Ampel-Etat ist kurz vor dem Ziel "Ist der Haushalt verabschiedet, ist Merz' Strategie gescheitert"
18.01.2024, 11:52 Uhr Artikel anhören
"Mit dem jetzigen Design der Schuldenbremse sinkt die Schuldenquote extrem schnell, aber Modernisierung und Wachstum bleiben auf der Strecke", sagt SPD-Haushälter Rudolph.
Nach langer Hängepartie steht der Bundeshaushalt 2024 vor der Verabschiedung. Die letzte Bereinigungssitzung läuft. SPD-Haushälter Thorsten Rudolph erklärt im ntv.de-Interview, warum sich die Ampel mit der Einigung so schwer tat - und der nahende Abschluss dennoch ein Erfolg ist. Ungeachtet dessen führe aber kein Weg an einer Reform der Schuldenbremse vorbei, argumentiert Rudolph. Diese Erkenntnis werde auch noch in der Union Einzug halten, zum Missfallen von CDU-Chef Friedrich Merz, dessen Haltung und Wortwahl Rudolph scharf kritisiert.
ntv.de: Nach der wochenlangen Hängepartie vor Weihnachten, einer späten Einigung der Ampel-Spitzen und sich daran anschließenden Protesten wurde gestern Abend das Zweite Haushaltsfinanzierungsgesetz erstmals im Bundestag gelesen. Wann steht der Bundeshaushalt für das laufende Jahr endgültig?
Thorsten Rudolph ist Bundestagsabgeordneter aus Koblenz und sitzt für die SPD unter anderem im Haushaltsausschuss. Der 49-Jährige gehört seit 2021 dem Bundestag an und war zuvor Abteilungsleiter im Finanzministerium in Mainz und dort für die Wirtschaftsförderung und die Beteiligungen des Landes zuständig. Rudolph gehört zudem dem Bundestagsgremium "Sondervermögen Bundeswehr" an, das die Verausgabung der 100 Milliarden Euro zur Ertüchtigung der Streitkräfte begleitet.
Thorsten Rudolph: Wir haben heute die Bereinigungssitzung, und in der Woche vom 29. Januar bis 2. Februar haben wir im Bundestag die Haushaltswoche mit der zweiten und dritten Lesung. Ich gehe daher fest davon aus, dass wir am 2. Februar einen Haushalt haben.
Wozu braucht es überhaupt eine nochmalige Bereinigungssitzung?
Formal liegt das Gesetzgebungsverfahren weiterhin im Bundestag, wo es schon war, als das Bundesverfassungsgericht zur Schuldenbremse geurteilt hat. Wir hatten in der Bereinigungssitzung im November alle Einzelpläne verhandelt, also die Haushalte aller Ministerien, außer den beiden allgemeinen Haushaltsplänen, in denen die Staatseinnahmen und besondere ressortübergreifende Ausgaben wie die Ukraine-Hilfen enthalten sind. Die Bereinigungssitzung war also formal nur unterbrochen. Das bringen wir nun zu Ende und stimmen zudem über die kleineren Änderungen ab, die sich aus der Einigung der Regierung für die Einzelpläne ergeben haben. Anschließend kann über den Gesamthaushalt abgestimmt werden und danach der Haushalt im Plenum des Bundestags verabschiedet werden.
Die Einsparungen gegenüber dem ursprünglichen Haushaltsentwurf über rund 30 Milliarden Euro wurden in den Wochen vor Weihnachten zwischen Bundeskanzler Scholz, Bundeswirtschaftsminister Habeck und Bundesfinanzminister Lindner ausgehandelt. Der Haushaltsausschuss kann das Paket unter dem herrschenden Zeitdruck gar nicht neu aufschnüren. Wird dieses Verfahren der Rolle des Bundestags gerecht, dessen Königsrecht der Haushalt ist?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fiel mitten in das Haushaltsverfahren, in dem der Bundestag schon viele eigene Schwerpunkte gesetzt hatte. Das war dann schon eine besondere Situation. 30 Milliarden Euro sind sehr, sehr viel Geld. Einsparungen dieser Größenordnung in größerer Runde zu verhandeln, hätte das Verfahren noch deutlich schwieriger gemacht und deutlich in die Länge gezogen. Insofern war ein anderes Vorgehen kaum denkbar. Nach der Einigung von Scholz, Habeck und Lindner vor Weihnachten blieben vier Wochen Zeit. Die breite Diskussion in der Öffentlichkeit zu einzelnen Punkten zeigt aber, dass alle Beteiligten genügend Zeit hatten, sich mit den Vorschlägen auseinanderzusetzen.
Auch viele Wochen nach dem Urteil interpretieren Experten das Verdikt zur Schuldenbremse höchst unterschiedlich. Wie lässt sich da ein rechtssicherer Haushalt aufstellen?
Das Verfassungsgerichtsurteil beantwortet – wie jedes Verfassungsgerichtsurteil - einige Fragen sehr klar und wirft zugleich eine ganze Reihe von anderen Fragen auf. Was heißt denn die sogenannte Jährlichkeit und Jährigkeit mit Blick auf eine Katastrophe wie die Ahrtal-Flut? Die Große Koalition hatte unter Aussetzung der Schuldenbremse 30 Milliarden Euro bereitgestellt, um das Ahrtal über die nächsten Jahre wieder aufzubauen. Das wird nach dem Urteil so nicht mehr möglich sein. Dann muss jedes Jahr neu entschieden werden, ob und in welchem Umfang Geld gegeben werden kann. Dabei ist noch völlig ungeklärt, wie groß der Finanzbedarf sein muss, damit der Staat sagen kann, das ist eine Notlage, die die Aussetzung der Schuldenbremse rechtfertigt. Weitere ungeklärte Fragen kommen hinzu. Das schafft viel Unsicherheit, was bei der Bewältigung von Naturkatastrophen und großen Krisen alles andere als hilfreich ist.
Und wie soll die Politik damit umgehen?
Wir können jedenfalls nicht aufhören, Haushalte aufzustellen und Politik zu machen. Wir können und dürfen auch nicht immer den absolut wasserdichten Weg suchen, der selbst der strengsten Auslegung einer Regel standhält. Wir müssen entscheiden, und diese Entscheidung sollte von einem hinreichend großen Teil der Experten und Sachverständigen jedenfalls als gut vertretbar angesehen werden. Und notfalls muss eben das Verfassungsgericht prüfen. Das ist seine Aufgabe. So etabliert sich dann entweder nach und nach eine Rechtspraxis oder man kommt zum Schluss, dass die Regeln nicht praxistauglich sind. Dann muss man die Regeln ändern.
Ergibt sich nicht schon aus diesen Unklarheiten die Notwendigkeit, die Schuldenbremse zu präzisieren?
Ich glaube schon. Wir hatten in den letzten Jahren eine beispiellose Zusammenballung von Krisen - von den Fluchtbewegungen aus Syrien über Corona, den Angriffskrieg Putins, die Krise der Energieversorgung und explodierende Energiepreise, Inflation, Verwerfungen bei den Lieferketten und der Rohstoffversorgung, jetzt der Nahostkonflikt mit seinen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. In dieser Zeit größter Krisen ist die deutsche Schuldenquote von rund 81 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach der Finanzkrise 2010 auf inzwischen rund 64 Prozent gesunken. Sie wird absehbar bis zum Ende der Legislatur weiter in Richtung 60 Prozent sinken. 20 Prozent Schuldenquote entsprechen 800 Milliarden Euro. Jetzt muss man sich nur mal vorstellen, wir hätten 400 Milliarden Euro davon investiert.
Dann wäre die Schuldenquote nur auf 71 Prozent gesunken.
Richtig, aber wir hätten in einer Zeit größter Krisen ebenfalls dramatisch Schulden abgebaut, doch zugleich auch 400 Milliarden Euro mehr in dieses Land investiert - in die erneuerbaren Energien und das Schienennetz, über 4.000 Autobahnbrücken wären schon saniert, der Ausbau von Breitband und 5G wäre abgeschlossen, wir hätten unsere Schulen sanieren können. Deutschland wäre ein anderes Land, ein sehr viel moderneres Land, mit einer besseren Wettbewerbsfähigkeit und einem höheren Wirtschaftswachstum, sodass die Schuldenquote vermutlich sogar deutlich unter 70 Prozent gesunken wäre. Mit Blick auf die Zukunft: Die Klimawende erfordert gewaltige Investitionen, Studien zufolge bis 2030 etwa 400 bis 500 Milliarden Euro. Natürlich müssen wir dafür privates Kapital mobilisieren. Aber das wird nicht reichen. Wir müssen daher die Schuldenquote senken und zugleich das Land modernisieren. Mit dem jetzigen Design der Schuldenbremse sinkt die Schuldenquote extrem schnell, aber Modernisierung und Wachstum bleiben auf der Strecke. Diesen Konstruktionsfehler müssen wir beheben.
Union und FDP deuten den niedrigen Schuldenstand als Beweis, wie richtig die Bremse ist, weil Deutschland dadurch erst in der Lage sei, in Krisenzeiten massiv gegenzuhalten.
Ich sehe diese Einigkeit bei der CDU gar nicht. Die Merz-CDU vertritt diese Position zwar in einer sehr dogmatischen Art und Weise. Sie tut das aber eher mit dem Ziel, die Ampel zum Platzen zu bringen. Das Geplärre der Merz-CDU mit ihrer Forderung nach Neuwahlen, dass der Kanzler die Vertrauensfrage stellen, dass er zurücktreten solle, dass die Ampel delegitimiert sei, ist in der öffentlichen Diskussion kaum noch zu unterscheiden von den "Die Ampel muss weg!"-Rufen der Rechtsextremen, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und anderen Spinner, die vor Kurzem noch "Merkel muss weg!" gerufen haben. Dass sich die Merz-CDU dem in der Form anschließt und weiter Öl ins Feuer gießt, besorgt mich. Sobald der Haushalt aber verabschiedet ist, ist Merz mit dieser Strategie gescheitert. Ich prognostiziere: Dann wird das Thema Schuldenbremse auch in der CDU früher oder später neu diskutiert, schließlich haben sich schon mehrere CDU-Ministerpräsidenten offen für Korrekturen gezeigt. Diese Debatte wird sich dann inhaltlich um die Schuldenbremse drehen, faktisch aber geht es um die Kanzlerkandidatur der Union.
Die Zukunft der Schuldenbremse spaltet auch die Regierung. Das erste Dreierbündnis im Bund ist exakt in dem Jahr in seine schwerste Krise getaumelt, als die Ampel einen Haushalt unter Einhaltung der Schuldenbremse auf die Beine stellen musste. Wurde die Gegensätzlichkeit in so einer zentralen Frage unterschätzt?
Da kommen viele Dinge zusammen. Wir haben vier Jahre multipler Krisen hinter uns, die für viel Verunsicherung gesorgt und viele Leute mürbe gemacht haben, weil sie sich einfach Sorgen um die Zukunft machen. Auch abgesehen von den vielen Krisen gibt es tiefgreifende und wahnsinnig schnelle Veränderungen durch die notwendige Klimawende und die Digitalisierung. In dieser Gemengelage profitieren Rechtsextreme, Verschwörungserzähler und Demokratie-Gegner. Und in so einer Situation heizt die Merz-CDU mit ihrer Fundamentalopposition die Stimmung noch an. Das ist sehr viel Druck auf eine Bundesregierung. Aber natürlich muss man auch selbstkritisch sagen, dass einmal getroffene Vereinbarungen auch umgesetzt und nicht gleich wieder infrage gestellt werden sollten. Streit ist wichtig in der Demokratie, aber wir müssen dem Land auch Orientierung und Sicherheit geben und Zuversicht vermitteln. Schließlich ist die Realität viel besser als die Stimmung. Der fortgesetzte Streit in der Ampel überdeckt die vielen Erfolge.
Der Haushaltsstreit hat besonders der SPD geschadet, wie auch die jüngsten Umfragen zeigen. Olaf Scholz war das personifizierte Versprechen von Kompetenz, Erfahrung und Solidität. Dieses Bild ist schwer beschädigt. Gelingt die Korrektur, wenn doch schon in einem Jahr der Wahlkampf beginnt?
Die Verabschiedung des Haushalts kann ein Wendepunkt für die Ampel sein. Wir geben damit Stabilität und Sicherheit. Dazu werden wir diese Woche das Migrationspaket verabschieden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Zudem lassen wir die Krisenbewältigung allmählich hinter uns und kommen wieder zurück ins normale Regierungshandeln mit seinen eingeübten Verfahren. Und wenn Deutschland dann noch wirtschaftlich stärker aus der Krise kommt und wir zugleich etwas besser kommunizieren, vor allem auch Orientierung geben und Zuversicht vermitteln, bin ich guter Hoffnung. Aktuelle Stimmungen werden schnell überhöht, können sich aber auch wieder drehen.
Dafür muss der Haushalt rechtssicher sein. Die Union droht mit Klage, weil der Bund insgesamt 5,2 Milliarden Euro Corona-Zuschüsse aus dem grundsätzlich beitragsfinanzierten Budget der Bundesagentur für Arbeit zurück in den Haushalt überführen will.
Ich gehe davon aus, dass diese Frage in den beteiligten Ministerien umfassend geprüft worden ist. Niemand hat ein Interesse daran, einen in irgendeinem Aspekt verfassungswidrigen Haushalt aufzustellen.
Teil der Haushaltseinigung ist, Arbeitslosen bis zu zwei Monate lang das Arbeitslosengeld komplett zu streichen, wenn sie Jobs ablehnen. Das missfällt vielen in der SPD und ist ebenfalls rechtlich umstritten.
Das Bürgergeld ist eine Hilfe für Menschen in Not, deren Existenzminimum der Staat sicherstellen muss. Dazu hat das Verfassungsgericht sehr eindeutig geurteilt. Und dem Mechanismus, wie sich die Erhöhung des Bürgergelds berechnet, hat auch die Union zugestimmt. Nach allem, was ich höre, ist die Zahl der Totalverweigerer, die eigentlich arbeiten könnten, sehr gering. Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht von Alleinerziehenden, Kranken oder Menschen mit psychischen Problemen, sondern von denen, die wirklich arbeiten können. Und natürlich wird es in jedem System auch immer ein paar geben, die eine Lücke finden und es ausnutzen wollen. Daher, wenn das verfassungsrechtlich so möglich ist, ist der Schritt ein wichtiges Signal: Das Bürgergeld soll Menschen möglichst wieder in Arbeit bringen und keine dauerhafte Sozialhilfe sein für Menschen, die arbeiten können.
Zum Haushaltskompromiss gehört, dass der Ersatz für an die Ukraine geliefertes Gerät der Bundeswehr aus dem Sondervermögen finanziert werden soll. Die Union ist empört. Sie gehören dem Bundestagsgremium an, das dieses Sondervermögen überwacht. Was sagen Sie?
Der Verteidigungsminister hat ausgeführt, dass er das für vertretbar hält. Alle Rüstungsvorhaben werden ohne Abstriche umgesetzt. Der Verteidigungshaushalt ist einer der wenigen Einzelpläne, die 2024 aufgewachsen sind. Wir kompensieren Tarifsteigerungen und statten die Bundeswehr entsprechend aus, um die äußere Sicherheit zu gewährleisten und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen. Bei der Bundeswehr finden rasante Veränderungen statt, extrem viele Mittel aus dem Sondervermögen sind schon in Projekten gebunden worden. Die Modernisierung findet statt, die Effekte aber wird man gerade bei den Rüstungsgütern so richtig erst in drei, vier Jahren sehen, wenn diese ausgeliefert werden. Die Bundeswehr wird deutlich besser aufgestellt sein, als sie das heute ist.
Mit Thorsten Rudolph sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de