"Kern unseres Zusammenlebens" Warum das Habeck-Video Furore macht


Habeck lobte vor seinem Abflug, auch der Kanzler halte "großartige" Reden.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mehr als sechs Millionen Abrufe allein auf dem Online-Dienst X: Eine Rede von Vizekanzler Robert Habeck über den Nahost-Konflikt, über die Schuld der Hamas und den in Deutschland wütenden Antisemitismus erfährt viel Aufmerksamkeit. Doch das Lob für Habeck ist doppelbödig.
Robert Habeck steht vor einer Kamera und erklärt oder erzählt etwas im Hochbild-Format: Wer auf dem Handy gerne politische Inhalte anschaut, dem dürften die selbst gedrehten Videos aus dem Haus des Bundeswirtschaftsministers vertraut sein. Schon als Grünen-Bundesvorsitzender nutzte der heutige Vizekanzler gerne die sozialen Medien für direkte Kommunikation, auch wenn er sich Anfang 2019 frustriert von Facebook und X - damals noch Twitter - verabschiedet hat und nur noch Instagram nutzt. Dass ein solcher Habeck-Clip derart Furore macht, ist aber neu. Allein auf X, wo das Ministerium die neunminütige Ansprache postete, wurde sie in weniger als 24 Stunden mehr als 6 Millionen mal angesehen. Auch bei ntv.de ist die Rede in ganzer Länge am Donnerstag das meistgesehene Video.
Doch was hat Habeck darin so Erstaunliches gesagt? Eigentlich nicht viel Neues, der Inhalt deckt sich in jeder Hinsicht mit der Linie der Bundesregierung, also etwa den Einlassungen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock: Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung und sein Existenzrecht sei deutsche Staatsräson. Aufrufe zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden sowie andere Formen des Antisemitismus seien inakzeptabel. Die palästinensische Zivilbevölkerung müsse beim Militäreinsatz Israels bestmöglich geschont und den Menschen in Gaza und dem Westjordanland eine Perspektive frei von Gewalt und Armut ermöglicht werden. Die Hamas wolle die Auslöschung des Staates Israel und habe mit ihrem beispiellosen Terrorangriff vom 7. Oktober den Konflikt losgetreten, um die laufende Annäherung Israels an die arabischen Staaten der Region zu stoppen.
"Angst ist zurück"
Doch wie so oft geht es nicht nur darum, was eine Politikerin oder ein Politiker sagt, sondern vor allem um das Wie. Und in diesem Fall kommen Zuhörer nicht umhin, Habeck eine bestechende Klarheit zu attestieren. "Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte", nimmt Habeck einen sehr persönlichen Ausgangspunkt. Die Gründung Israels sei ein Schutzversprechen für das jüdische Volk, dem Deutschland angesichts des Holocaust genauso verpflichtet sei, wie dafür Sorge zu tragen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland "nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion, ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst ist aber zurück."
Kinder aus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main hätten ihm berichtet, "dass sie Angst haben, zur Schule zu gehen, dass sie nicht mehr in Sportvereine gehen, dass sie auf Anraten ihrer Eltern ihre Kette mit dem Davidstern zu Hause lassen". Habeck zählt weitere persönliche Beispiele von "schierer Verzweiflung" und Einschüchterung auf und stellt fest: "Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig." Dabei könne es gar nicht genug Empörung und Klarheit geben. "Und Klarheit heißt: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren."
Deutliche Warnung an Zuwanderer
Habeck benennt klar, von wem derzeit in Deutschland antisemitische Aggressionen ausgehen: "Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und weiteren Städten ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort." Zu viele muslimische Verbände hätten sich entweder zögerlich oder gar nicht von diesen Ausschreitungen distanziert. Dabei forderten Muslime zu Recht Schutz vor rechtsextremer Gewalt ein. "Das Gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden." Und: "Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes." Israel-Flaggen zu verbrennen oder den Hamas-Terror zu lobpreisen, sei eine Straftat. Plus: "Wer kein Deutscher ist, riskiert seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert einen Grund, abgeschoben zu werden."
Bei der Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland vertrage Toleranz keine Intoleranz. "Das ist der Kern unseres Zusammenlebens in dieser Republik." Ob diese deutlichen Worte die Adressaten erreichen, ist offen. Weder Habeck noch sein Ministerium sind etwa auf dem bei jüngeren Menschen extrem beliebten Portal Tiktok präsent, weil der chinesische Dienst umstritten ist. Auch eine Version des Videos mit arabischen Untertiteln für Menschen, die noch nicht lange in Deutschland leben, ist bislang nicht im Umlauf. Es wäre eine Überlegung wert.
"Deutschland weiß das"
Dabei knöpft sich Habeck nicht nur muslimische Zuwanderer vor. In Deutschland gebe es einen verfestigten Antisemitismus. Deutsche Rechtsextreme nutzen aber die derzeitige Situation vor allem aus, um pauschal gegen Muslime zu hetzen. Deutsche Sympathisanten des russischen Staatschefs wiederum blendeten Putins Heuchelei aus, wenn dieser zivile Opfer in Gaza beklage und zugleich Zivilisten in der Ukraine bombardiere. "Seine Freunde in Deutschland, sie sind gewiss keine Freunde der Jüdinnen und Juden", sagt Habeck, bevor er sich "Teilen der politischen Linken" zuwendet: Deren Antikolonialismus dürfe nicht zu Antisemitismus führen. Er empfiehlt insbesondere jungen Aktivistinnen und Aktivisten, "der großen Widerstandserzählung" zu misstrauen: "Die Hamas ist eine mordende Terrorgruppe, die für die Auslöschung des Staates Israel und den Tod aller Juden kämpft."
Habeck macht deutlich, dass es in Deutschland eben nicht verboten ist, für die Rechte der Palästinenser einzutreten und die Politik Israels in dieser Frage zu kritisieren. Aber: "Der Aufruf zu Gewalt gegen Juden oder das Feiern der Gewalt gegen Juden: Die sind bei uns verboten - und zwar zu Recht." Der Vizekanzler kritisiert die extreme Siedlerbewegung im Westjordanland, die Unfrieden schüre und Menschen töte, genauso wie "Perspektivlosigkeit und Armut" der Menschen in Gaza. Zusammen mit den USA mache die Bundesregierung deshalb "Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist". So "schlimm" das Leid palästinischer Zivilisten sei: "Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aber kann damit dennoch nicht legitimiert werden", sagt Habeck. "Die Existenz Israels ist unsere Verpflichtung", und wie an die Menschen in Israel gerichtet: "Deutschland weiß das."
Kontrast zu Baerbock und Scholz
Für das Video erhielt Habeck umgehend viel Lob - auch von Menschen, die nach eigener Auskunft sonst nicht viel anfangen können mit dem Grünen-Politiker. "Das ist eine argumentativ stark und gut begründete innen- und außenpolitische Haltung Deutschlands", lobte etwa CDU-Politiker Armin Laschet. Der CDU-Innenpolitiker Alexander Throm begrüßte im Gespräch mit T-Online die "unterstützenswerten" Worte Habecks gegen Antisemitismus, forderte Gleiches aber auch vom Rest der Bundesregierung. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, lobte im "ntv Frühstart", Habecks Rede sei "sehr gut" und eine "Ausnahme".
Doch insbesondere das Lob aus den Reihen der Union ist doppelbödig: Kritiker der Ampelregierung meinen einen Kontrast zwischen Habeck und dem Auftreten von Außenministerin Baerbock auszumachen. Diese hatte am Mittwochabend im ZDF ihre Entscheidung begründet, sich bei einer UN-Resolution für einen sofortigen Waffenstillstand in Israel und Gaza zu enthalten. Andere Länder wie die USA und Österreich dagegen hatten die Resolution wegen der fehlenden Verurteilung des Hamas-Terrors als Ausgangspunkt der neuerlichen Eskalation schlicht abgelehnt.
Habeck wittert die Falle
Im Kreuzverhör der beiden ZDF-Journalistinnen zeigte sich Baerbock weit weniger eloquent als Habeck beim Vorlesen der geschriebenen Rede. Dem Fernsehauftritt Baerbocks ist ein so kurzes und aussagekräftiges Zitat wie dem Habeck-Clip nicht zu entnehmen. Deutschlands Chefdiplomatin wollte im ZDF die schwierige Rolle Deutschlands als Vermittler, der Kanäle zu allen Seiten offenhalte, erklären und geriet ins Lavieren. Den Satz "Es gibt nicht die eine Sichtweise" legte Laschet gegen Baerbock aus. Angesichts des Hamas-Terrors gebe es "nur eine Sichtweise: Nie wieder". Die Grünen-Politikerin dürfte eher gemeint haben, dass sie bei Gesprächen mit arabischen Regierungsvertretern mit deren Perspektiven umgehen müsse, ohne diesen zuzustimmen. Doch genau solche angreifbaren Uneindeutigkeiten zeigen, warum der Habeck-Clip so viele Menschen mitnimmt: Er ist unmissverständlich.
Das Lob der Ampel-Gegner für Habeck hat noch ein weiteres Ziel: Den Bundeskanzler anzuzählen, der seit jeher nicht zu emotionalen Auftritten neigt und auch selten offensiv einen Führungsanspruch proklamiert. Scholz war zwar unter den ersten Regierungschefs, die nach dem Terrorangriff am 7. Oktober nach Israel reisten, und auch zu den antisemitischen Protesten in Deutschland hat sich der Kanzler deutlich geäußert. Doch keine dieser Einlassungen hatte bislang die Qualität, im Gedächtnis zu bleiben.
Wie heikel das allseitige Lob ist, scheint auch Habeck selbst klar zu sein. Am Morgen, nach dem sein Clip öffentlich wurde, übte Habeck sich erkennbar in Uneitelkeit. Der Kanzler halte "sehr große und einordnende Reden". Von solchen Debattenbeiträgen könne man in diesen schwierigen Zeiten nicht genug haben. "Das macht der Bundeskanzler auf seine Art, in seinen Formaten, sehr großartig", sagte der Vizekanzler, der selbst einmal Regierungschef werden wollte, und bestieg sein Flugzeug nach London.
Quelle: ntv.de