
Robert Habeck beschreibt das Entsetzen, die flaue Enttäuschung - also das, was in vielen Deutschen hochkriecht.
(Foto: dpa)
Ohne Pult, ohne Rahmen und im falschen Amt hat Wirtschaftsminister Robert Habeck dem Land eine Stimme gegeben. Aber warum nur er - warum nicht auch andere?
Mit einer Kamera und ein paar Social-Media-Accounts hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die ganze Welt entzückt. Seine Rede wird übersetzt, zitiert, abgedruckt, verteilt, kommentiert, bejubelt. Nörgler gibt es kaum. Und es wirft die Frage auf: Wieso ist der Wirtschaftsminister der einzige hochrangige Politiker in Deutschland, der die Nachdenklichkeit und Ausdauer besitzt, das Entsetzen der letzten vier Wochen in eine wuchtige Deutung zu überführen? Warum stellt nur Habeck sich mit einer wuchtigen Rede der Judenvernichtung entgegen? Heute, 80 Jahre nach dem Holocaust?
Die deutsche Regierung war, was Israel angeht, bis vor Kurzem ein stotterndes Desaster. "Die Ampel kann nicht mehr" tippte ich vergangene Woche in meine Zettelsammlung, darunter notierte ich ein paar kommunikative Ausfälle: Bildungsministerin Lisa Paus (Grüne) erlitt vor laufender Kamera einen Blackout und wusste nicht mehr, ob das Existenzrecht Israels Einbürgerungsvoraussetzung werden soll (ja). Mehrere FDP-Minister verbreiten sich mit komplett gedrechselten Instagram-Kacheln, die selbst als Negativbeispiel für ein Kommunikationsseminar zu grotesk wären. Der Bundeskanzler gab eine wie stets restlos lieblose Regierungserklärung ab. Und was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dieser Tage treibt, ist unklar, zuletzt sah ich ihn in Afrika.
In derselben Woche wird bekannt: Die Hamas hat die deutsch-israelische Tattoo-Künstlerin Shani Louk zerstückelt. Man hat, heißt es, einen wesentlichen Teil des Schädels gefunden. Deutschland schweigt trotz Gräuel zu einer UN-Resolution, die Hamas nicht einmal erwähnt. Bloß niemandem auf die Füße treten! Die CDU stempelt derweil ihr neues Parteilogo auf ein Shani-Louk-Foto und demonstriert, dass sie wirklich nichts mehr spürt im gesamten Parteikörper.
Inhaltlich nichts Besonderes
Nun sind wir ganz allein mit Shani Louks Schädelstück, dachte ich. Das für Entsetzen zuständige Körperorgan ist ausgelaugt, leergepumpt. Nach vier Wochen Strudel der Gewalt ist da keine geschichtliche Deutung, kein Weg, kein Trost. Es bräuchte jemanden, der im Chaos Sinn findet, Hoffnung plausibilisiert. Und in dieser Zeit hatte einer gegrübelt und geschrieben und stellte sich dann vor seinen Teleprompter.
Habeck hatte kein Pult, keinen Anlass, kein Auditorium, keinen Rahmen, und das falsche Amt - aber er hatte etwas, das dem Kanzler fehlt: Interesse an der Öffentlichkeit und Lust am Verstandenwerden. Was seine Gegner verspotten, ist seine Stärke: Der Kinderbuchautor weiß, wie man sich verständlich macht.
Inhaltlich war die Rede nichts Besonderes. Gegen die Linken hatten auch andere Grüne schon ausgeteilt, den Horror schon andere beschrieben, Deutschlands Verantwortung praktisch jeder durchdekliniert und die UN-Resolution hat Habeck wiederum nicht einmal erwähnt.
Das Rezept für Charisma
Habecks Rede war aber in jeder Hinsicht professioneller als alles, was bis dahin in der Ampel zu hören war: Seine Sätze sind sehr kurz, das macht sie verständlich, er nutzte dramatische Wiederholungen (Anaphern): "Heute, hier in Deutschland, fast 80 Jahre nach dem Holocaust." Das wiederholt er drei Mal.
Habeck beschreibt darin genau das Entsetzen, die flaue Enttäuschung, also das, was in vielen Deutschen hochkriecht: Wir dachten doch, der Holocaust läge hinter uns! Geht das jetzt wieder los?
Seine Stimme beginnt tiefer als sie endet, was auf ein Stimmtraining hindeutet. Er macht deutliche Pausen, wo sie hingehören. Er vermeidet Floskeln und Jargon, seine Gesten sind ruhig, er folgt einer Struktur. Er nutzt das, was Berater "Storytelling" nennen: Er setzt nicht nur abstrakte Bekenntnisse, er berichtet sein Erlebtes, etwa ein Gespräch in der Türkei. Das macht Habeck oft. Weil es wirkt.
Er kocht, mit anderen Worten, nach dem Rezept für Charisma.
Die Deutschen sind redensmüde
Die großen Reden der Geschichte sind nicht das Ergebnis von Talent, sondern von enormer Mühe, getragen von der Lust am Verstandenwerden. Auch Winston Churchill wurde nicht als Redner geboren: Er hat geprobt, gegrübelt und gefeilt wie ein Besessener, seine Reden um seine Sprachfehler herumgeschrieben, er hat seine Pausen in Manuskripten markiert und noch mehr geprobt, geprobt, geprobt.
Den Deutschen ist das fremd, sie sind redensmüde: Ihnen gefällt der Gedanke nicht, dass Menschen nicht durch Amt und Befugnis, sondern durch Worte und Gedanken beeinflussen. Wenn sie doch einmal eine erfolgreiche Rede sehen, suchen sie krampfhaft nach Erklärungen. Warum? Wenn jemand mit einer Kettensäge den Kölner Dom in einen Eisblock fräst, sagt man doch auch nicht "na ja, es ist ja auch kalt".
Die Deutschen haben schon lange ein komplett gestörtes Verhältnis zu Rhetorik, nicht erst seit dem Dritten Reich. Gute Worte gehören in die Dichtung, aber bitte nicht in die Politik. In der Politik zählt, was der rationale Deutsche angeblich am liebsten mag: Inhalte, Ordnung, Tiefe. "Deutschland kann, nach seiner Verfassung, keine Meisterstücke in der politischen Beredsamkeit haben", soll der Dichter Christian F. Daniel Schubart gesagt haben, das öffentliche Leben gehe "in Schreibstuben und auf Paradeplätzen vor".
Wortlos gegen Höcke und Wagenknecht
Aber diese autoritätsgeprägte Redensmüdigkeit hat Folgen für die Demokratie: Wer die Rede schmäht wie etwa der Kanzler, lässt Platz für andere: Der AfD-Politiker Björn Höcke, der sich intensiv um die rednerische Nachfolge von Joseph Goebbels bemüht, ist ein gutes Beispiel der Gegenwart. Seine schwülstigen Formulierungen donnern durch die Republik und werden so manch einem die Idee einpflanzen: Tausend Jahre Deutschland, das wäre doch was. Auch wenn es viele Deutsche glauben: Wer die gute Rede verachtet, ist nicht automatisch immun gegen ihre Wirkung.
Am anderen Ende des politischen Spektrums hat Sahra Wagenknecht um sich herum eine Partei als rhetorischen Resonanzkörper aufgebaut. Sie hat sie nach sich selbst benannt, weil die Ex-Linke genau weiß: Sie zieht, alle anderen nicht. Das liegt natürlich an ihrer eleganten Erscheinung, aber es liegt auch an ihrer Rhetorik.
Wollen wir wirklich debattieren, wie ein Rededuell zwischen Wagenknecht und Olaf Scholz ausginge? Glaubt jemand, Friedrich Merz würde auch nur eine Runde überstehen? Wollen wir Wagenknecht und Höcke das Feld räumen und uns auf Inhalte, Inhalte, Inhalte verlassen?
Das Ende der stimmlosen Verwalter
Habecks Rede ist hoffentlich ein Weckruf, gegen Antisemitismus und für ein wichtiges Gegengift: die gute Rede. Die deutsche Politik, die deutschen Volksparteien SPD und CDU müssen allmählich begreifen, wer in der mediatisierten Welt politische Macht versammelt. Redekunst heißt: Waffengleichheit herstellen mit Verführern, ohne ihnen in den Schlamm zu folgen.
Scholz könnte daher der letzte Kanzler seiner Art sein: ein stimmloser Verwalter. Ihm folgt eine Generation, für die Instagram das wichtigste Rednerpult ist. Der Anteil der Bevölkerung, die sich durch die direkten Kanäle sozialer Medien ansprechen lässt, wächst kontinuierlich.
Auf diese Entwicklung antworten bislang aber nur wenige. Die meisten bekannten Politiker posten abgefilmte Bundestagsreden. Direkt in die Kamera sprechen wenige, FDP-Chef Christian Lindner ist eine der wenigen Ausnahmen.
Für Populisten wie Wagenknecht und Höcke ist das dagegen: eine Selbstverständlichkeit.
Quelle: ntv.de