zu den Ukrainern sehr gering sein.

Sie teilen daher nicht die Aussage von FDP und Union, die behaupten, dass sich eine neue Flüchtlingskrise in Deutschland anbahnt?

Wir sind schon mitten in der größten Flüchtlingskrise seit den 40er Jahren. Aber zehn von elf, denen Deutschland in diesem Jahr Schutz geboten hat, sind Ukrainer. Wir haben einen Krieg, der in der Ukraine ein Drittel der Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben hat. Das könnte im Winter weitergehen und ist eine Krise historischen Ausmaßes. Das ist die Flüchtlingskrise, in der wir sind. Nur wird sie nicht mit den Maßnahmen, die 2015 diskutiert worden sind, nämlich durch Kontrollen an der deutschen Außengrenzen, in irgendeiner Form kleiner.

FDP und Union fordern nun genau das, stärkere Grenzkontrollen zu Österreich und Tschechien. Wie soll das aussehen? Und wird der Bund diese Forderung umsetzen?

Diese Kontrollen an der Grenze zu Österreich gibt es seit Jahren. Die haben nicht dafür gesorgt, dass auch nur eine Person weniger nach Deutschland gekommen ist. Das ist Scheinpolitik. Auch Kontrollen an der Grenze zu Tschechien werden Afghanen nicht daran hindern, nach Deutschland zu kommen. Das ist nicht zielführend und hat auch nichts mit rechts oder links zu tun. Wir wissen aus den Erfahrungen der letzten Jahre, dass selbst mit großer Brutalität, die die deutsche Polizei ja zum Glück nicht an den Tag legt, Menschen nur schwer abzuhalten sind. In Kroatien an der Grenze zu Bosnien oder auch an der Grenze Ungarn zu Serbien, wo es einen Zaun, Gewalt und Pushbacks (Als Pushback wird das Zurückdrängen von Migranten von den Grenzen ihres Ziel- oder Transitlandes bezeichnet, Anm.d.Red.) gibt, kommen Menschen seit Jahren trotzdem nach Österreich. Ich sehe nicht, mit welchen noch drastischeren Maßnahmen die Flüchtlinge dann daran gehindert werden, von Österreich nach Deutschland zu gehen.

Die FDP plädiert dafür, dass der EU-Türkei-Deal erneuert werden muss, weil der Deal so nicht mehr funktioniere. Stimmen Sie dem zu?

Ja. Auch, weil die Art, wie wir derzeit Kontrolle an der Grenze zur Türkei ausüben, auf illegaler Gewalt basiert. Griechenland macht Pushbacks, das wurde von dem eben veröffentlichten Bericht der EU-Anti-Betrugsorganisation bestätigt und schon seit Jahren von vielen Medien. Diese Art von Grenzkontrolle widerspricht EU- und internationalem Recht. Es wäre im europäischen Interesse, dass die illegale Migration mit der Türkei ohne Menschenrechtsverletzungen reduziert wird. Und dass wir auch die immer noch enorm große Zahl von mehr als dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei weiter unterstützen, weil wir ein Interesse daran haben, dass deren Integration funktioniert. Allerdings verschlechtert sich die Situation in der Türkei derzeit. Die Stimmung gegenüber Flüchtlingen, der Druck auf sie und ihre Behandlung verschlechtern sich. Man müsste also dringend, und dafür plädiere ich seit zwei Jahren, in Verhandlungen mit der EU und der Türkei eintreten. Man muss besprechen, wie man das, was 2016 beschlossen wurde und 2020 zusammengebrochen ist, im Einklang mit den Werten der Europäischen Menschenrechtskonvention wieder umsetzt. Seit 2020 gab es keine einzige Rückführung mehr aus Griechenland in die Türkei. Es wird schwierig, aber es ist alternativlos.

Wie könnte ein neuer Deal aussehen?

Es ist sinnvoll die Flüchtlinge in der Türkei weiterhin finanziell zu unterstützen. Das müsste die gesamte EU tragen. Dafür nimmt die Türkei aber diejenigen, die irregulär kommen, wieder zurück. Es muss dann auch Garantien geben, dass die, die man in die Türkei zurückführt, menschenrechtskonform behandelt werden. Sonst verstößt es gegen EU-Recht. Darüber müsste man verhandeln, um die Gewalt zu überwinden. Alles ist besser als die Politik, die wir derzeit haben.

Mit Gerald Knaus sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen